Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 164/2006
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2006
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2006


{T 7}
C 164/06

Urteil vom 30. Januar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Grunder.

S. ________, 1962, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Massimo
Aliotta, Obergasse 20, 8401 Winterthur,

gegen

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Lagerhausstrasse 19, 8400
Winterthur, Beschwerdegegner.

Arbeitslosenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verfügung des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. Juni 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 6. September 2005 verneinte die Arbeitslosenkasse des
Kantons Zürich einen Anspruch der 1962 geborenen S.________ auf
Arbeitslosenentschädigung ab 20. Juli 2005, da die Beitragszeit nicht erfüllt
sei und kein Befreiungstatbestand vorliege. Die dagegen erhobene Einsprache
wies die Verwaltung ab (Einspracheentscheid vom 27. Februar 2006); zudem
verneinte sie gleichentags den geltend gemachten Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung mangels Notwendigkeit einer Rechtsvertretung (Verfügung vom
27. Februar 2006).

B.
S.________ liess Beschwerde führen und die folgenden Rechtsbegehren stellen:
Der Einspracheentscheid und die Verfügung vom 27. Februar 2006 seien
aufzuheben; die Arbeitslosenkasse sei zu verpflichten, ihr ab 20. Juli 2005
Arbeitslosenentschädigung auszurichten; es sei ihr für das
Einspracheverfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bewilligen. Das
Gesuch um Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsvertreters für das kantonale
Verfahren wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab
(Entscheid vom 14. Juni 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr für den kantonalen Prozess
ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bewilligen. Weiter wird um
unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren ersucht.

Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw. 1.2).

2.
Der kantonale Entscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege gehört zu den Zwischenverfügungen, die einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können. Er kann daher selbstständig mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 5
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 und 2 lit. h VwVG sowie Art. 97
Abs. 1 und 128 OG; BGE 100 V 62 Erw. 1, 98 V 115).

3.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob
die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

4.
Gemäss Art. 61 ATSG bestimmt sich das Verfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht unter Vorbehalt von Art. 1 Abs. 1 und 3 VwVG nach
kantonalem Recht. Dabei muss das Recht, sich verbeiständen zu lassen,
gewährleistet sein (Art. 61 lit. f Satz 1 ATSG). Wo die Verhältnisse es
rechtfertigen, wird der Beschwerde führenden Person ein unentgeltlicher
Rechtsbeistand bewilligt (Art. 61 lit. f Satz 2 ATSG). Diese Vorschrift gilt
auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung (Art. 2 ATSG und Art. 1 AVIG;
vgl. auch Art. 29 Abs. 3 Satz 2 BV und § 16 Abs. 1 des Gesetzes über das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 7. März 1993).

5.
5.1 Im angefochtenen Entscheid ist die zu Art. 4 alt BV und Art. 129 Abs. 2
Satz 3 BV ergangene Rechtsprechung zur sachlichen Notwendigkeit oder
Gebotenheit der anwaltlichen Vertretung als eine der Voraussetzungen für die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zutreffend dargelegt (vgl. auch
BGE 130 I 182 Erw. 2.2, 128 I 232 Erw. 2.5.2, 103 V 47). Darauf wird
verwiesen.

5.2 Das kantonale Gericht kam zum Schluss, da der Rechtsstreit keine
besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweise, denen die
Beschwerdeführerin auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre, sei der
Beizug eines Rechtsanwalts im kantonalen Verfahren nicht notwendig gewesen.

Die Beschwerdeführerin bringt im Wesentlichen vor, die Vorinstanz beurteile
das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung in Verletzung von Bundesrecht
aufgrund der Rechtsprechung, die für das Verwaltungsverfahren gelte. Sie
übersehe zudem, dass die Praxis in Bezug auf die in der Hauptsache streitige
Frage nicht einheitlich sei.

5.3
5.3.1 Nach der zu Art. 4 alt BV und Art. 29 Abs. 2 Satz 3 BV ergangenen
Rechtsprechung ist die sachliche Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung im
sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren nur ausnahmsweise zu
bejahen (BGE 125 V 32 Erw. 2, 117 V 408 Erw. 5a, 114 V 235 Erw. 5b; SVR 2000
KV Nr. 2 S. 5 Erw. 4c). Demgegenüber hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht zu alt Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG erkannt, die
unentgeltliche Verbeiständung müsse im kantonalen Verfahren grundsätzlich
bewilligt werden, sofern sie nach den konkreten objektiven und subjektiven
Umständen nicht als unnötig erscheint (nicht veröffentlichtes Urteil K. vom
25. Juli 1986, H 107/85). An die Voraussetzungen der sachlichen Notwendigkeit
einer Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ist demnach ein strengerer
Massstab anzulegen als im kantonalen Gerichtsverfahren. Der Gesetzgeber hat
diese Praxis bei der Schaffung des ATSG übernommen und dadurch zum Ausdruck
gebracht, dass im Verwaltungsverfahren der gesuchstellenden Person ein
unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt wird, wo die Verhältnisse es
erfordern (Art. 37 Abs. 4 ATSG), im kantonalen Prozess, wo sie es
rechtfertigen (Art. 61 lit. f Abs. 2 ATSG; vgl. BBl 1999 4595 und 4626 f.;
Kieser, ATSG-Kommentar, N 16 und 20 f. zu Art. 37; Urteil A. vom 24. Januar
2006 Erw. 4.3 f. [I 812/05]). Soweit die Vorinstanz davon ausging, im
kantonalen Gerichtsverfahren sei die sachliche Notwendigkeit oder Gebotenheit
anwaltlicher Vertretung nur ausnahmsweise zu bejahen, verletzte sie
Bundesrecht.

5.3.2 In der Hauptsache ist vor dem kantonalen Gericht streitig, ob die mit
ihren Kindern vom Ehemann getrennt lebende, seit 1989 nicht mehr erwerbstätig
gewesene Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 14 Abs. 2 AVIG von der
Erfüllung der Beitragszeit befreit ist und damit Anspruch auf
Arbeitslosentschädigung hat. Die Arbeitslosenkasse verneinte eine für das
Vorliegen des Tatbestandes von Art. 14 Abs. 2 AVIG erforderliche Zwangslage,
eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Zur Begründung führte sie
an, die vom Ehemann geschuldeten Unterhaltsbeiträge lägen über dem
hypothetischen Erwerbsausfall nach den Pauschalansätzen, wie sie in Art. 23
Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 41 Abs. 1 AVIV in Fällen der
Beitragsbefreiung zur Bestimmung des für die Taggeldberechnung massgebenden
versicherten Verdienstes vorgesehen seien. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht hat sich im Urteil B. vom 7. Mai 2004, C 240/02 (ARV
2005 Nr. 2 S. 49 ff.; vgl. auch Urteil S. vom 10. Juni 2005 Erw. 5.3.1 bis
5.3.3 mit Hinweisen, C 266/04 [ARV 2006 S. 59 f.]), zur Frage geäussert, nach
welchen Gesichtspunkten sich der wirtschaftliche Zwang zur Aufnahme oder
Erweiterung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach Art. 14 Abs. 2 AVIG
beurteilt. Es gelangte zum Schluss, dass entgegen der früheren Rechtsprechung
und der Verwaltungspraxis anstelle der Anwendung eines durch
Einkommensgrenzen oder im voraus festgelegten Pauschalbeträge konkretisierten
Schematismus zu prüfen sei, ob zwischen den Einkünften (einschliesslich der
Vermögenserträge) und den festen laufenden Kosten ein Gleichgewicht besteht
(wobei auch das verfügbare Vermögen in angemessener Weise einzubeziehen ist).
Die Kenntnis dieser Rechtslage kann bei juristisch durchschnittlich
gebildeten Personen, zu welchen ohne weiteres auch die Beschwerdeführerin zu
zählen ist, nicht vorausgesetzt werden. Vom materiellrechtlichen Standpunkt
aus ist mithin von einer schwierigen Materie auszugehen. Die Aktenlage ist
zwar überschaubar, entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist aber zu
beachten, dass für die Beschwerdeführerin eine Leistungsverweigerung von
erheblicher Tragweite und ihr Interesse am Prozessausgang berechtigterweise
als hoch einzuschätzen ist. Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht
vorgebracht wird, hat die Beschwerdeführerin bei Bejahung der
Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 AVIG nicht nur Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, sondern allenfalls auch auf arbeitsmarktliche
Massnahmen unter Ausrichtung besonderer Taggelder. Zudem wäre sie auch in
sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht besser gestellt. Unter diesen
Umständen ist anzunehmen, dass eine nicht bedürftige Partei bei sonst
gleichen Verhältnissen vernünftigerweise eine Rechtsanwältin oder einen
Rechtsanwalt beigezogen hätte. Die vorinstanzliche Verneinung der sachlichen
Notwendigkeit oder Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung erfolgte demnach
zu Unrecht. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es
das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung auch hinsichtlich der weiteren
Voraussetzungen der Bedürftigkeit und Nichtaussichtslosigkeit prüfe.

6.
6.1 Praxisgemäss (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5 [Urteil W. vom 11. Juni 2001,
C 130/99]) werden in Verfahren, welche die Frage der Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege für den kantonalen Prozess zum Gegenstand haben,
keine Gerichtskosten erhoben.

6.2 Zufolge Obsiegens steht der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung
zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Diese geht zu Lasten des
Kantons Zürich, weil der Gegenpartei im Verfahren um die Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege keine Parteistellung zukommt (RKUV 1994 Nr. U
184 S.78 Erw 5). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Zwischenentscheid vom 14. Juni 2006 aufgehoben und die Sache an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen wird, damit
dieses, nach erfolgter Prüfung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung neu befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich und
dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.

Luzern, 30. Januar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: