Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 129/2006
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K 129/06

Urteil vom 29. Juni 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

P. ________, 1922, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwältin Ursula Sintzel, Löwenstrasse 54, 8001 Zürich,

gegen

Wincare Versicherungen, Konradstrasse 14, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin.

Krankenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 14. September 2006.

Sachverhalt:

A.
P. ________ (geboren 1922) lebte von März 2002 bis September 2004 im Alters-
und Pflegeheim X.________, Y.________ (im Folgenden: APH X.________), und war
während dieses Zeitraums bei der Wincare Versicherungen für Krankenpflege
versichert. Nachdem P.________ zur Auffassung gelangt war, die
Rechnungsstellung des APH X.________ sei nicht gesetzeskonform erfolgt und
mit dem Heim keine Einigung hatte erzielt werden können, ersuchte sie mit
Schreiben vom 15. November 2004 die Wincare Versicherungen, sie in einem
Schiedsgerichtsverfahren gegen das APH X.________ zu vertreten. Mit Verfügung
vom 28. Juli 2005 lehnte die Wincare dieses Gesuch ab, woran sie mit
Einspracheentscheid vom 21. Dezember 2005 festhielt.

B.
P.________ liess Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des
Einspracheentscheides sei die Wincare zu verpflichten, ihre Vertretung im
Schiedsgerichtsverfahren gegen das APH X.________ betreffend Rückforderung
überhöhter Pflegetaxen für die Zeit von März 2002 bis September 2004 zu
übernehmen. Mit Entscheid vom 14. September 2006 wies das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt P.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der
unentgeltlichen Verbeiständung.
Während die Wincare Versicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet,
beantragt das Bundesamt für Gesundheit (BAG), die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei gutzuheissen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 392 E. 1.2 S. 395).

2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht  prüft daher nur,
ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche
Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung
wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Wincare die Versicherte vor dem kantonalen
Schiedsgericht im Streit gegen das APH X.________ zu vertreten hat. Dazu
bedarf es nach Art. 89 KVG im Wesentlichen zweier Voraussetzungen: Es muss
sich bei der zu beurteilenden Streitigkeit um eine solche zwischen
Versicherer und Leistungserbringer handeln (Abs. 1) und für den
Vertretungsanspruch der versicherten Person ist zusätzlich erforderlich, dass
sie dem Leistungserbringer direkt die Vergütung schuldet (Abs. 3). Dazu wird
ausdrücklich auf das in Art. 42 Abs. 1 KVG geregelte System des Tiers garant
verwiesen.

Die sachliche Zuständigkeit des Schiedsgerichts setzt voraus, dass die
Streitigkeit Rechtsbeziehungen zum Gegenstand hat, die sich aus dem KVG
ergeben oder auf Grund des KVG eingegangen worden sind. Die Schiedsgerichte
sind zur Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Versicherungsträgern und
leistungserbringenden Personen zuständig. Die Zuständigkeit des
Schiedsgerichts bestimmt sich danach, welche Parteien einander in
Wirklichkeit gegenüber stehen. Der Streitgegenstand muss die besondere
Stellung der Versicherer oder Leistungserbringer im Rahmen des KVG betreffen.
Liegen der Streitigkeit keine solchen Rechtsbeziehungen zu Grunde, ist sie
nicht nach sozialversicherungsrechtlichen Kriterien zu beurteilen mit der
Folge, dass nicht die Schiedsgerichte, sondern allenfalls die Zivilgerichte
zum Entscheid sachlich zuständig sind. Als Streitigkeiten im Rahmen des KVG
fallen z.B. Honorar- und Tariffragen in Betracht (BGE 131 V 191 E. 2 S. 192
f. mit Hinweisen). Die Vertretung der versicherten Person vor dem
Schiedsgericht ist eine besondere KV-rechtliche Leistungskategorie. Die
versicherte Person soll im System des Tiers garant davor geschützt werden,
die Kosten tragen zu müssen, wenn der Arzt tarifwidrig fakturiert,
Tarifschutzbestimmungen verletzt oder eine unwirtschaftliche Leistung
erbracht hat (Eugster, Krankenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Auflage, S. 817 Rz
1209).

