Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 259/2006
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2006
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2006


C 259/06

Urteil vom 14. Dezember 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn, Untere Sternengasse 2,
4500 Solothurn, Beschwerdeführerin,

gegen

G.________, Beschwerdegegner.

Arbeitslosenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn vom 3. Oktober 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1980 geborene G.________ bezog in einer ersten Rahmenfrist für den
Leistungsbezug vom 6. Januar 2004 bis 5. Januar 2006 Arbeitslosentaggelder.
Vom 28. Juni 2004 bis 31. März 2005 war er im Zwischenverdienst als
Bankmetzger für die Metzgerei K.________ AG tätig. Für die Zeit vom 1. Juni
bis 31. Juli 2005 war er mit der Metzgerei S.________ ein befristetes
Arbeitsverhältnis eingegangen. Diese hatte den Lohn vorerst nur bis Ende Juni
2005 bezahlt mit der Begründung, G.________ habe den Arbeitsplatz am 29. Juni
2007 um 07.30 Uhr verlassen und sei seitdem nicht mehr gesehen worden. Vom 7.
Oktober bis 5. November 2005 war G.________ zudem als Hilfsarbeiter für das
Lackierwerk X.________ im Einsatz. Am 21. November 2005 stellte er erneut
Antrag auf Arbeitslosenentschädigung. Die damals zuständige Öffentliche
Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau hat sich mit der Metzgerei S.________ am
30. November 2005 in einem aussergerichtlichen Vergleich darauf geeinigt,
dass die Metzgerei die Hälfte der gemäss Art. 29 AVIG geleisteten Taggelder
für den Monat Juli 2005 übernehme. Mit Verfügung vom 21. Februar 2006 lehnte
die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung für die Zeit ab 6. Januar 2006 ab, weil der
Versicherte durch die in der ersten Rahmenfrist für den Leistungsbezug ab 28.
Juni 2004 ausgeübten Zwischenverdiensttätigkeiten nicht genügend Beitragszeit
für die Eröffnung einer neuen Rahmenfrist nachweisen könne. Daran hielt sie
mit Einspracheentscheid vom 28. April 2006 fest.

B.
In Gutheissung der dagegen von G.________ erhobenen Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn den Einspracheentscheid vom 28.
April 2006 auf und stellte fest, dass der Versicherte "unter dem Vorbehalt
der übrigen Anspruchsvoraussetzungen" ab 6. Januar 2006 Anspruch auf
Arbeitslosentaggelder habe (Entscheid vom 3. Oktober 2006).

C.
Die Arbeitslosenkasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Gerichtsentscheid vom 3. Oktober 2006 sei aufzuheben.

G. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz.
75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 3. Oktober 2006 - und somit vor dem 1.
Januar 2007 - erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31.
Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S.
395).

2.
2.1 Nach Art. 8 Abs. 1 AVIG hat der Versicherte Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, wenn er unter anderem ganz oder teilweise
arbeitslos ist (lit. a), einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat
(lit. b) und die Kontrollvorschriften erfüllt (lit. g). Der Arbeitsausfall
ist anrechenbar, wenn er einen Verdienstausfall zur Folge hat und mindestens
zwei aufeinander folgende volle Arbeitstage dauert (Art. 11 Abs. 1 AVIG).
Nicht anrechenbar ist ein Arbeitsausfall, für den dem Arbeitslosen
Lohnansprüche oder wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses
Entschädigungsansprüche zustehen (Art. 11 Abs. 3 AVIG). Hat die Kasse
begründete Zweifel darüber, ob der Versicherte für die Zeit des
Arbeitsausfalls gegenüber seinem bisherigen Arbeitgeber Lohn- oder
Entschädigungsansprüche im Sinne von Art. 11 Abs. 3 AVIG hat oder ob sie
erfüllt werden, so zahlt sie Arbeitslosenentschädigung aus (Art. 29 Abs. 1
AVIG). Mit der Zahlung gehen alle Ansprüche des Versicherten samt dem
gesetzlichen Konkursprivileg im Umfang der ausgerichteten
Taggeldentschädigung auf die Kasse über (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 AVIG). Werden
in der Folge Lohn- und Entschädigungsansprüche realisiert, so gelten diese
als Beitragszeiten für eine allfällige weitere Bezugsrahmenfrist (BGE 126 V
368 E. 3c/aa S. 375; AM/ALV-Praxis 98/4, Blatt 4).

2.2 Gemäss Art. 9 AVIG gelten für den Leistungsbezug und für die Beitragszeit
zweijährige Rahmenfristen, sofern das Gesetz nichts anderes vorsieht (Abs.
1). Die Rahmenfrist für den Leistungsbezug beginnt am ersten Tag, für den
sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (Abs. 2). Die Rahmenfrist für
die Beitragszeit beginnt zwei Jahre vor diesem Tag (Abs. 3). Ist die
Rahmenfrist für den Leistungsbezug abgelaufen und beansprucht die versicherte
Person wieder Arbeitslosenentschädigung, so gelten, sofern das Gesetz nichts
anderes vorsieht, erneut zweijährige Rahmenfristen für den Leistungsbezug und
die Beitragszeit (Abs. 4).

3.
Streitig ist der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab 6. Januar 2006.
Umstritten ist namentlich, ob der Versicherte in der Zeit vom 6. Januar 2004
bis 5. Januar 2006 während mindestens zwölf Monaten eine beitragspflichtige
Beschäftigung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 AVIG ausgeübt hat.

4.
Zwischen der Metzgerei S.________ und dem Versicherten bestand ein vom 1.
Juni bis 31. Juli 2005 befristetes Arbeitsverhältnis. Die Metzgerei hat den
Lohn nur bis Ende Juni 2005 erbracht. Die damals zuständige Öffentliche
Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau hat für den Monat Juli 2005 gestützt auf
Art. 29 Abs. 1 AVIG Arbeitslosentaggelder ausbezahlt und
Entschädigungsansprüche bei der Metzgerei S.________ geltend gemacht. Auf
Grund eines aussergerichtlichen Vergleichs konnte die Verwaltung bei der
Metzgerei 50 % der für den Monat Juli 2005 geleisteten Taggelder erhältlich
machen, worauf sie für diese Beschäftigung gesamthaft eine Beitragszeit von
einem Monat und 15 Tagen anrechnete. Für den Einsatz in der Metzgerei
K.________ AG anerkennt die Kasse eine Beitragszeit von neun Monaten und vier
Tagen, für die Tätigkeit in der Metzgerei S.________ eine solche von einem
Monat und 15 Tagen und für die Anstellung beim Lackierwerk X.________ eine
solche von 29 Tagen. Damit kam der Beschwerdegegner auf eine
beitragspflichtige Beschäftigung von elf Monaten und 18 Tagen.
Die Arbeitslosenkasse bemängelt im letztinstanzlichen Prozess einerseits,
dass das kantonale Gericht anstatt 28 Beitragstage deren 31 als Beitragszeit
für die Zwischenverdiensttätigkeit beim Lackierwerk X.________ angerechnet
hat. Wie es sich damit verhält, kann allerdings offen bleiben. Der
Beschwerdegegner erfüllt nämlich die Beitragszeit zur Eröffnung einer zweiten
Rahmenfrist ab 6. Januar 2006 nur, wenn - mit der Vorinstanz und dem
Versicherten - zusätzlich zu den unbestrittenen 15 Tagen (nahezu) der ganze
Monat Juli 2005 als Beitragszeit berücksichtigt wird.

5.
5.1 Auf Anfrage der damals zuständigen Öffentlichen Arbeitslosenkasse des
Kantons Aargau teilte die Metzgerei S.________ am 13. August 2005 mit, der
Versicherte habe am 29. Juni (2005) die Arbeitsstelle um 07.30 Uhr verlassen.
In einem Telefongespräch mit einem Mitarbeiter dieser Kasse gab E.________,
Mitarbeiter der Metzgerei S.________, in der Folge an, der Beschwerdegegner
habe die Arbeit danach nicht wieder aufgenommen, er habe sich nicht mehr
gemeldet und sei auch nicht erreichbar gewesen (Schreiben der Öffentlichen
Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau vom 7. September 2005).

5.2 Nach der (undatierten) schriftlichen Schilderung des Versicherten war ihm
am Mittwoch, 29. Juni 2005, übel und er hatte starke Kopfschmerzen. Da er
sich "nicht in der Metzgerei übergeben" wollte, sei er an die frische Luft
gegangen. Es sei aber keine Besserung eingetreten, so dass er beschlossen
habe, nach Hause zu gehen. Er habe sich in der Metzgerei krank gemeldet und
sei bis am Montag (4. Juli 2005) im Bett geblieben. Am Montagmorgen habe er
vergeblich auf seine Mitfahrgelegenheit - er sei auf einen Chauffeur
angewiesen gewesen, weil zu solch früher Stunde noch keine öffentlichen
Verkehrsmittel unterwegs seien - gewartet, um zur Arbeit zu fahren. Als er in
der Metzgerei telefonisch nachgefragt habe, sei ihm gesagt worden, er brauche
nicht mehr zu kommen.

5.3 Aus dem Nachweis der Swisscom Fixnet über die Verbindungen, welche vom
Telefonanschluss des Versicherten hergestellt worden sind, geht hervor, dass
er die Metzgerei am 29. Juni 2005 um 16.52 Uhr und am 30. Juni 2005 um 11.54
Uhr angerufen hat. Die Behauptung des E.________, wonach sich der Versicherte
nach Verlassen der Arbeitsstelle am 29. Juni 2005 nicht mehr gemeldet habe,
ist damit widerlegt. Nach Prüfung des telefonischen Verbindungsnachweises hat
die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau E.________ am 7.
September 2005 mitgeteilt, es sei nicht von einer stillschweigenden
Vertragsauflösung durch den Versicherten auszugehen. Vielmehr sei anzunehmen,
dass die Metzgerei das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt habe; diese
Entlassung ohne vorgängige schriftliche Mahnung sei nicht gerechtfertigt
gewesen.

6.
6.1 Auf Grund der gesamten Umstände ist der Verwaltung beizupflichten, dass
die Metzgerei S.________ das befristete Arbeitsverhältnis durch fristlose
Kündigung im Sinne von Art. 337 OR vorzeitig aufgelöst hat. Die fristlose
Kündigung beendet den Arbeitsvertrag auch dann, wenn sie sich als
ungerechtfertigt herausstellt oder wenn sie in eine Schutzperiode gemäss Art.
336c OR fällt (BGE 117 II 270 E. 3b). Nach der Rechtsprechung stellen
Arbeitsverweigerung und unentschuldigtes Fernbleiben dann einen wichtigen
Grund für eine fristlose Entlassung dar, wenn sie beharrlich sind und eine
Verwarnung mit klarer Androhung der fristlosen Entlassung vorausgegangen ist.
Diese Voraussetzungen gelten nicht, wenn sich die Arbeitsverweigerung oder
das Fernbleiben über eine längere Zeit erstreckt (Urteil 4C.244/2000 vom 30.
November 2000). Vorliegend ist unbestritten, dass der Versicherte nicht
verwarnt worden ist. Seine Abwesenheit war auch nicht von langer Dauer. Bei
Verhinderung des Arbeitnehmers an der Arbeitsleistung infolge Krankheit kann
eine fristlose Kündigung zudem nur ausgesprochen werden, wenn der Arbeitgeber
den Arbeitnehmer erfolglos aufgefordert hat, entweder ein Arztzeugnis
einzureichen oder die Arbeit wieder aufzunehmen (Urteil 4C.413/2004 vom 10.
März 2005). In casu bringt der Beschwerdegegner vor, dass er den Arbeitsplatz
am 29. Juni 2005 krankheitshalber habe verlassen müssen und in den folgenden
Tagen bettlägerig gewesen sei. Er konnte mit dem Verbindungsnachweis der
Swisscom Fixnet belegen, dass er sowohl am 29. als auch am 30. Juni 2005
telefonischen Kontakt mit der Metzgerei aufgenommen hatte. Bei dieser
Sachlage wäre es für die Metzgerei, welche die Beweislast für das krass
treuwidrige Verhalten des Arbeitnehmers trifft (Urteil 4C.248/2000 vom 13.
November 2000), in einem arbeitsgerichtlichen Prozess schwierig gewesen, den
wichtigen Grund für die fristlose Entlassung nachzuweisen, zumal sie zu
keiner Zeit geltend gemacht hat und auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen,
dass sie den Versicherten vergeblich aufgefordert hat, entweder ein
Arztzeugnis einzureichen oder die Arbeit wieder aufzunehmen. Mit Blick auf
die geschilderte Praxis hätten demnach durchaus Chancen bestanden, dass die
ehemalige Arbeitgeberin bei einem gerichtlichen Vorgehen zur Bezahlung von
Schadenersatz in der Höhe des bis zum ordentlichen Endtermin des
Arbeitsverhältnisses (31. Juli 2005) geschuldeten Lohnes im Sinne von Art.
337c Abs. 1 OR verurteilt worden wäre.

6.2 Die Arbeitslosenkasse hat sich im aussergerichtlichen Vergleich bereit
erklärt, gegenüber der Metzgerei S.________ auf die Hälfte des subrogierten
Betrages zu verzichten. Dieser Verzicht kann dem Versicherten unter den
genannten Umständen nicht entgegengehalten werden. Er ist von der
Arbeitslosenkasse im Hinblick auf die strittige Beitragszeit so zu stellen,
wie wenn das Arbeitsverhältnis durch Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer
ordnungsgemäss beendet worden wäre (Art. 337c Abs. 1 OR). Daran ändert
entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nichts, dass es der Versicherte
unterlassen hat, bei seiner ehemaligen Arbeitgeberin die nicht durch
Subrogation auf die Kasse übergegangenen Entschädigungsansprüche geltend zu
machen, nachdem die Kasse die Prozessaussichten offenbar als gering
einschätzte, was sie mit dem Abschluss des aussergerichtlichen Vergleichs zum
Ausdruck gebracht hat. Massgebend ist allein, dass bei objektiver
Betrachtungsweise die Chancen für die gerichtliche Durchsetzung der
Entschädigungsansprüche aus ungerechtfertigter fristloser Entlassung intakt
waren. Die Vorinstanz hat deshalb zu Recht den ganzen Monat Juli 2005 als
Beitragszeit angerechnet, womit der Versicherte in der Zeit vom 6. Januar
2004 bis 5. Januar 2006 während mindestens (vgl. E. 4 hiervor) zwölf Monaten
und drei Tagen eine beitragspflichtige Beschäftigung im Sinne von Art. 13
Abs. 1 AVIG ausgeübt hat. Dem Beschwerdegegner ist ab 6. Januar 2006 eine
Folgerahmenfrist für den Leistungsbezug zu eröffnen, falls auch die übrigen
Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn und dem
Staatssekretariat für Wirtschaft schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Dezember 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Berger Götz