Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 271/2006
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C 271/06

Urteil vom 19. November 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Erben des C.________,

1. A.________,

2. J.________,

3. F.________,
Beschwerdeführer,
handelnd durch A.________,

gegen

Unia Arbeitslosenkasse, Zentralverwaltung, Strassburgstrasse 11, 8004 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

Arbeitslosenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Kantonalen
Rekurskommission in Sachen Arbeitslosigkeit des Kantons Wallis vom
5. Oktober 2006.

Sachverhalt:

A.
C. ________ war vom 1. September 1978 bis 11. August 2000 für die Gemeinde
Y.________ tätig gewesen. Am 6. Oktober 2000 stellte er Antrag auf
Arbeitslosenentschädigung und gab an, er sei bereit und in der Lage,
vollzeitig erwerbstätig zu sein. Die Arbeitslosenkasse GBI (ab 1. Januar
2005: Unia Arbeitslosenkasse) richtete ihm ab August 2000 bis Juli 2002
Arbeitslosentaggelder, basierend auf einem versicherten Verdienst von Fr.
8'355.-, aus. Am .... Juli 2002 ist C._______ verstorben.

Die Ausgleichskasse des Kantons Wallis teilte der Kasse am 27. November 2002
mit, dass C.________ rückwirkend für die Zeit ab 1. August 2000 bis 31. Juli
2002 eine (ganze) Rente der Invalidenversicherung, basierend auf einem
Invaliditätsgrad von "77,15 %" zugesprochen worden ist.

Mit Verfügung vom 18. Dezember 2002 forderte die Arbeitslosenkasse von
A.________, der Witwe des verstorbenen C.________, zu viel ausbezahlte
Taggelder im Umfang von Fr. 18'344.85 (Fr. 100'720.85 abzüglich des mit
Leistungen der Invalidenversicherung verrechneten Betrages in der Höhe von
Fr. 82'376.-) zurück. Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde hiess
die Kantonale Rekurskommission in Sachen Arbeitslosigkeit des Kantons Wallis
in dem Sinne gut, dass sie die Verfügung vom 18. Dezember 2002 aufhob und die
Sache zur Neubeurteilung an die Arbeitslosenkasse zurückwies (Entscheid vom
20. April 2004). Nachdem die Kasse den Mitgliedern der Erbengemeinschaft
(A.________ und die beiden Söhne der A.________ und des Verstorbenen,
J.________ und F.________) das rechtliche Gehör gewährt hatte und diese sich
nicht hatten vernehmen lassen, erliess sie am 26. Juli 2004 wiederum eine
Rückforderungsverfügung für zu viel ausbezahlte Taggelder im Umfang von
Fr. 18'344.85. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid
vom 29. September 2004).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Kantonale Rekurskommission in Sachen
Arbeitslosigkeit des Kantons Wallis ab (Entscheid vom 5. Oktober 2006).

C.
A.________, J.________ und F.________ führen Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Rechtsbegehren, es sei von einer Rückforderung bereits ausbezahlter
Arbeitslosentaggelder abzusehen, eventualiter sei der Rückforderungsbetrag
von Fr. 18'344.55 zu erlassen.

Die Arbeitslosenkasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Der Einspracheentscheid ist am 29. September 2004 und damit nach
Inkrafttreten des ATSG auf den 1. Januar 2003 ergangen. Die Rückerstattung
betrifft indes nur vor diesem Zeitpunkt ausgerichtete Arbeitslosentaggelder.
Unter diesen Umständen ist die bis Ende 2002 geltende Rückerstattungsordnung
anwendbar (SVR 2007 ALV Nr. 2 S. 3, C 88/04).

2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur
Vermittlungsfähigkeit behinderter Personen (Art. 8 Abs. 1 lit. f in
Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AVIG und Art. 15 Abs. 3 AVIV) und zum
Verhältnis zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung (BGE 109 V 25 E.
3d S. 29) zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben sind ferner die
gesetzlichen Grundlagen zur Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen
der Arbeitslosenversicherung (Art. 95 Abs. 1 AVIG [in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung]). Darauf wird verwiesen.

2.2 Als versicherter Verdienst gilt der im Sinne der AHV-Gesetzgebung
massgebende Lohn, der während eines Bemessungszeitraumes aus einem oder
mehreren Arbeitsverhältnissen normalerweise erzielt wurde; eingeschlossen
sind die vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, soweit sie nicht
Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen darstellen (Art. 23 Abs. 1
Satz 1 AVIG). Bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der
Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer
Erwerbsfähigkeit erleiden, ist gemäss Art. 40b AVIV der Verdienst massgebend,
welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob und allenfalls in welchem Umfang die
Hinterlassenen des Versicherten für die von August 2000 bis Juli 2002
bezogene Arbeitslosenentschädigung rückerstattungspflichtig sind, nachdem ihm
für die Zeit ab 1. August 2000 eine ganze Rente der Invalidenversicherung,
basierend auf einem Invaliditätsgrad von "77,15 %", zugesprochen worden ist.
Umstritten ist dabei insbesondere, ob die Arbeitslosenkasse den versicherten
Verdienst von ursprünglich Fr. 8'355.- rückwirkend ab August 2000 auf Fr.
1'909.- (22,85 % von Fr. 8'355.- ) reduzieren durfte.

