Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 221/2006
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2006
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2006


C 221/06

Urteil vom 24. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin
Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

B. ________, 1949,
Beschwerdeführer,
vertreten durch die Winterthur-ARAG Rechtsschutz, Konradstrasse 15, 8400
Winterthur,

gegen

Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Brunngasse 6, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin.

Arbeitslosenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. August 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1949 geborene B.________ ist vom 1. April 1982 bis 31. Oktober 2005,
zuletzt als Geschäftsführer im Alterszentrum X.________, für die Gemeinde
Y.________, tätig gewesen. Seine Arbeitgeberin hat ihm eine Abfindung von
Fr. 165'660.- und einen Teilbetrag einer künftigen Treueprämie von
Fr. 3'707.- ausbezahlt. Am 4. Oktober 2005 stellte B.________ Antrag auf
Arbeitslosenentschädigung für die Zeit ab 1. November 2005. Die
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich lehnte die Anspruchsberechtigung mit der
Begründung ab, mit Blick auf die freiwilligen Abgangsleistungen der
ehemaligen Arbeitgeberin von insgesamt Fr. 169'367.- erleide B.________ in
der Zeit vom 1. November 2005 bis 21. April (recte: 20. April) 2006 keinen
anrechenbaren Arbeits- und Verdienstausfall, weshalb ihm für diese Dauer
keine Arbeitslosentaggelder ausgerichtet werden könnten (Verfügung vom 21.
November 2005). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 11. Mai 2006
fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich ab (Entscheid vom 23. August 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ beantragen, es seien ihm
für die Dauer vom 1. November 2005 bis 20. April 2006 Arbeitslosentaggelder
nachzuzahlen.

Die Arbeitslosenkasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz
75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 23. August 2006 - und somit vor dem 1.
Januar 2007 - erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31.
Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S.
395).

2.
Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung setzt unter anderem voraus, dass
die versicherte Person ganz oder teilweise arbeitslos ist (Art. 8 Abs. 1 lit.
a in Verbindung mit Art. 10 AVIG) und einen anrechenbaren Arbeitsausfall
erlitten hat (Art. 8 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 11 AVIG). Der
Arbeitsausfall ist gemäss Art. 11 Abs. 1 AVIG anrechenbar, wenn er einen
Verdienstausfall zur Folge hat und mindestens zwei aufeinanderfolgende volle
Arbeitstage dauert. Er gilt so lange nicht als anrechenbar, als freiwillige
Leistungen des Arbeitgebers den durch die Auflösung des Arbeitsverhältnisses
entstehenden Verdienstausfall decken (Art. 11a Abs. 1 AVIG, in Kraft seit 1.
Juli 2003). Als freiwillige Leistungen des Arbeitgebers bei der Auflösung des
privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Arbeitsverhältnisses gelten
Leistungen, die nicht Lohn- oder Entschädigungsansprüche nach Art. 11 Abs. 3
AVIG darstellen (Art. 10a AVIV, in Kraft seit 1. Juli 2003).

Die Grundregel des Art. 11 Abs. 1 AVIG zum anrechenbaren Arbeitsausfall wird
allerdings im Zusammenhang mit freiwilligen Leistungen des Arbeitgebers bei
Auflösung des Arbeitsverhältnisses nur durchbrochen, soweit letztere den
Höchstbetrag nach Art. 3 Abs. 2 AVIG in der Höhe von Fr. 106'800.- (Art. 22
Abs. 1 UVV) übersteigen (Art. 11a Abs. 2 AVIG, in Kraft seit 1. Juli 2003).
Zudem regelt der Bundesrat die Ausnahmen, wenn freiwillige Leistungen in die
berufliche Vorsorge fliessen (Art. 11a Abs. 3 AVIG, in Kraft seit 1. Juli
2003). Die für die berufliche Vorsorge verwendeten Beträge werden von den zu
berücksichtigenden freiwilligen Leistungen nach Art. 11a Abs. 2 AVIG bis
höchstens zum Maximalbetrag des koordinierten Lohnes nach Art. 8 Abs. 1 BVG
(Fr. 77'400.-) abgezogen (Art. 10b AVIV, in Kraft seit 1. Juli 2003).

3.
Der Beschwerdeführer hat von seiner letzten Arbeitgeberin eine Abfindung von
Fr. 165'660.- und eine Abgeltung für eine zukünftige (sich nicht mehr
realisierende) Treueprämie von Fr. 3'707.-, insgesamt Fr. 169'367.-,
erhalten. Die Parteien sind sich einig, dass es sich dabei um freiwillige
Leistungen der ehemaligen Arbeitgeberin handelt.

3.1 Die Verwaltung bringt vom Gesamtbetrag in der Höhe von Fr. 169'367.- den
in Art. 11a Abs. 2 AVIG vorgesehenen Freibetrag von Fr. 106'800.- in Abzug
und geht davon aus, dass der Versicherte sich die Differenz von Fr. 62'567.-
für die Deckung des Verdienstausfalles anrechnen lassen muss.

3.2 Das kantonale Gericht ist der Auffassung, die Vorgehensweise der
Arbeitslosenkasse sei richtig.

3.3 Der Versicherte wendet ein, neben dem Freibetrag von Fr. 106'800.- sei
auch zu berücksichtigen, dass er Fr. 100'000.- der freiwilligen Leistungen
seiner ehemaligen Arbeitgeberin in die berufliche Vorsorge seiner Ehefrau
einbezahlt habe. Damit bleibe nichts übrig, was den Verdienstausfall aus
seinem Stellenverlust kompensieren könnte. Gemäss Art. 10b AVIV seien nämlich
Einzahlungen in die berufliche Vorsorge bis zum Maximalbetrag des
koordinierten Lohnes nach BVG von Fr. 77'400.- ebenfalls abzuziehen. Den
freiwilligen Leistungen seiner ehemaligen Arbeitgeberin von Fr. 169'367.-
stehe demgemäss ein Abzug von gesamthaft Fr. 184'200.- (Fr. 106'800.-
Fr. 77'400.-) gegenüber, woraus eine Unterdeckung von Fr. 14'833.-
resultiere. Die Ehe stelle - zumindest im Güterstand der
Errungenschaftsbeteiligung, in welchem sich der Beschwerdeführer und seine
Ehefrau befänden - auch eine wirtschaftliche Gemeinschaft dar. Von der
erfolgten Einzahlung in die Pensionskasse seiner Ehefrau werde er eines Tages
indirekt profitieren, weil eine höhere Rente daraus resultiere. Selbst bei
einer Scheidung würde er infolge hälftiger Teilung der Austrittsleistungen
nicht leer ausgehen. Zudem könne die Einzahlung steuerlich vom gemeinsamen
Einkommen der Ehepartner abgezogen werden. Vieles spreche dafür, dass
Einzahlungen in die Pensionskasse des Versicherten und solche in die
Pensionskasse seines Ehegatten nicht unterschiedlich zu behandeln seien. Es
sei möglich, dass der Verordnungsgeber den Kreis der privilegierten Personen
in Art. 10b AVIV bewusst offen gelassen habe, damit die Praxis aufzeigen
könne, wie die Norm auszulegen sei, oder dass der Verordnungsgeber überhaupt
nicht an diese Konstellation gedacht habe.

4.
4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der
Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die
Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde
liegenden Wertungen sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit
anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht
unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm
zu erkennen (BGE 131 I 394 E. 3.2 S. 396; 132 V 265 E. 2.3 S. 268 mit
Hinweisen). Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien eine
besondere Stellung zu, weil hier regelmässig noch keine veränderten Umstände
und kein gewandeltes Rechtsverständnis berücksichtigt werden müssen (BGE
131 V 286 E. 5.2 S. 292; 131 II 710 E. 4.1 S. 716). Das Bundesgericht hat
sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus
leiten lassen und nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt,
wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 133 V 9
E. 3.1 S. 10; 132 III 707 E. 2 S. 710).

4.2 Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die
gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm
eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen (BGE
131 I 99 Erw. 3.3, 130 V 214 Erw. 8, 130 II 438 Erw. 5.2, je mit Hinweisen).

5.
Der Gesetzgeber führte Art. 11a AVIG ein, weil es allgemein als stossend
wahrgenommen wurde, wenn Versicherte von ihrem ehemaligen Arbeitgeber
ausserordentlich hohe Leistungen erhielten und vom ersten Tag an
Arbeitslosenentschädigung beziehen konnten (Botschaft zu einem revidierten
Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 28. Februar 2001, BBl 2001 II 2245,
2278). Gemäss Botschaft geht es bei der Arbeitslosenversicherung um einen
Aufschub der Leistungsberechtigung, während bei der Alters- und
Hinterlassenenversicherung der Schutz vor zu geringer Versicherung im
Vordergrund steht (BBl 2001 II 2279). Die gesetzliche Grundlage ermöglicht
deshalb eine von der AHV unabhängige Beurteilung von Anrechnungstatbeständen
(Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel/Genf/
München 2007, S. 2229 Rz 167). Der Botschaft ist im Übrigen zu entnehmen,
dass der Bundesrat die Ausnahmen regeln soll, wenn freiwillige Leistungen von
Arbeitgebern in die obligatorische berufliche Vorsorge fliessen oder von den
Versicherten selbst in die 2. Säule investiert werden (BBl 2001 II 2279).
Weder aus der Botschaft noch aus den Protokollen der Kommissionen für soziale
Sicherheit und Gesundheit und der Räte ergeben sich aber Anhaltspunkte dafür,
dass die freiwilligen Leistungen, welche in die zweite Säule des Ehepartners
der arbeitslosen Person fliessen, im Rahmen von Art. 11a Abs. 3 AVIG
ebenfalls zu berücksichtigen wären (BBl 2001 II 2245 ff.; Amtl. Bull. 2001 S
395; Amtl. Bull. 2001 N 1889). Selbst wenn dem so wäre, könnte allerdings
daraus nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers abgeleitet werden. Es mag zwar
zutreffen, dass der Versicherte von der Einzahlung eines Teils seiner
Abgangsentschädigung in die 2. Säule seiner Ehefrau indirekt ebenfalls
profitieren kann. Dies bedeutet aber noch nicht, dass ein solches Vorgehen
ebenfalls privilegiert im Sinne von Art. 11a Abs. 3 AVIG in Verbindung mit
Art. 10b AVIV behandelt werden kann. Das Arbeitslosenversicherungsgesetz
stellt die versicherte Person in den Mittelpunkt (Art. 1a AVIG). Ihre
Situation ist Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob und bejahendenfalls in
welchem Umfang ihr Arbeitslosenentschädigung zusteht (Art. 8 Abs. 1 AVIG,
Art. 18 ff. AVIG). Das Gesetz führt zwar in Art. 11a Abs. 3 AVIG nicht
ausdrücklich an, dass Einzahlungen in die berufliche Vorsorge der
(arbeitslosen-)versicherten Person gemeint sind. Auf Grund dieser Konzeption
des Arbeitslosenversicherungsgesetzes bedürfte es allerdings auf jeden Fall
eines Hinweises im Gesetz, falls auch Einzahlungen in die berufliche Vorsorge
einer anderen Person von der Privilegierung miterfasst wären. Ob der Kreis
der privilegierten Personen in Art. 10b AVIV bewusst offen gelassen wurde,
wie dies der Beschwerdeführer vermutet, kann dahingestellt bleiben. Der
Versicherte übersieht, dass es für einen Einbezug der Einzahlungen in die 2.
Säule des Ehegatten der arbeitslosen Person in den Ausnahmetatbestand des
Art. 11a Abs. 3 AVIG einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfte, welche
offenbar fehlt. Eine andere Auslegung der Gesetzesbestimmung scheitert am
klaren Wortlaut der Norm. Art. 10b AVIV kann bereits deshalb nicht anders
gedeutet werden, weil Verordnungsrecht gesetzeskonform auszulegen ist. Eine
"praxisgemässe" Auslegung der Verordnungsbestimmung durch das Gericht, wie
sie vom Beschwerdeführer angestrebt wird, verbietet sich unter diesen
Umständen.

Das Bundesgericht erkennt:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich und dem
Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.

Luzern, 24. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

i.V. Widmer Berger Götz