Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 163/2006
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Prozess {T 7}
C 163/06

Urteil vom 19. Oktober 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiberin
Schüpfer

G.________, Beschwerdeführer,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 22. Mai 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1952 geborene G.________ war seit dem 1. August 2004 als Key Account
Manager bei der Firma P.________ tätig. Gemäss Vertrag vom 2. August 2004
gewährte G.________ seiner Arbeitgeberin ein zinsloses Darlehen von
Fr. 40'000.-. Da weder der Lohn, noch die von ihm eingereichten Spesennoten
bezahlt wurden, forderte der Arbeitnehmer die Firma P.________ am 1. Dezember
2004 schriftlich auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Am 13. Dezember
2004 löste er das Arbeitsverhältnis fristlos auf. In einer Email vom
7. Januar 2005 erstellte der Geschäftsführer der Arbeitgeberin, T.________,
eine Abrechnung über die ausstehenden Lohn- und Spesenforderungen sowie der
bereits getätigten Zahlungen und Verrechnungsbeträge. Dabei wurde anerkannt
eine Summe von Fr. 14'420.10 abzüglich Sozialversicherungsbeiträge zu
schulden, welche in drei Raten je Ende Januar, Februar und März 2005
beglichen würden. Da keine der versprochenen Zahlungen erfolgte, reichte
G.________ am 21. Juni 2005 beim Arbeitsgericht Aarau Klage ein. Mit
rechtskräftigem gerichtlichen Vergleich vom 5. August 2005 wurde die
P.________ zur Bezahlung von Fr. 14'500.- in drei Raten, je fällig Ende
August, September und Oktober 2005 verurteilt. Am 15. August 2005 wurde über
die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. G.________ reichte eine
Konkursforderung über den Betrag von Fr. 54'500.- ein und stellte am 18.
August 2005 bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau Antrag auf
Insolvenzentschädigung im Betrage von Fr. 22'198.80 entsprechend vier
Monatslöhnen von Fr. 4'500.- plus Anteil 13. Monatslohn, Ferien und
Pauschalspesen. Die Arbeitslosenkasse lehnte das Leistungsbegehren mit
Verfügung vom 2. September 2005 ab, da der Versicherte sich nach Auflösung
des Arbeitsverhältnisses am 13. Dezember 2004 nicht eindeutig genug um die
Durchsetzung seiner Forderung bemüht habe und die Einreichung der Lohn-Klage
nicht innert nützlicher Frist erfolgt sei. Damit habe er seine
Schadenminderungspflicht verletzt, weshalb kein Anspruch auf
Insolvenzentschädigung bestehe. Daran hielt die Kasse auch auf Einsprache hin
fest (Entscheid vom 27. September 2005).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 22. Mai 2006).

C.
G.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt sinngemäss, es
sei ihm in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides eine
Insolvenzentschädigung von Fr. 14'500.- und die Rückzahlung des an die
P.________ gewährten Darlehens von Fr. 40'000.- nebst Zins seit dem 2. August
2004 zu gewähren.

Die öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau beantragt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Insoweit, als der Beschwerdeführer die Rückzahlung des seiner inzwischen
konkursiten Arbeitgeberin gewährten Darlehens im Betrag von Fr. 40'000.-
nebst Zinsen fordert, kann in diesem Verfahren nicht darauf eingetreten
werden. Die Insolvenzentschädigung der Arbeitslosenversicherung deckt nur
Lohnforderungen und nicht schlechthin alle Forderungen gegen eine insolvente
Arbeitgeberin. Damit war der geltend gemachte Betrag auch nicht Gegenstand
der angefochtenen Verfügung.

2.
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen über den
Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), den Umfang des
Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der seit 1. Juli 2003 gültigen Fassung)
sowie über die Pflichten des Arbeitsnehmers im Konkurs- und
Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 Nr. 8
S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.) zutreffend
dargelegt. Darauf verwiesen. Dasselbe gilt hinsichtlich der allgemeinen
Schadenminderungspflicht des Arbeitsnehmers schon vor der Konkurseröffnung
und der dazu ergangenen Rechtsprechung.

3.
3.1 Auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der
Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen
Rechtsprechung (Erw. 1) setzt voraus, dass dem Versicherten ein schweres
Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder
Unterlassen vorgeworfen werden kann (vgl. Urs Burgherr, Die
Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes
Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166 und FN 640). Das Ausmass der
vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen
Umständen des Einzelfalls. Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt,
dass er bereits während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den
Arbeitgeber Betreibung einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch
seine Lohnforderung gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und
unmissverständlicher Weise geltend zu machen (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). Zu
weitergehenden Schritten ist die versicherte Person dann gehalten, wenn es
sich um erhebliche Lohnausstände handelt und sie konkret mit einem
Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch für die Zeit vor Auflösung des
Arbeitsverhältnisses nicht an, dass die versicherte Person ohne hinreichenden
Grund während längerer Zeit keine rechtlichen Schritte zur Realisierung
erheblicher Lohnausstände unternimmt, obschon sie konkret mit dem Verlust der
geschuldeten Gehälter rechnen muss (Urteile F. vom 6. Februar 2006. C 270/05;
B. vom 20. Juli 2005, C 264/04; G. vom 14. Oktober 2004, C 114/04, und G. vom
4. Juli 2002, C 33/02).

3.2 Wird der Arbeitgeber zahlungsunfähig, so kann der Arbeitnehmer gemäss
Art. 337a OR das Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, sofern ihm für seine
Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis nicht innert angemessener Frist
Sicherheit geleistet wird. Dem Arbeitnehmer steht mit der obigen Bestimmung
die Möglichkeit offen, zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte
Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten
(BGE 120 II 212 Erw. 6a). Es kann von ihm jedoch nicht unter dem Titel der
Schadenminderungspflicht (BGE 129 V 463 Erw. 4.2, 123 V 233 Erw. 3c mit
Hinweisen) verlangt werden, diesen Schritt zu machen (SVR 2005 ALV Nr. 10 S.
30 [Urteil N. vom 15. April 2005, C 214/04]). Um zu verhindern, dass der
Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibt, hat
der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die
Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten
ohne Lohn ist es dem Arbeitnehmer demnach aus
arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, das
Arbeitsverhältnis mit dem insolventen Arbeitgeber weiterzuführen (SVR 2005,
AlV Nr. 10 S. 31 f. Erw. 5.3, C 214/04 und Urteil B. vom 20. Juli 2005, C
264/04). Verbleibt er ohne Lohnbezug über diesen Zeitraum hinaus beim
bisherigen Arbeitgeber, anstatt sich nach einer neuen Beschäftigung
umzusehen, handelt er auf eigenes Risiko (Urteil F. vom 6. Februar 2006, C
270/05).

4.
Die Prüfung der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine Verletzung seiner
Schadenminderungspflicht vorzuwerfen ist, umfasst einerseits die Periode
zwischen der Arbeitsaufnahme ab 1. August 2004 bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses am 13. Dezember 2004 einerseits und diejenige von diesem
Zeitpunkt bis zur Konkurseröffnung andererseits.

4.1 Während des Arbeitsverhältnisses erhielt der Beschwerdeführer gemäss
unbestrittener Zusammenstellung vom 7. Januar 2005 Bar-Akontozahlungen von
insgesamt Fr. 6'930.-, was knapp zwei bis zweieinhalb Netto-Löhnen
entsprechen dürfte. Zudem forderte er die Begleichung der offenen Löhne nach
vier Monaten unvollständiger Bezahlung unmissverständlich ein und reagierte
mit der fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 13. Dezember 2004
folgerichtig. Im Lichte der angeführten Rechtsprechung kann ihm daher nicht
vorgeworfen werden, er habe vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 13.
Dezember 2004 seine Schadenminderungspflicht verletzt. Davon gehen auch die
Beschwerdegegnerin und die Vorinstanz aus.

4.2 Zu prüfen bleibt das Verhalten ab diesem Zeitpunkt. Gemäss eingereichtem
Email-Verkehr wurde dem Beschwerdeführer von seinem Vorgesetzten am 7. Januar
2005 versprochen, die ausstehenden Löhne würden in drei Raten, jeweils
zahlbar Ende Januar, Februar und März 2005 beglichen. Er selbst gibt in der
Zusammenstellung "was habe ich unternommen seit September 2004" an, bis zur
Klageeinreichung am 21. Juni 2005 noch "unzählige Telefonate bezüglich des
Lohnausstandes..." geführt zu haben. Diese Bemühungen werden von der
Arbeitslosenkasse nicht in Frage gestellt, sodass davon auszugehen ist, dass
Gespräche tatsächlich geführt wurden. Bis Ende März 2005, also dem Zeitpunkt,
bis zu welchem ihm die Bezahlung der offenen Lohnforderung versprochen worden
war, konnte vom Beschwerdeführer nicht erwartet werden, dass er rechtliche
Schritte gegen die Promocean unternimmt, da er - namentlich angesichts der
immerhin geleisteten Akontozahlungen - auf - verspätete - Zahlung hoffen
durfte. Nach Ausbleiben auch der letzten Rate hat der Beschwerdeführer noch
rund zweieinhalb Monate zugewartet, bis er am 21. Juni 2005 Klage einreichte.
Diese Zeitspanne stellt vorliegend keine Verletzung seiner
Schadenminderungspflicht dar. Diese Beurteilung ergibt sich insbesondere auch
angesichts des Umstandes, dass seine ehemalige Arbeitgeberin dem
Beschwerdeführer neben den ausstehenden Löhnen auch noch die Rückzahlung
eines Darlehens von Fr. 40'000.- schuldete. Ähnlich wie ein Arbeitnehmer, der
in einem Arbeitsverhältnis steht, bestand wegen dieser Forderung zwischen dem
Beschwerdeführer und der Schuldnerin auch nach der Kündigung ein gewisses
Abhängigkeitsverhältnis. Es ist daher verständlich, dass er eine Einigung
betreffend Rückzahlung des Darlehens nicht durch ein allzu forsches
rechtliches Vorgehen hinsichtlich seiner Lohnforderung gefährden wollte.
Soweit eine Verletzung der Schadenminderungspflicht überhaupt anzunehmen
wäre, wiegt sie nach den gesamten Umständen jedenfalls nicht derart schwer,
dass sie mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionieren ist.

5.
Nach dem Gesagten ist die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen,
damit sie die weiteren Anspruchsvoraussetzungen prüfe und über den Anspruch
auf Insolvenzentschädigung neu verfüge.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten
ist, werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
22. Mai 2006 und der Einspracheentscheid der Öffentlichen Arbeitslosenkasse
des Kantons Aargau vom 27. September 2005 aufgehoben und die Sache wird an
die Arbeitslosenkasse zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im
Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Staatssekretariat für Wirtschaft und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit
(AWA) des Kantons Aargau zugestellt.

Luzern, 19. Oktober 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: