Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen M 6/2006
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M 6/06

Urteil vom 11. April 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Hofer.

S. ________, 1935, Beschwerdeführer, vertreten durch den Procap,
Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten.

gegen

SUVA Militärversicherung, Schermenwaldstrasse 10, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Militärversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 1. Mai 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a Der 1935 geborene S.________ erlitt am 16. April 1966 während einer
obligatorischen Schiessübung ein Knalltrauma. Seither leidet er an
beidseitiger Hochtonschwerhörigkeit und Tinnitus. Das Bundesamt für
Militärversicherung (BAMV) anerkannte die Bundeshaftung und richtete die
gesetzlichen Leistungen aus. Nach verschiedenen Abklärungen und Beizug des
Gutachtens von Dr. med. R.________ vom    28. Januar 1970 sprach es dem
Versicherten mit Verfügung vom     28. Oktober 1970 mit Wirkung ab 17. April
1966 eine Invalidenrente entsprechend einer Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit von 15% zu. Dabei hielt es fest, es liege sowohl eine
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit als auch eine erhebliche
Beeinträchtigung der körperlichen Integrität vor. Da die Erstgenannte
schwerer wog, wurde praxisgemäss diese gewährt. Mit Verfügung vom 21. Februar
1986 stellte das BAMV die Rentenleistungen rückwirkend ab 30. November 1985
ein mit der Begründung, der Versicherte sei in seiner derzeitigen
Erwerbstätigkeit voll arbeitsfähig und in seiner beruflichen Entwicklung
praktisch sicher nicht negativ beeinflusst. Zudem werde die
Erheblichkeitsschwelle für die Zusprechung einer Integritätsschadenrente
nicht erreicht. Dies blieb unangefochten.

A.b Mit Schreiben vom 23. März 2003 ersuchte der nunmehr in Kanada lebende
S.________ das BAMV um Zusprechung einer Invalidenrente mit Wirkung ab 1985
oder einer einmaligen Abfindung, wobei er eine Zunahme der durch das
Knalltrauma verursachten Beschwerden geltend machte. Auf Ersuchen des BAMV
reichte er die fachärztlichen Berichte samt Audiogramm der kanadischen Klinik
X.________ vom 10. Juni 2003 und von Dr. med. P.________ vom 26. August 2003
ein. Das BAMV legte diese Dr. med. R.________ vom Ärztlichen Dienst der MV
vor, welcher am 28. Oktober 2003 Stellung nahm. Zur prozentualen Bemessung
des Integritätsschadens holte es die Stellungnahme des Dr. med. L.________
vom Chefärztlichen Dienst des BAMV vom 12. Dezember 2003 ein, welcher zum
Schluss gelangte, der knalltraumatisch bedingte, schwere Tinnitus stelle
einen Integritätsschaden von 2.5% dar. Auf dieser Grundlage stellte es
S.________ mit Vorbescheid vom 23. März 2004 die Ausrichtung einer
Integritätsschadenrente mit Wirkung ab 1. März 2003 in Aussicht. Nachdem der
Versicherte dagegen Einwände erhoben hatte, verfügte das BAMV am 28. Mai 2004
in diesem Sinne. Aufgrund der dagegen erhobenen Einsprache unterbreitete es
die Akten Frau        Dr. med. X.________, Chefärztin des BAMV, zur
Stellungnahme. Diese bezeichnete den Tinnitus als sehr schwer, was einen
Integritätsschaden von 5% darstelle (Bericht vom 5. Juli 2004). Mit
Einspracheentscheid vom 10. Februar 2005 hiess das BAMV die Einsprache
teilweise gut, indem es die Haftung für die Zunahme des Hörverlustes ab dem
Jahre 1985 ablehnte, hingegen jene für den Tinnitus bejahte, und S.________
auf der Basis eines Integritätsschadens von 5% ab 1. März 2003 eine Rente
zusprach.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 1. Mai 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, der kantonale
Gerichtsentscheid sei insofern aufzuheben, als der Rentenbeginn auf den 1.
März 1998 festzulegen sei; eventuell sei die Sache zur ergänzenden Abklärung
an die Verwaltung zurückzuweisen. Zudem sei ihm ein Verzugszins von 5% ab 23.
März 2004 zu bezahlen.

Während die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Abteilung
Militärversicherung, auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, soweit darauf einzutreten ist, verzichtet das Bundesamt für
Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
2.1 Die rechtskräftige Ablehnung des Anspruchs auf eine
Integritätsschadenrente steht unter dem Vorbehalt einer Anpassung an
geänderte tatsächliche Verhältnisse. Nach diesem in der Invalidenversicherung
durch das Institut der Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 4 IVV) geregelten, auch in
der Militärversicherung geltenden Grundsatz hat der Versicherungsträger auf
ein Gesuch um erneute Prüfung der Anspruchsberechtigung einzutreten, wenn der
Leistungsansprecher eine rechtserhebliche Tatsachenänderung glaubhaft macht
(Urteil M 1/95 vom 17. Mai 1995). Letztinstanzlich ist die Höhe des
Integritätsschadens zu Recht nicht mehr streitig. Ein erheblicher, auf das
1966 erlittene Knalltrauma zurückzuführender Hörverlust ist nach Lage der
Akten nicht ausgewiesen und ein sehr schwerer Tinnitus, wie er beim
Beschwerdeführer unbestrittenermassen gegeben ist, rechtfertigt grundsätzlich
eine Entschädigung auf der Grundlage einer Einbusse von 5% (zu den
Richtwerten bei Tinnitus vgl. Jürg Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über
die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, N 41 zu Art. 49;
Jürg Maeschi/Max Schmidhauser, Die Abgeltung von Integritätsschäden in der
Militärversicherung, in: SZS 1997  S. 201; Urteil M 8/00 vom 9. Juli 2001).

2.2 Streitig und zu prüfen ist dagegen der Zeitpunkt des Rentenbeginns,
welchen Verwaltung und Vorinstanz auf den 1. März 2003 festgesetzt haben.
Nach Art. 48 f. MVG in Verbindung mit dem im Neuanmeldungsfall analog
anwendbaren Art. 50 MVG beginnt die Integritätsschadensrente in jenem
Zeitpunkt, da einerseits keine namhafte Besserung des Gesundheitsschadens
mehr erwartet werden kann und - kumulativ - die dauernde Beeinträchtigung
nunmehr die Erheblichkeitsschwelle erreicht (Urteil M 8/00 vom 9. Juli 2001).
Mit der (Neu-)Anmeldung sind jedenfalls die in diesem Zeitpunkt bestehenden
Ansprüche gewahrt (Jürg Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die
Militärversicherung, N 10 zu dem bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen
Art. 14 MVG; vgl. ab 1. Januar 2003 Art. 24 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 MVG, welcher an der bisherigen Rechtslage nichts ändert). Dies
ergibt sich auch aus dem revisionsrechtlich analog anwendbaren Art. 88bis
Abs. 1 lit. a IVV (Urteil M 8/00 vom 9. Juli 2001).

2.3 Für den Rentenbeginn massgebend ist neuanmeldungsrechtlich indessen in
jedem Fall der Eintritt stabiler und zur Annahme einer erheblichen
Beeinträchtigung führender Verhältnisse. Dazu hat die Vorinstanz erwogen, der
Tinnitus sei zwar bereits in den nach dem Knalltrauma vom April 1966
erstellten ärztlichen Berichten erwähnt worden, doch fänden sich darin keine
Hinweise zu dessen Schwere. Im Rahmen der in den Jahren 1999 und 2001
durchgeführten Untersuchungen seien nach Lage der Akten keine Messungen des
Tinnitus erhoben worden. Erst im Juni und August 2003 sei von zwei
verschiedenen Ärzten unter Angabe der audiographischen Werte ein erheblicher
Tinnitus diagnostiziert worden. Da sich unter diesen Umständen nicht
schlüssig beurteilen lasse, ob und allenfalls wann in der Zeit vor 2003 die
Krankheitswertigkeit des Tinnitus ein schweres und damit
entschädigungspflichtiges Ausmass angenommen hat, lasse sich die
Rentenzusprechung ab Gesuchseinreichung vom März 2003 nicht beanstanden.

2.4 Was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dagegen vorgebracht wird, vermag
zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Ausweislich der Akten hat der
Versicherte zwar gegenüber den mit ihm befassten Ärzten immer wieder einen
persistierenden Tinnitus erwähnt. Die mit Wirkung ab 17. April 1966
zugesprochene Rente wurde indessen mit Verfügung vom 21. Februar 1986 unter
anderem deshalb aufgehoben, weil die Erheblichkeitsschwelle für eine
Integritätsschadenrente als nicht erreicht beurteilt wurde. Obwohl der
Versicherte in der Wiederanmeldung vom März 2003 einen sich seit 1966
dramatisch verschlechternden Tinnitus mit Schlafstörungen, beeinträchtigter
Konzentrationsfähigkeit, Angst, Depressionen und zunehmender Isolation
geltend macht, hat er sich in der Zwischenzeit nicht mehr bei der
Militärversicherung gemeldet. Die von ihm eingereichten Hörtests datieren vom
14. November 1998, 2. März 1999 und 27. Februar 2003. Diese erlaubten
indessen noch keine Beurteilung des Integritätsschadens mit Bezug auf den
Tinnitus, weshalb Dr. med. R.________ ergänzende Abklärungen als angezeigt
erachtete. Erst mit den Berichten der Klinik K.________ vom 10. Juni 2003 und
des Dr. med. P.________ vom  26. August 2003 wurden die erforderlichen
Beurteilungsgrundlagen eingereicht (vgl. Stellungnahme des Dr. med.
R.________ vom 28. Oktober 2003). Da die Verwaltung als verfügende Instanz
und - im Beschwerdefall - das Gericht eine Tatsache nur dann als bewiesen
annehmen dürfen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer,
Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., Bern 1984, S. 136) und das
Gericht im Sozialversicherungsrecht seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht
etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu fällen hat (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360), kann der
rechtserhebliche medizinische Sachverhalt nicht allein gestützt auf die
Schilderungen des Beschwerdeführers erhoben werden. Dazu sind vielmehr
zuverlässig feststellbare Tatsachen erforderlich, welche erst mit den
Berichten aus dem Jahre 2003 beigebracht wurden. Für die vorangehende Zeit
kann die Entwicklung des Tinnitus auch durch zusätzliche spezialärztliche
Untersuchungen nicht erhärtet werden, weshalb diesbezüglich Beweislosigkeit
vorliegt, deren Folgen der Beschwerdeführer zu tragen hat. Daran vermag auch
Art. 24 Abs. 1 ATSG (in Kraft seit 1. Januar 2003 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 MVG; vgl. bis 31. Dezember 2002 Art. 14 MVG) über die Verwirkung des
Anspruchs auf Nachzahlung von Leistungen nichts zu ändern.

2.5 Unbehelflich ist sodann auch der Hinweis des Beschwerdeführers auf die in
der Militärversicherung erfolgte Praxisänderung mit Bezug auf die
Berücksichtigung des Tinnitus als eine von der Gehörleistung unabhängige
Beeinträchtigung (vgl. Schreiben des BAMV vom         28. April 2003). Der
Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG in
Kraft seit 1. Januar 2003 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 MVG; vgl. auch den
bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Art. 103 MVG). Abgesehen davon,
dass bei der Beurteilung, ob eine Wiedererwägung wegen zweifelloser
Unrichtigkeit zulässig sei, vom Rechtszustand auszugehen ist, wie er im
Zeitpunkt des Verfügungserlasses bestanden hat, wozu auch die seinerzeitige
Rechtspraxis gehört und eine Praxisänderung kaum je die frühere Praxis als
zweifellos unrichtig erscheinen zu lassen vermag (BGE 125 V 383 E. 3 S. 389
mit Hinweisen), fehlt es, wie bereits dargelegt, mit Bezug auf den
Beschwerdeführer für den Anspruch auf eine Integritätsschadenrente ab einem
früheren Zeitpunkt als dem     1. März 2003 bereits an überprüfbaren Daten
zur Erheblichkeit des geltend gemachten Tinnitus.

3.
Der Beschwerdeführer beantragt ferner die Verzinsung der
Integritätsschadenrente ab 23. März 2004.

3.1 Art. 26 Abs. 2 des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG
verpflichtet die Sozialversicherungen, für ihre Leistungen nach Ablauf von 24
Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach
dessen Geltendmachung Verzugszinsen zu bezahlen, sofern die versicherte
Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist. Art. 9 Abs.
2 MVG sieht in der ab       1. Januar 2003 in Kraft stehenden Fassung vor,
dass in Abweichung von Art. 26 Abs. 2 ATSG ein Zins nur bei einem
trölerischen oder widerrechtlichen Verhalten der Militärversicherung zu
leisten ist.

3.2 Die Verzugszinspflicht setzt den Bestand einer Hauptleistung voraus und
hat insofern akzessorischen Charakter. Da die weiteren in    Art. 26 Abs. 2
ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 MVG genannten
Voraussetzungen erfüllt sein müssen, ist der Verzugszinsanspruch als eigenes
Rechtsverhältnis zu qualifizieren. Dieses kann - vorbehältlich der Ausdehnung
des Anfechtungsgegenstandes (in HAVE 2005 S. 57 veröffentlichtes Urteil I
671/03 vom 1. Dezember 2004 E. 5.1) - im Rechtsmittelverfahren nur überprüft
werden, wenn die Vorinstanz darüber befunden hat (Anfechtungsgegenstand) und
der vorinstanzliche Entscheid in dieser Hinsicht angefochten wird
(Streitgegenstand; BGE 125 V 413).

3.3 Vorliegend haben weder Versicherung noch Vorinstanz über den
Verzugszinsanspruch entschieden, sodass mangels Anfechtungsgegenstandes auf
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eingetreten werden kann. Überdies
weist die SUVA in ihrer Vernehmlassung darauf hin, dass die aufgelaufenen
Betreffnisse der Rente mittels Nachzahlung am 5. April 2005 beglichen wurden
und diese seither monatlich erbracht werde.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 11. April 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: