Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 4/2006
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Prozess {T 7}
K 4/06

Urteil vom 15. November 2006
II. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Kernen und nebenamtlicher Richter
Maeschi; Gerichtsschreiberin Amstutz

Helsana Versicherungen AG, Versicherungsrecht, 8081 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

H.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Otmar Kurath,
Wilerstrasse 21, 8570 Weinfelden

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 6. Dezember 2005)

Sachverhalt:

A.
Mit Klage vom 13. August 2003 liess H.________, diplomierte
Psychiatriekrankenschwester SRK, beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Schiedsgericht im Sinne von Art. 89 KVG das Begehren stellen, die Helsana
Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) sei zu verpflichten, ihr für
erbrachte Pflegeleistungen den Betrag von Fr. 8'472.10, nebst Zins von 5 % ab
1. August 2002, zu bezahlen. Am 21. August 2003 forderte der Präsident des
kantonalen Verwaltungsgerichts als Präsident des Schiedsgerichts die Parteien
zur Ernennung ihrer Vertreter im Schiedsgericht auf. Gegen den von der
Helsana vorgeschlagenen Vertreter erhob die Klägerin Einwendungen. Mit
Zwischenentscheid vom 11. Februar 2004 lehnte das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau den vorgeschlagenen Schiedsrichter ab und forderte die
Beklagte auf, innert einer Frist von 20 Tagen ab Rechtskraft des Entscheids
eine neue Person als Vertreter oder Vertreterin zu nominieren. Die von der
Helsana gegen diesen Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies
das Eidgenössische Versicherungsgericht mit Urteil vom 29. Juli 2004 ab (K
29/04).

B.
Nachdem die Helsana einen neuen Vertreter nominiert hatte, nahm das
Schiedsgericht das Verfahren wieder auf. Nach Durchführung eines doppelten
Schriftenwechsels teilte die Helsana dem Schiedsgericht am 13. Mai 2005 unter
Hinweis auf zwischenzeitlich ergangene Urteile des Eidgenössische
Versicherungsgerichts zur Leistungspflicht bei ambulanter Psychiatriepflege
mit, sie überprüfe, ob und gegebenenfalls inwieweit die Forderung der
Klägerin anerkannt werden könne. In einem weiteren Schreiben vom 6. Juli 2005
teilte sie dem Gericht mit, sie anerkenne die Forderung der Klägerin in der
Höhe von Fr. 8'472.10, jedoch ohne Zins von 5 % seit dem 1. August 2002.

Mit einem nicht datierten, am 6. Dezember 2005 versandten Entscheid schrieb
das Schiedsgericht die Klage zufolge Anerkennung in Höhe von Fr. 8'472.10 als
gegenstandslos geworden ab. Des Weiteren verpflichtete es die Helsana zur
Zahlung eines Zinses von 5 % auf Fr. 8'472.10 ab dem 1. August 2002 sowie
einer Verfahrensgebühr von Fr. 2'500.-, einer Entschädigung für die von den
Parteien bestellten Schiedsrichter von je Fr. 700.- sowie eines
Parteikostenersatzes  an die Beklagte von Fr. 4'800.-, zuzüglich
Mehrwertsteuer.

C.
Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, in
teilweiser Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei festzustellen, dass
kein Verzugszins geschuldet sei; ferner seien die  Verfahrenskosten neu zu
verlegen.

H. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Mit dem angefochtenen Entscheid hat das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau als Schiedsgericht nach Art. 89 KVG das Verfahren als gegenstandslos
geworden abgeschrieben, nachdem die Helsana die Forderung im eingeklagten
Betrag von Fr. 8'472.10 anerkannt hat. Streitig ist lediglich noch, ob die
Beschwerdegegnerin Anspruch auf einen Verzugszins auf dem Forderungsbetrag
hat, was von der Vorinstanz bejaht, von der Beschwerdeführerin dagegen
verneint wird.

1.2 Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen geht, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
lediglich zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art.
132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG; SR 830.1) in Kraft
getreten. Dieses sieht in Art. 26 eine für sämtliche Sozialversicherungen
(mit Ausnahme der beruflichen Vorsorge gemäss BVG) geltende Regelung der
Verzugs- und Vergütungszinsen vor. Nach Abs. 1 dieser Norm sind für fällige
Beitragsforderungen und Beitragsrückerstattungsansprüche Verzugs- und
Vergütungszinsen zu leisten. Gemäss Abs. 2 der Bestimmung sind die
Sozialversicherungen für ihre Leistungen nach Ablauf von 24 Monaten nach der
Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach dessen
Geltendmachung verzugszinspflichtig, sofern die versicherte Person ihrer
Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist. Nach den allgemeinen
Grundsätzen des Übergangsrechts beurteilt sich die Verzugszinspflicht ab 1.
Januar 2003 nach Art. 26 Abs. 2 ATSG, für die vorangegangene Zeit nach den
von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (BGE 130 V 329 f. und 334
Erw. 6).

2.2 In den Anwendungsbereich des Art. 26 Abs. 2 ATSG fallen vorbehältlich
spezialgesetzlicher Regelungen sämtliche vom Gesetz erfassten
Sozialversicherungsleistungen, soweit sie eine Geldforderung begründen; die
Bestimmung ist namentlich auch auf die mittels einer Geldforderung erbrachten
Sachleistungen (vgl. Art. 8 Abs. 4 IVG in der seit 1. Januar 2003 gültigen
Fassung in Verbindung mit Art. 14 ATSG) anwendbar (Urteil E. vom 1. Dezember
2004, I 671/03; auszugsweise publiziert in HAVE 2005 S. 57). Art. 26 Abs. 2
ATSG hat das Versicherungsverhältnis zum Gegenstand und sieht eine
Verzugszinspflicht nur zu Lasten der Sozialversicherungen auf deren
Leistungen vor (RKUV 2006 Nr. KV 356 S. 44 Erw. 4.2.2 [= Urteil T. vom 12.
Januar 2006, K 40/05]). Auf den hier zu beurteilenden Fall der Forderung
eines Leistungserbringers ist sie nicht anwendbar. Selbst innerhalb des
zeitlichen Geltungsbereichs des ATSG (Erw. 2.1 hievor) kann sich die
umstrittene Verzugszinspflicht somit nicht auf die Bestimmung stützen.

3.
3.1 Umstritten ist der Verzugszins auf der Honorarforderung eines
Leistungserbringers für Massnahmen der Krankenpflege. Das Rechtsverhältnis
zwischen Versicherer und Leistungserbringer ist grundsätzlich
öffentlich-rechtlicher Natur (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, S. 136).
Der Leistungserbringer muss für die Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zugelassen sein (Art. 35 ff. KVG) und hat die
gesetzlichen Vorschriften, insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäss
Art. 56 Abs. 1 KVG zu beachten. Grundlage für die Entschädigungen der
erbrachten Leistungen bilden in erster Linie Tarifverträge zwischen den
Versicherern und den Leistungserbringern (Art. 46 KVG). Im vorliegenden Fall
bestimmt sich das Rechtsverhältnis zwischen Leistungserbringer und
Krankenversicherer nach dem Vertrag zwischen dem Konkordat der
Schweizerischen Krankenversicherer und dem Schweizer Berufsverband der
Krankenschwestern und Krankenpfleger vom 23. Mai 1997 (in Kraft seit 1.
Januar 1998). Unter "H. Vergütung der Leistungen" bestimmt der Vertrag, dass
die Vertragsparteien das System des Tiers payant vereinbaren, wobei der
Leistungserbringer dem Versicherten eine Kopie der Rechnung zustellt (Ziff.
1). Die Zahlung erfolgt durch den Versicherer innert 45 Tagen nach Erhalt
sämtlicher Angaben und der Rechnung (Ziff. 3). Eine Regelung bezüglich der
Verzugszinspflicht besteht nicht.

3.2 Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, aufgrund des anwendbaren
Vertrages vom 23. Mai 1997 seien die Regeln betreffend die Nichterfüllung von
Verbindlichkeiten gemäss Art. 97 ff. OR und insbesondere Art. 102 ff. OR
anzuwenden. Werde für die Erfüllung ein bestimmter Verfalltag verabredet, so
komme der Schuldner mit Ablauf dieses Tages in Verzug (Art. 102 Abs. 2 OR).
Die Klägerin nehme daher zu Recht an, dass sie spätestens ab 1. August 2002
Anspruch auf Verzugszins habe, welcher gemäss Art. 104 Abs. 1 OR 5 % betrage.
Die Beschwerdeführerin hält dem im Wesentlichen entgegen, der Vertrag sehe
keine Verzugszinspflicht vor und für eine Anwendung der
obligationenrechtlichen Regeln, insbesondere Art. 102 ff. OR, bestehe kein
Raum. Dieser Auffassung ist insoweit beizupflichten, als der Vertrag keine
ausdrückliche Regelung der Verzugszinspflicht enthält und die
obligationenrechtlichen Bestimmungen betreffend die Nichterfüllung von
Verbindlichkeiten, einschliesslich der Verzugszinspflicht gemäss Art. 104
Abs. 1 OR, nicht direkt anwendbar sind, weil es sich nicht um eine
zivilrechtliche Forderung, sondern um eine solche aufgrund öffentlichen
Rechts handelt. Fraglich kann lediglich sein, ob Art. 104 Abs. 1 OR analog
anwendbar ist. Dies kann indessen offen bleiben, wie sich aus dem Folgenden
ergibt.

4.
4.1 Nach der bis zum In-Kraft-Treten des ATSG geltenden Rechtsprechung wurden
im Bereich der Sozialversicherung grundsätzlich keine Verzugszinsen
geschuldet, sofern sie nicht ausdrücklich gesetzlich vorgesehen waren. Nur
ausnahmsweise hat das Eidgenössische Versicherungsgericht Verzugszinsen
zugesprochen, wenn "besondere Umstände" vorlagen. Solche Umstände erachtete
das Gericht als gegeben bei widerrechtlichen oder trölerischen Machenschaften
der Verwaltungsorgane. Die Verzugszinspflicht setzte neben der
Rechtswidrigkeit auch ein schuldhaftes Verhalten der Verwaltung voraus. Dabei
hat es das Gericht abgelehnt, die Verzugszinspflicht generell für bestimmte
Gruppen von Fällen (etwa gerichtlich festgestellte Rechtsverzögerungen) zu
bejahen. Wegleitend dafür war die Überlegung, dass die Auferlegung von
Verzugszinsen im Sozialversicherungsrecht nur ausnahmsweise und in
Einzelfällen gerechtfertigt ist, bei denen das Rechtsempfinden in besonderer
Weise berührt wird (BGE 131 V 359 Erw. 1.2 mit Hinweisen). Diese Praxis hat
das Gericht über den Bereich der sozialversicherungsrechtlichen Beiträge und
Leistungen hinaus auf Sachverhalte ausserhalb des Versicherungsverhältnisses,
insbesondere auch auf Schadenersatzforderungen im Sinne von Art. 52 AHVG (BGE
119 V 78 ff.) sowie schiedsgerichtliche Forderungsstreitigkeiten aus geltend
gemachter Überarztung in der Krankenversicherung (Art. 23 KUVG, Art. 56 KVG)
angewendet (BGE 117 V 352 Erw. 3, 103 V 156 Erw. 7b; vgl. auch Hans-Ulrich
Zürcher, Verzugszinsen im Bundesverwaltungsrecht. Unter besonderer
Berücksichtigung des Sozialversicherungsrechts, Diss. Bern 1998, S. 179 f.).
4.2 Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass es nicht lediglich um
eine verspätete Zahlung von Vergütungen für erbrachte Pflegeleistungen geht.
Vielmehr hatte die Beschwerdeführerin die Vergütung von Pflegeleistungen
verweigert mit der Folge, dass die Beschwerdegegnerin ihre Ansprüche auf dem
Rechtsweg durchsetzen musste und dies nicht im sozialversicherungsrechtlichen
Beschwerdeverfahren, sondern auf dem Klageweg an das Schiedsgericht gemäss
Art. 89 KVG. Bei den streitigen Pflegeleistungen handelte es sich zudem um
solche, welche die Beschwerdeführerin in der vorangegangenen Zeit wiederholt
vergütet hatte. Ab Januar 2002 hat sie ohne nähere Prüfung der in Rechnung
gestellten einzelnen Massnahmen keine Zahlungen mehr erbracht und dies nicht
nur in einem konkreten Pflegefall, sondern bezüglich sämtlicher von der
Leistungserbringerin eingereichten Abrechnungen. Auch hat sie sich nicht
damit begnügt, die Leistungspflicht für die Verrichtungen der ambulanten
Psychiatriepflege in einem Einzelfall gerichtlich überprüfen zu lassen,
sondern die Leistungen gegenüber einer Vielzahl der im Kanton Thurgau
selbstständig tätigen Psychiatrieschwestern eingestellt und diese mit ihren
Ansprüchen auf den Klageweg verwiesen. Mit der generellen Verweigerung von
Vergütungen für ambulante Psychiatriepflege hat sie die Beschwerdegegnerin
für die Dauer des Klageverfahrens von jeglichen Vergütungen ausgeschlossen,
was umso erheblichere Auswirkungen hatte, als die Beschwerdeführerin zu den
grössten Krankenversicherern der Schweiz gehört und ein wesentlicher Teil der
von der Beschwerdegegnerin betreuten Personen bei ihr versichert ist. Dazu
kommt, dass die Beschwerdeführerin mit dem Festhalten an einem befangenen
Schiedsrichter (siehe Sachverhalt lit. A, in fine) das Verfahren unnötig
verlängert hat mit der Folge, dass die Beschwerdegegnerin insgesamt während
mehr als drei Jahren auf die Auszahlung des nunmehr auch von der
Beschwerdeführerin anerkannten Vergütungsanspruchs warten musste. Insgesamt
ist der Beschwerdeführerin zwar kein trölerisches, widerrechtliches oder
schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen; es liegen jedoch Umstände vor, welche als
stossend erscheinen und das Rechtsempfinden in besonderer Weise berühren. Es
verstösst im Ergebnis daher nicht gegen Bundesrecht, wenn das kantonale
Gericht den Anspruch auf einen Verzugszins bejaht hat. Dieser ist mit der
Vorinstanz auf 5 % ab 1. August 2002 festzusetzen.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend gehen die Gerichtskosten zu Lasten der
Beschwerdeführerin (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat
zudem der obsiegenden Beschwerdegegnerin die Parteikosten für das
bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 135 in Verbindung mit Art.
159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Helsana hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 15. November 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: