Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 139/2006
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Prozess {T 7}
C 139/06

Urteil vom 13. Oktober 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiber Fessler

R.________, 1946, Beschwerdeführer,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 25. April 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1946 geborene R.________ bezog ab 1. Oktober 2002 (Beginn der [ersten]
Rahmenfrist für den Leistungsbezug) Taggelder der Arbeitslosenversicherung.
In den Monaten Oktober 2003 bis Dezember 2004 arbeitete er als
Kundenberater/Finanzplaner im Aussendienst in der Abteilung
"Nichtleben-Versicherungen" der Firma X.________ AG. Gemäss Arbeitsvertrag
vom 13. August/ 5. Dezember 2003 betrug das Arbeitspensum 100 %
(40 Wochenstunden) und die Entlöhnung erfolgte auf Provisionsbasis. Weiter
war vereinbart, dass der Arbeitnehmer "mindestens 50 % der erarbeiteten
Provisionen und Honorare als Vorauszahlung" erhält. Gestützt darauf leistete
die Firma Zahlungen von monatlich Fr. 2700.-, zuzüglich Spesen von Fr. 500.-.
Die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau rechnete Fr. 2700.-
sowie Einkünfte aus einer weiteren Tätigkeit als Zwischenverdienst an und
richtete entsprechende Kompensationszahlungen aus. Am 18. Juli 2005 verfügte
die Kasse, dass der ab Oktober 2003 bis Dezember 2004 bei der X.________ AG
erzielte Zwischenverdienst mit einem berufs- und ortsüblichen Stundenansatz
von Fr. 20.- abgerechnet werde. Mit Einspracheentscheid vom 5. Oktober 2005
bestätigte sie diesen Ansatz.

B.
Die Beschwerde des R.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 25. April 2006 ab.

C.
R.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem sinngemässen
Rechtsbegehren, Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien aufzuheben
und der im Zeitraum Oktober 2003 bis Dezember 2004 bei der X.________ AG
erzielte Zwischenverdienst sei mit einem Stundenansatz von Fr. 13.-
abzurechnen.
Die Arbeitslosenkasse und das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitgegenstand bildet der für die Verdienstausfallberechnung nach Art. 24
Abs. 3 AVIG massgebende Zwischenverdienst aus der Tätigkeit als
Kundenberater/Finanzplaner im Aussendienst in der Abteilung
"Nichtleben-Versicherungen" der Firma X.________ AG in der Zeit vom
1. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004. Soweit das Rechtsbegehren in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die Arbeitslosenkasse sei anzuweisen, die
Differenz zwischen geschuldeter und tatsächlich erbrachter
Arbeitslosenentschädigung in Form von Differenzausgleich (vgl. zu diesem
Begriff BGE 125 V 487 oben mit Hinweisen) an die Firma gemäss
Forderungsabtretung in der Einsprache zu bezahlen, darüber hinausgeht, ist
darauf nicht einzutreten.

2.
Als Zwischenverdienst gilt jedes Einkommen aus unselbstständiger oder
selbstständiger Erwerbstätigkeit, das der Arbeitslose innerhalb einer
Kontrollperiode erzielt. Der Versicherte hat Anspruch auf Ersatz des
Verdienstausfalls (Art. 24 Abs. 1 erster und zweiter Satz AVIG). Als
Verdienstausfall gilt die Differenz zwischen dem in der Kontrollperiode
erzielten Zwischenverdienst, mindestens aber dem berufs- und ortsüblichen
Ansatz für die betreffende Arbeit, und dem versicherten Verdienst (Art. 24
Abs. 3 erster Satz AVIG).

2.1 Sinn und Zweck der Entschädigung des Verdienstausfalles ist es, Anreiz
für die Annahme schlecht entlöhnter Arbeiten zu schaffen (BGE 125 V 490 Erw.
4c/cc). Mit dem Korrektiv der Berufs- und Ortsüblichkeit der Entlöhnung soll
verhindert werden, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Sinne eines
Lohndumping einen zu niedrigen Verdienst vereinbaren, um die Differenz zu
Lasten der Arbeitslosenversicherung entschädigen zu lassen (BGE 129 V 103
Erw. 3.3, 120 V 245 Erw. 3c; ARV 1998 Nr. 33 S. 181 Erw. 2; vgl. auch
Botschaft des Bundesrates vom 2. Juli 1980 zu einem neuen Bundesgesetz über
die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung
[BBl 1980 III 489 ff.] S. 581 sowie BBl 1989 III 390 f.).
2.2 Bei im Bereich der Finanzberatung (Versicherungen, Vorsorge etc.) tätigen
Arbeitnehmern im Aussendienst, welche umsatzbezogen (auf Provisionsbasis)
entlöhnt werden, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in ständiger
Rechtsprechung den von den Arbeitslosenkassen bei der
Verdienstausfallberechnung nach Art. 24 Abs. 3 AVIG regelmässig angewendeten
berufs- und ortsüblichen Stundenansatz von mindestens Fr. 20.- als angemessen
bezeichnet oder nicht beanstandet (ARV 2002 Nr. 13 [C 135/98] S. 110 Erw. 5,
1998 Nr. 33 S. 183 Erw. 3c, Urteile B. vom 9. März 2006 [C 225/05] Erw. 4.3,
K. vom 30. April 2003 [C 227/01] Erw. 3.2.4 und S. vom 17. Mai 2000
[C 314/99] Erw. 1c sowie nicht veröffentlichte Urteile B. vom 27. November
1997 [C 266/97], L. vom 4. Juli 1997 [C 181/96] und D. vom 13. Juni 1995
[C 102/95] Erw. 2).
Gemäss Rz C95 des Kreisschreibens über die Arbeitslosenentschädigung (KS-ALE)
liegt bei umsatzbezogener Entlöhnung (Provision) keine berufs- und
ortsübliche Entlöhnung vor, wenn die versicherte Person einen Verdienst
erzielt, der nicht annähernd der Arbeitsleistung entspricht.

3.
Der Beschwerdeführer arbeitete im fraglichen Zeitraum vom 1. Oktober 2003 bis
31. Dezember 2004 vollzeitlich (40 Wochenstunden) als
Kundenberater/Finanzplaner im Aussendienst im Bereich
"Nichtleben-Versicherungen". Die Entlöhnung war rein umsatzbezogen. Daran
ändern die Vorauszahlungen der Arbeitgeberin auf die erarbeiteten Provisionen
und Honorare nichts. Gemäss Abrechnung vom 15. April 2005 betrug die
Nettoprovision für 2004 Fr. 25'904.41. Dies entspricht einem Monatsgehalt von
Fr. 2158.70 oder einem Stundenlohn von Fr. 12.43
(Fr. 2158.70/[21,7 Arbeitstage x 8 Stunden/Tag; vgl. Art. 40a AVIV]). Die
Arbeitslosenkasse erachtete diese Einkünfte nicht als berufs- und ortsüblich
im Sinne von Art. 24 Abs. 3 AVIG und setzte den für die
Verdienstausfallberechnung massgebenden Stundenansatz auf Fr. 20.- fest. Das
kantonale Gericht hat dies im Wesentlichen unter Hinweis auf die
Gerichtspraxis (ARV 2002 Nr. 13 [C 135/98] S. 110 Erw. 5 und Urteil K. vom
30. April 2003 [C 227/01] Erw. 3.2.4) bestätigt.

4.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, im
Versicherungsgeschäft würden Aussendienststellen in der Regel mit einem Fixum
zwischen Fr. 1500.- und Fr. 2000.- und zusätzlich mit den entsprechenden
Kommissionen und Leistungsvergütungen entschädigt. Dieses Fixum sei von der
Arbeitslosenkasse und der Vorinstanz auf Fr. 3200.- festgesetzt worden, was
mit Sicherheit nicht als orts- und branchenüblich bezeichnet werden könne. In
der vorinstanzlichen Beschwerde wurde zudem geltend gemacht, die
Entschädigung für eine reine Aussendiensttätigkeit könne überhaupt nicht über
einen festen Ansatz beurteilt werden. Es zählten einzig die Provisionen aus
abgeschlossenen Geschäften. Gebe der Markt nicht mehr her, verdiene der
Aussendienstmitarbeiter entsprechend weniger oder sogar nichts. Im Übrigen
möchten Arbeitswillige nie unnötigerweise auf die Arbeitslosenkasse
zurückgreifen und beschäftigungswillige Unternehmen trügen in befriedigender
Art dazu bei.
Soweit diese Vorbringen auf eine Änderung der in Erw. 2.2 dargelegten
Gerichtspraxis abzielen, sind die Voraussetzungen hiefür (vgl. in BGE 132 V
noch nicht publizierte Erw. 2.4 des Urteils T. vom 24. Juli 2006 [H 47/05]
mit Hinweisen) nicht gegeben. Vorab ist zu Recht unbestritten, dass die
Missbrauchsklausel ("mindestens aber den berufs- und ortsüblichen Ansatz für
die betreffende Arbeit") des Art. 24 Abs. 3 AVIG grundsätzlich auch bei
erfolgsabhängigen Entschädigungssystemen anwendbar ist (vgl. Urteil V. vom
12. September 2005 [C 154/05] Erw. 4.1.2 in fine). Sodann ist die Regelung,
dass der bei der Bemessung des zu entschädigenden Verdienstausfalles
anrechenbare Zwischenverdienst mindestens dem berufs- und ortsüblichen Ansatz
für die betreffende Arbeit zu entsprechen hat, im Zusammenhang mit Art. 16
Abs. 2 lit. a AVIG zu sehen. Danach ist eine Arbeit unzumutbar und von der
Annahmepflicht ausgenommen, die den berufs- und ortsüblichen, insbesondere
den gesamt- oder normalarbeitsvertraglichen Bedingungen nicht entspricht.
Dieser Tatbestand ist insbesondere erfüllt, wenn der Lohn nicht berufs- und
ortsüblich ist (BGE 124 V 62). Die Aufgabe einer solchen lohnmässig
unzumutbaren Tätigkeit kann folgerichtig keine Sanktionen (Einstellung in der
Anspruchsberechtigung nach Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG und Art. 44 AVIV) nach
sich ziehen. Wer eine unzumutbare Arbeit im Sinne von Art. 16 Abs. 2 lit. a
AVIG annimmt oder nicht aufgibt, hat die Folgen von allenfalls geringer
ausfallenden Kompensationszahlungen zu tragen. Gemäss Akten war der
Beschwerdeführer bereits am 26. September 2003 darauf hingewiesen worden,
dass für die beabsichtigte Tätigkeit im Aussendienst als Zwischenverdienst
mindestens ein Stundenlohn von Fr. 20.- berücksichtigt werde (vgl. Schreiben
der Arbeitslosenkasse vom 25. Oktober 2004 und interner Bericht "Gestraffter
chronologischer Ablauf" vom 4. Juli 2005). Für den in diesem Zusammenhang
erstmals vorgebrachten Einwand, die Kasse habe aufgrund eines
Telefongespräches zugesichert, eine Abrechnung auf der Basis von effektiv
erarbeiteten Erträgen zu erstellen, finden sich keine Hinweise in den Akten.

5.
Im Übrigen ist festzustellen, dass die Verfügung vom 18. Juli 2005 insofern
einen Mangel aufwies, als nicht die Rückerstattung der bei einem
Stundenansatz von Fr. 20.- im Zeitraum Oktober 2003 bis Dezember 2004 zu viel
ausgerichteten Arbeitslosenentschädigung angeordnet wurde (Art. 95 Abs. 1
AVIG und Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG). Dass und soweit offenbar
vereinbarungsgemäss eine Verrechnung der Rückforderung mit laufenden
Leistungen erfolgte (Art. 95 Abs. 2 AVIG), ändert nichts daran. Ob diese
Vorgehensweise der Arbeitslosenkasse rechtskonform war, insbesondere der
Beschwerdeführer auf die Möglichkeit des (teilweisen) Erlasses der
Rückerstattungsschuld hingewiesen wurde (Art. 25 Abs. 1 zweiter Satz ATSG),
ist hier nicht zu prüfen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau und dem
Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 13. Oktober 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: