Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 152/2006
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2006
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2006


K 152/06

Urteil vom 4. Juli 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

S. ________, 1988, Beschwerdeführerin,
handelnd durch ihren Vater F.________,

gegen

KPT/CPT Krankenkasse, Tellstrasse 18, 3014 Bern, Beschwerdegegnerin.

Krankenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 17. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1988 geborene S.________ war 2004 bei der KPT Krankenkasse (nachfolgend:
KPT) obligatorisch krankenpflegeversichert. Am 7. April 2004 liess sie sich
die vier Weisheitszähne 18, 28, 38 und 48 ziehen. Der behandelnde Zahnarzt
Dr. med. Dr. med. dent. R.________, u.a. FMH für Kiefer- und
Gesichtschirurgie sowie Spezialist SSO für Oralchirurgie, stellte für die
gesamte Behandlung vom 9. Februar 2004 (Erste Konsultation) bis 17. Mai 2004
(Wundkontrolle) Rechnung in der Höhe von insgesamt Fr. 2012.90. Mit Verfügung
vom 3. Februar 2005 lehnte die KPT eine Vergütung der Kosten im Zusammenhang
mit der Extraktion der vier Weisheitszähne durch die obligatorische
Krankenpflegeversicherung ab. Dagegen erhob der Vater der Versicherten,
F.________, Einsprache. Auf Vorschlag ihres Vertrauenszahnarztes Dr. med.
dent. Z.________, Spezialist SSO für Rekonstruktive Zahnmedizin, Freiburg,
beauftragte die KPT Frau Dr. med. G.________, Klinik W.________ und Klinik
K.________, in Form eines Gutachtens zu verschiedenen ihre allfällige
Leistungspflicht betreffende Fragen Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom 4.
August 2005 äusserte sich Dr. med. Dr. med. dent. R.________ zur Expertise
vom 2. Juli 2005. Mit Einspracheentscheid vom 26. August 2005 verneinte die
KPT eine Kostenübernahmepflicht für die Entfernung der vier Weisheitszähne
bei S.________ durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung.

B.
Die Beschwerde des F.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, nach zweifachem Schriftenwechsel mit
Entscheid vom 17. November 2006 ab.

C.
F.________ erhebt für seine Tochter S.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 17. November 2006 sei aufzuheben
und die KPT sei zu verpflichten, das Honorar für die Extraktion der
Weisheitszähne 18, 28, 38 und 48 gemäss Rechnungen vom 27. April und 4. Juni
2004 im Betrag von insgesamt Fr. 2012.90 vollumfänglich zu erstatten;
überdies sei ihm eine Parteientschädigung sowie dem behandelnden Zahnarzt
u.a. für das Abfassen seines Berichts vom 12. Dezember 2006 eine Vergütung zu
bezahlen.

Die KPT beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Weil die angefochtene Entscheidung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom
17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG) am 1. Januar 2007 ergangen ist,
richtet sich das Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation
der Bundesrechtspflege (OG; Art. 132 Abs. 1 BGG).

2.
2.1 Nach Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG übernimmt die obligatorische
Krankenpflegeversicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlung, wenn
diese durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems bedingt
ist. Voraussetzung ist, dass das Leiden Krankheitswert erreicht; die
Behandlung ist nur soweit von der Versicherung zu übernehmen, wie es der
Krankheitswert des Leidens notwendig macht (Art. 17 Ingress KLV in Verbindung
mit Art. 33 lit. d KVV und Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG).

Zu den schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems resp. der
Zähne gehören u.a. Verlagerung und Überzahl von Zähnen und Zahnkeimen mit
Krankheitswert (z.B Abszess, Zyste; Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV).

2.2 Eine Verlagerung von Zähnen und Zahnkeimen im Sinne von Art. 17 lit. a
Ziff. 2 KLV besteht in einer Abweichung von der Lage oder Achsenrichtung. Bei
der Dentition in Entwicklung - im Sinne eines Richtwertes bis zum
18. Altersjahr - besteht der Krankheitswert in der Behinderung einer
geordneten Gebissentwicklung oder in einem pathologischen Geschehen, bei
bleibender Dentition in einem pathologischen Geschehen. Darunter sind neben
den explizit aufgeführten Abszess und Zyste alle Erscheinungsformen zu
verstehen, die erhebliche Schäden an den benachbarten Zähnen, am
Kieferknochen und an benachbarten Weichteilen verursacht haben oder gemäss
klinischem und allenfalls radiologischem Befund mit hoher Wahrscheinlichkeit
verursachen werden (BGE 130 V 464 E. 3.2 S. 467; vgl. auch KVG-Leitfaden 1999
der Schweizerischen Gesellschaft für Kiefer- und Gesichtschirurgie
[nachfolgend: Leitfaden 99]). Bei verlagerten Weisheitszähnen im Speziellen
genügt jedoch nicht jede Pathologie, die bei anderen verlagerten Zähnen die
Übernahme der Behandlungskosten durch die obligatorische
Krankenpflegeversicherung rechtfertigt. Vielmehr muss entweder die Entfernung
des verlagerten Weisheitszahnes wegen besonderer Verhältnisse oder die
Behandlung der Pathologie schwierig und aufwändig sein (BGE 130 V 464 E.
4.1-4 S. 468 ff.; Urteil K 164/03 vom 18. März 2005 E. 3).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat die medizinischen Akten dahingehend gewürdigt,
es liege in Bezug auf die Anspruchsvoraussetzung der Verlagerung der am 7.
April 2004 entfernten vier Weisheitszähne 18, 28, 38 und 48 Beweislosigkeit
vor, was zu Lasten der Versicherten gehe. Der Vertrauenszahnarzt der KPT Dr.
med. dent. Z.________ und die Gutachterin Frau Dr. med. dent. G.________
hätten aufgrund des Orthopantomogramms (OPT) vom 5. März 2003 übereinstimmend
eine Verlagerung ausgeschlossen. Der behandelnde Zahnarzt Dr. med. Dr. med.
dent. R.________ gebe zwar an, dass eine Verlagerung nur aufgrund des
Operationssitus klar zu beurteilen gewesen sei. Nach der Rechtsprechung könne
indessen allein aufgrund der Angaben des operierenden Arztes zu den während
der Zahnextraktion gemachten Feststellungen nicht bereits eine Verlagerung
als erwiesen angenommen werden, wenn als einzige medizinische Unterlage ein
OPT zur Verfügung stehe.

3.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird vorgebracht, das Gutachten der
Frau Dr. med. G.________ vom 2. Juli 2005 sei nicht schlüssig. Insbesondere
treffe nicht zu, dass die Expertin eine Verlagerung der vier Weisheitszähne
ausgeschlossen habe. Im Weitern habe die Vorinstanz in Verkennung der
Rechtsprechung und in Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots den
Feststellungen des behandelnden Arztes anlässlich der Operation beweismässig
keine Bedeutung beigemessen. Diesem komme indessen in der Aufbereitung des
Sachverhalts, insbesondere auch im Hinblick auf die Erhebung des spezifischen
Krankheitswertes, eine zentrale Rolle zu. Der Bericht des behandelnden Arztes
sei denn auch regelmässig Grundlage für die Beurteilung der Leistungspflicht
des Krankenversicherers. Aus der Stellungnahme des Dr. med. Dr. med. dent.
R.________ vom 4. August 2005 zum Gutachten vom 2. Juli 2005 und seinem im
vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Bericht vom 23. Februar 2006 ergebe
sich eindeutig die Verlagerung der Weisheitszahnkeime, der Krankheitswert der
Schädigung der Gebissentwicklung und dass aus objektiver Sicht der Eingriff
schwierig durchzuführen gewesen sei. Somit sei die KPT leistungspflichtig.

4.
4.1 Dr. med. G.________ beantwortete im Gutachten vom 2. Juli 2005 die Frage,
ob die Zahnkeime (Weisheitszähne mit noch nicht abgeschlossenem
Wurzelwachstum) 18, 28, 38 und 48 verlagert im Sinne von Art. 17 lit. a Ziff.
2 KLV sind, wie folgt:
«Gemäss OPT vom 05.03.2003 zeigen alle oben genannten Zähne eine durchaus
reguläre Lage. Sie stehen in Linie mit der Reihe der durchgebrochenen Zähne,
sind aber entsprechend ihrem Entwicklungsstand noch nicht durchgebrochen. Bei
18 und 38 ist über der Zahnkrone noch eine geringe Knochenschicht zu sehen,
bei 28 ist diese Schicht ausgeprägter; 48 erscheint im Durchbruchsverlauf am
Weitesten fortgeschritten, war zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich aber auch
noch von Gingiva bedeckt. Von Verlagerung kann mit Sicherheit bei keinem der
vier Zähne gesprochen werden. Die Platzverhältnisse im Hinblick auf den
Durchbruch der Weisheitszähne können allein aus einem OPT nicht sicher
beurteilt werden.»
4.2 Dr. med. Dr. med. dent. R.________ bezeichnete in seiner Stellungnahme vom
4. August 2005 die Fragestellung, d.h. den Zusatz in der Klammer als
tendenziös. «Bei neutraler Fragestellung müsste die Schlussfolgerung lauten,
dass eine Verlagerung, ohne intraoperativer Befund, allein lediglich aufgrund
des OPT, mit Sicherheit bei keinem der 4 Zähne ausgeschlossen werden könne,
auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Wurzelwachstum noch nicht
abgeschlossen war.»

In seinem integrierender Bestandteil der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
bildenden Bericht vom 12. Dezember 2006 führt der behandelnde Zahnarzt u.a.
aus, die fragliche Aussage im Gutachten vom 2. Juli 2005 richtig fachärztlich
interpretiert heisse, dass eine Verlagerung bei keinem der vier Zähne mit
Sicherheit erwiesen sei, da die Platzverhältnisse im Hinblick auf den
Durchbruch der Weisheitszähne allein auf dem OPT nicht sicher beurteilt
werden könnten. «Dies heisst im Klartext, dass die Weisheitszähne durchaus -
aber auf dem OPT nicht mit ausreichender Sicherheit beweisbar - verlagert
sein können, wenn die Platzverhältnisse aufgrund des klinischen Befundes und
des intraoperativen Situs dies beweisen.» Das treffe indessen zu. Im
Zeitpunkt der Operation vom 7. April 2004 habe bei allen entfernten
Weisheitszähnen 18, 28, 38 und 48 eine - schon im Bericht vom 23. Februar
2006 - nach Art und Ausmass detailliert umschriebene Abweichung in Lage und
Achsenrichtung bestanden.

4.3
4.3.1 Die Aussage im Gutachten vom 2. Juli 2005, dass von Verlagerung mit
Sicherheit bei keinem der vier Zähne gesprochen werden könne, gibt an sich
klar und unmissverständlich Antwort auf die Frage, ob die Zahnkeime
(Weisheitszähne mit noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum) 18, 28, 38 und
48 verlagert sind. Umso mehr fragt sich daher, was die Expertin mit dem
Nachsatz, dass die Platzverhältnisse im Hinblick auf den Durchbruch der
Weisheitszähne allein aus einem OPT nicht sicher beurteilt werden könnten,
sagen wollte. Gemäss Leitfaden 99 kommt das Fehlen eines Platzes in der
Zahnreihe, bei Zahnkeimen auch die Unmöglichkeit, in die Zahnreihe zu
gelangen, einer Verlagerung oder einer Überzahl gleich. Sodann sind die nach
lingual oder bukkal gerichtete Achsenabweichung und ebenso die Abweichung der
Zahnlage in der Transversalebene auf dem Röntgenbild oft nicht oder kaum
erkennbar, beispielsweise nur im Vergleich mit dem einzig und allein
massgebenden klinischen, intraoperativen Befund. Vorliegend waren laut den
Berichten des Dr. med. Dr. med. dent. R.________ vom 23. Februar und 12.
Dezember 2006 die Weisheitszähne 38 und 48 ebenfalls in der Transversalebene
schräg liegend mit der Okklusalfläche nach lingual, mit den Wurzeln nach
bukkal.

Das Vorstehende relativiert die Aussagekraft des OPT vom 5. März 2003 für den
Nachweis einer Verlagerung, und zwar umso mehr, als die Entfernung der
Weisheitszähne mehr als ein Jahr später am 7. April 2004 erfolgte. Anderseits
erscheint plausibel und nachvollziehbar, wenn der behandelnde Zahnarzt im
Bericht vom 12. Dezember 2006 ausführt, er habe aufgrund der klinisch
objektivierbaren Beschwerden (anlässlich der ersten Konsultation vom 9.
Februar 2004) sowie aus Gründen der zu vermeidenden Strahlenexposition kein
weiteres OTP anfertigen lassen.

4.3.2 Seiner Bedeutung für den Nachweis einer Verlagerung von Weisheitszähnen
entsprechend, ist der klinische, intraoperative Befund zu dokumentieren. Er
ist zumindest im Operationsbericht festzuhalten. Im Leitfaden 99 wird eine
Fotografie des klinischen Befundes als oft hilfreich bezeichnet. Der
histopathologische Nachweis eines Zahnsäckchens beweist immer eine
Verlagerung. Dies gilt insbesondere bei auf dem Röntgenbild nicht sichtbaren
Abweichungen in der Transversalebene. Vorliegend wurde der in den Berichten
vom 23. Februar und 12. Dezember 2006 wiedergegebene intraoperative Befund in
Bezug auf die Lage der entfernten Weisheitszähne offenbar weder im
Operationsbericht erwähnt, noch fotografisch festgehalten oder
histopathologisch erhoben. Unter diesen Umständen verletzt es nicht
Bundesrecht, wenn das kantonale Gericht in Bezug auf die Frage der
Verlagerung der entfernten Weisheitszähne von Beweislosigkeit ausgegangen
ist, was zu Lasten der Versicherten geht (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264 mit
Hinweisen; RKUV 2003 Nr. U 485 S. 259 E. 5 [U 308/01]).

5.
Die KPT hat trotz ihres Obsiegens keinen Anspruch auf Parteientschädigung
(Urteil K 137/06 vom 7. Februar 2007 E. 3 mit Hinweis). Die unterliegende
Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf Vergütung der Kosten der von ihrem
Vater in Auftrag gegebenen Berichte und Stellungnahmen des behandelnden
Zahnarztes (vgl. RKUV 2004 Nr. U 503 S. 187 E. 5.1 [U 282/00]).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 4. Juli 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
i.V.