Soweit die Beschwerdeführer im letztinstanzlichen Prozess um Erlass der
Rückzahlung ersuchen, ist darauf mangels eines Anfechtungsgegenstandes nicht
einzutreten (BGE 131 V 164 E. 2.1, 125 V 413 E. 1a S. 414).

4.
Nach der Rechtsprechung stellt die rückwirkende Zusprechung einer
Invalidenrente hinsichtlich formlos erbrachter Taggeldleistungen der
Arbeitslosenversicherung eine neue erhebliche Tatsache dar, deren Unkenntnis
die Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat, weshalb ein Zurückkommen auf
die ausgerichteten Leistungen auf dem Wege der prozessualen Revision im
Allgemeinen als zulässig erachtet wird (BGE 132 V 357 E. 3.1 mit Hinweisen).

4.1 Der Versicherte gab in seinem Antrag auf Arbeitslosenentschädigung vom 6.
Oktober 2000 an, er sei bereit und in der Lage, vollzeitig erwerbstätig zu
sein. Vom 6. Februar bis 5. August 2001 nahm er am Oberwalliser Programm für
Arbeitslose mit einem Beschäftigungsgrad von 100 % teil. Mit Blick auf diese
Umstände kann mit der Rekurskommission davon ausgegangen werden, dass er
seinen Leiden angepasste Tätigkeiten (mit Unterbrüchen, unter anderem wegen
einer stationären Spitalbehandlung vom 30. August bis 13. Oktober 2001)
ausüben konnte und auch wollte. Es bestand demgemäss Vermittlungsfähigkeit.
Dies bedeutet aber noch nicht, dass die Ausrichtung von
Arbeitslosenentschädigung - namentlich in Bezug auf die Höhe der Taggelder -
rechtmässig gewesen ist.

4.2 Art. 40b AVIV sieht eine Anpassung des versicherten Verdienstes in
Ausnahmefällen vor. Im Regelfall wird der versicherte Verdienst auf der Basis
des im Sinne der AHV-Gesetzgebung massgebenden Lohnes errechnet, der während
eines Bemessungszeitraumes aus einem oder mehreren Arbeitsverhältnissen
normalerweise erzielt wurde (Art. 23 Abs. 1 AVIG). Der Bundesrat hat in Art.
37 AVIV den Bemessungszeitraum für den versicherten Verdienst festgelegt. In
aller Regel entspricht der auf diese Weise definierte Lohn der aktuellen
Leistungsfähigkeit der arbeitslosen Person. Eine Korrektur gemäss Art. 40b
AVIV ist durchzuführen, wenn der versicherte Verdienst auf einem Lohn
basiert, den die versicherte Person im Zeitpunkt der Arbeitslosigkeit auf
Grund einer zwischenzeitlich eingetretenen Invalidität nicht mehr erzielen
könnte. Unmittelbarkeit im Sinne von Art. 40b AVIV liegt dann vor, wenn sich
die gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit (noch) nicht im
Lohn niedergeschlagen hat, welcher gemäss Art. 23 Abs. 1 AVIG in Verbindung
mit Art. 37 AVIV Bemessungsgrundlage für den versicherten Verdienst bildet
(BGE C 110/06 vom 18. Juli 2007).

4.3 Im zu beurteilenden Fall war der Versicherte bereits über 20 Jahre in der
gleichen Anstellung für die Gemeinde Y.________ tätig gewesen, als die
Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis am 11. August 2000 fristlos auflöste. Die
fristlose Kündigung war gemäss Schreiben der Gemeinde vom 11. August 2000
insbesondere Folge der Nichteinhaltung einer Vereinbarung vom 25. April 2000,
mit welcher der Versicherte dazu verpflichtet wurde, sich in regelmässigen
Abständen medizinischen Kontrollen zu unterziehen. Gemäss Angaben der
ehemaligen Arbeitgeberin war der Versicherte krankheitshalber vom 1. August
1999 bis 14. August 2000 zu 100 % und anschliessend ab 15. August 2000 bis
auf weiteres zu 50 % arbeitsunfähig. Sie sah bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses auf den 11. August 2000 davon ab, den Grundlohn der
allenfalls verminderten Leistungsfähigkeit ihres Arbeitnehmers anzupassen.
Der versicherte Verdienst, welcher den Taggeldabrechnungen für die Zeit von
August 2000 bis Juli 2002 zu Grunde liegt, basiert demgemäss auf diesem
Grundlohn, welcher die Einbusse in der Erwerbsfähigkeit nicht berücksichtigt.
Wie sich nun nachträglich ergeben hat, beträgt die Invalidität "77,15 %"
(recte: 77 % [zu den Rundungsregeln vgl. nachfolgende E. 5.2]). Daher führt
die neue Tatsache der rückwirkend zugesprochenen Invalidenrente unter den
vorliegenden Umständen zu einer anderen rechtlichen Beurteilung im Sinne der
prozessualen Revision, und die Bemessungsgrundlage des versicherten
Verdienstes ändert sich.

5.
5.1 Der Invaliditätsgrad von 77 % wurde von der Invalidenversicherung auf
Grund des Sachverhaltes ermittelt, wie er sich bis zum Zeitpunkt des Ablebens
des Versicherten am .... Juli 2002 entwickelt hat. Die berichtigende
Verfügung der Arbeitslosenkasse vom 26. Juli 2004 und der Einspracheentscheid
vom 29. September 2004 betreffen die Rückforderung der Arbeitslosentaggelder
für die Zeit von August 2000 bis Juli 2002. Anhaltspunkte dafür, dass der
Invaliditätsgrad von der Invalidenversicherung offensichtlich unrichtig
ermittelt worden ist, ergeben sich nicht. Aus dem Einwand der
Beschwerdeführer, sie hätten sich vielleicht bei der Invalidenversicherung
mit einem "widersinnigen Begehren" dafür einsetzen müssen, dass die "verfügte
Teilinvalidität rückgängig gemacht" werde, kann darum nichts zu ihren Gunsten
abgeleitet werden. Auch die Tatsache, dass der Versicherte im Jahr 2001 an
einem Programm für Arbeitslose teilgenommen hat, steht nicht im Widerspruch
zur nachträglich festgestellten Invalidität, weil nicht die Arbeitsfähigkeit,
sondern die Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit für die Anpassung des
versicherten Verdienstes gemäss Art. 40b AVIV relevant ist (BGE 132 V 357).
Diese Verordnungsbestimmung betrifft die Abgrenzung der Zuständigkeit der
Arbeitslosenversicherung gegenüber anderen Versicherungsträgern nach Massgabe
der Erwerbsfähigkeit. Deren Sinn und Zweck ist mit anderen Worten, die
Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung auf einen Umfang zu
beschränken, welcher sich nach der verbleibenden Erwerbsfähigkeit der
versicherten Person während der Dauer der Arbeitslosigkeit auszurichten hat.
Entgegen dem sinngemässen Vorbringen der Beschwerdeführer besteht für die
versicherte Person kein Wahlrecht zwischen Leistungen der
Arbeitslosenversicherung und jenen der Invalidenversicherung. Die
Arbeitslosenversicherung hat nur für den Lohnausfall einzustehen, welcher
sich aus der Arbeitslosigkeit ergibt. Deshalb kann für die Berechnung der
Arbeitslosenentschädigung keine Rolle spielen, ob ein anderer
Versicherungsträger Invalidenleistungen erbringt (BGE C 79/06 vom 18. Juli
2007).

5.2 Die Arbeitslosenkasse hat den ursprünglich auf Fr. 8'355.- festgesetzten
versicherten Verdienst um 77,15 %, entsprechend dem von der Ausgleichskasse
mitgeteilten Invaliditätsgrad, auf Fr. 1'909.- gekürzt und auf dieser Basis
zu viel ausbezahlte Taggelder im Umfang von Fr. 100'720.85 errechnet. Gemäss
BGE 130 V 121 ist bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades ein rechnerisch
exakt ermitteltes Ergebnis nach den Regeln der Mathematik auf die nächste
ganze Prozentzahl auf- oder abzurunden. Dieses Urteil war im Zeitpunkt des
Erlasses der Rückforderungsverfügung vom 26. Juli 2004 und des
Einspracheentscheides vom 29. September 2004 bereits in der Amtlichen
Sammlung publiziert, so dass die Arbeitslosenkasse die Rückforderungssumme im
Wissen um diese Praxisänderung entsprechend hätte korrigieren können. Damit
sie dies nachholen kann, wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen. Sie
wird den versicherten Verdienst demzufolge entsprechend dem in der letzten
Anstellung erzielten Einkommen, multipliziert mit dem Faktor, der sich aus
der Differenz zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad in der Höhe von 77 %
ergibt, festzusetzen (BGE 132 V 357 E. 3.2.4.2 S. 360) und hernach, gestützt
auf diese Berechnung, eine neue Rückforderungsverfügung zu erlassen haben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, in dem
Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid der Kantonalen Rekurskommission in
Sachen Arbeitslosigkeit des Kantons Wallis vom 5. Oktober 2006 und der
Einspracheentscheid vom 29. September 2004 aufgehoben werden und die Sache an
die Unia Arbeitslosenkasse zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter
Berechnung im Sinne der Erwägungen, über die Höhe der Rückforderung neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Kantonalen Rekurskommission in Sachen
Arbeitslosigkeit des Kantons Wallis, dem Kantonalen Arbeitsamt Wallis, dem
Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum Oberwallis und dem Staatssekretariat
für Wirtschaft zugestellt.

Luzern, 19. November 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Berger Götz