4.
4.1 In einem Fall, in welchem einer Versicherten, die vor ihrem Tod in einem
Pflegeheim lebte, vom Heim Rechnung gestellt wurde, von welcher jeweils die
Leistungen der Krankenkasse abgezogen wurden, hielten die Hinterbliebenen
dafür, dass die Inrechnungstellung der Pflegekosten nicht korrekt erfolgt
sei, weshalb sie die Krankenkasse aufforderten, sie vor dem kantonalen
Schiedsgericht zu vertreten, was diese ablehnte. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht gelangte letztinstanzlich zum Schluss, es liege keine
Streitigkeit im Sinne von Art. 89 Abs. 1 KVG zwischen Versicherer und
Leistungserbringer vor. Die beiden Vertragsparteien im System des Tiers
payant hätten die eingegangenen Verpflichtungen erfüllt. Aus einer
unterschiedlichen Einschätzung der Rechtslage lasse sich nicht ableiten, sie
stünden im Streit zueinander. Die Streitsache berühre das Rechtsverhältnis
zwischen Leistungserbringer und Versicherer nicht, denn selbst wenn sich
herausstellen sollte, dass das Pflegeheim der Versicherten zu hohe Kosten in
Rechnung gestellt hat, bliebe die Krankenkasse nur im Rahmen der bereits
ausgerichteten Vergütungen kostenpflichtig. Weil keine Streitigkeit zwischen
Versicherer und Leistungserbringer vorliege, fehle es an der Zuständigkeit
des Schiedsgerichts und es bleibe kein Raum für eine Vertretung nach Art. 89
Abs. 3 KVG (BGE 131 V 191 E. 4 S. 194).

4.2 Die Vorinstanz stützte sich auf diese im Rahmen des Systems des Tiers
payant ergangene Rechtsprechung. Sie führte aus, auch im System des Tiers
garant, wie es hier gelte, werde die Krankenkasse nicht verpflichtet, die
Garantie für mehr als die von ihr gemäss Gesetz und Vertrag zu bezahlenden
Kosten zu übernehmen. Vielmehr beschränke sich die Garantie auf die in den
Rechnungen des APH X.________ ausgewiesenen "kassenpflichtigen Leistungen"
gemäss Vereinbarungen. Mit der Vergütung dieser Kosten sei die
Garantenpflicht der Kasse erloschen, weshalb Art. 89 Abs. 3 KVG keine
Anwendung finden könne. Das APH X.________ und die Kasse stünden sich nicht
als Parteien gegenüber. Analog zu BGE 131 V 191 fehle eine Zuständigkeit des
Schiedsgerichts nach Art. 89 Abs. 1 KVG. Dass vorliegend das System des Tiers
garant massgebend sei, spiele mit Blick darauf, dass die Kasse ihren
Verpflichtungen gegenüber dem APH X._______  als auch der Versicherten
nachkam, keine Rolle.

4.3 Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, BGE 131 V 191 finde im
System des Tiers garant keine Anwendung. Hier erfolge die Rechnungsstellung
direkt an die versicherte Person, welcher die Überprüfung der Rechnung auf
ihre Gesetz- und Vertragsmässigkeit nicht möglich sei. Stelle sich
nachträglich heraus, dass die versicherte Person zuviel bezahlt hat, müsse
sie auf dem Zivilweg gegen den Leistungserbringer vorgehen, was auf dem
Gebiet der sozialen Krankenversicherung nicht zulässig erscheine. Konsequent
zu Ende gedacht, bliebe nach der Auffassung der Vorinstanz für das
Schiedsgerichtsverfahren gemäss Art. 89 Abs. 3 KVG kaum mehr ein
Anwendungsbereich. Weil schliesslich die Versicherte von der Krankenkasse zu
hohe, in Rechnung gestellte Beträge zurückfordern kann, liege die Kasse
entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts sehr wohl mit dem APH X.________
im Streit.
Das BAG vertritt ebenfalls den Standpunkt, dass die Beschwerdeführerin
Anspruch auf Vertretung durch die Krankenkasse im Verfahren vor dem
Schiedsgericht habe.

5.
5.1 Im vorliegenden Fall gilt das System des Tiers garant (Art. 42 Abs. 1 und
89 Abs. 3 KVG); dies bedeutet nach dem klaren Wortlaut von Art. 42 Abs. 1
KVG, dass die Versicherten den Leistungserbringern die Vergütung der Leistung
schulden, weil Versicherer und Leistungserbringer nicht vereinbart haben,
dass der Versicherer diese im System des Tiers payant direkt schuldet. Die
Versicherten haben in diesem Fall gegenüber dem Versicherer einen Anspruch
auf Rückerstattung (BGE 131 V 191 E. 5 S. 195). Die eine Voraussetzung für
den Vertretungsanspruch der Beschwerdeführerin gegenüber der Wincare ist
damit erfüllt. Zu prüfen bleibt, ob es sich bei der in Frage stehenden
Streitigkeit um eine solche zwischen Versicherer und Leistungserbringer
handelt, die nach Art. 89 Abs. 1 KVG die Zuständigkeit des kantonalen
Schiedsgerichts begründet.

5.2 Die Vorinstanz verneint das Vorliegen einer Streitigkeit zwischen
Versicherer und Leistungserbringer hauptsächlich mit der Begründung, die
Wincare sei ihren Zahlungspflichten nachgekommen, indem sie die der
Beschwerdeführerin nach Pflegebedürftigkeitsgrad abgestuften Tagespauschalen
gemäss vertraglicher Vereinbarung vergütet habe. Mit dieser Sichtweise
verkennt das kantonale Gericht, dass es nicht seine, sondern eben gerade die
Aufgabe des Schiedsgerichts nach Art. 89 KVG ist, darüber zu entscheiden, ob
das APH X.________ korrekt Rechnung gestellt hat und der Versicherer die
gesetzlichen und vertraglichen Leistungen im Zusammenhang mit dem
Heimaufenthalt der Beschwerdeführerin erbracht hat, was in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde insoweit in Frage gestellt wird, als die
Versicherte geltend macht, dem Heim zu hohe Pflegebeiträge bezahlt zu haben;
dafür stehe ihr ein Rückforderungsanspruch zu, wobei die Wincare sie im
entsprechenden Schiedsgerichtsverfahren gegen das Heim zu vertreten habe.
Zwar erscheint es auf den ersten Blick fraglich, ob unter den dargelegten
Umständen von einer Streitigkeit zwischen Versicherer und Leistungserbringer
gesprochen werden kann, handelt es sich vordergründig doch um einen
(streitigen) Anspruch der Versicherten gegen das APH X.________. Eine solche
Betrachtungsweise würde indessen dem System des Tiers garant nicht gerecht,
bei welchem das Schiedsgerichtsverfahren mit Vertretung der versicherten
Person durch den Krankenversicherer nach Art. 89 Abs. 1 und 3 KVG gilt. Dass
zunächst die versicherte Person dem Leistungserbringer die Vergütung schuldet
(E. 5.1 hievor), ist eben gerade Voraussetzung für den Vertretungsanspruch
und kann nicht als Argument für die Auffassung verwendet werden, die
Versicherte habe keinen Anspruch auf Vertretung durch die Wincare. Im
vorliegenden Fall ist eine Rückerstattung von angeblich überhöhten
Pflegetaxen durch das APH X.________ streitig, welche dieses nach Auffassung
der Beschwerdeführerin in Verletzung der tarifvertraglichen Abmachungen in
Rechnung gestellt hat. In diesem Streit stehen sich Krankenversicherer und
Leistungserbringer gegenüber, stellt sich doch die Frage, ob das APH
X.________ entsprechend der Behauptung der Beschwerdeführerin den Tarifschutz
verletzt hat, wonach die Leistungsgerbringer sich an die vertraglich oder
behördlich festgelegten Tarife und Preise halten müssen und für Leistungen
nach diesem Gesetz keine weitergehenden Vergütungen berechnen dürfen (Art. 44
Abs. 1 KVG). Dies wiederum betrifft die Wincare als Tiers garant, auch wenn
die Versicherte die Vergütung geschuldet hat.

5.3 Somit ergibt sich, dass die kumulativ erforderlichen Voraussetzungen für
eine Vertretung der Beschwerdeführerin durch die Wincare im Verfahren vor dem
kantonalen Schiedsgericht gemäss Art. 89 Abs. 3 KVG erfüllt sind.

5.4 Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht bemerkt wird, bliebe
für das Schiedsgerichtsverfahren mit Vertretung durch den Versicherer im
System des Tiers garant (Art. 89 Abs. 3 KVG) kaum mehr ein Anwendungsbereich,
würden Streitigkeiten wie die vorliegende nicht darunter fallen: Ein Schutz
vor zu hohen verrechneten Tarifen würde wegfallen, wodurch die Gefahr, dass
Leistungserbringer zu hohe Taxen in Rechnung stellen, zunehmen und der
Tarifschutz teilweise ausgehöhlt würde.

6.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Die Wincare hat der
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 159
Abs. 1 und 2 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung erweist sich
damit als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. September 2006
aufgehoben. Die Wincare Versicherungen wird verpflichtet, die
Beschwerdeführerin im Verfahren vor dem kantonalen Schiedsgericht gegen das
Alters- und Pflegeheim X.________, Y.________, betreffend Rückforderung von
Pflegetaxen für die Zeit von März 2002 bis September 2004 zu vertreten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Wincare Versicherungen auferlegt.

3.
Die Wincare Versicherungen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor
dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 29. Juni 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: