Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 115/2006
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Prozess {T 7}
C 115/06

Urteil vom 4. September 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiber Grünvogel

Staatssekretariat für Wirtschaft, Direktion,
Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, TCRV, Effingerstrasse 31, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

R.________, Beschwerdegegner,

Rekurskommission des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements,
Frauenkappelen

(Entscheid vom 23. März 2006)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 9. September 2004 verpflichtete das Staatssekretariat für
Wirtschaft (seco) die Einzelfirma R.________ für die Zeit vom März bis
Dezember 2003 bereits ausbezahlte Kurzarbeitsentschädigungen im Betrag von
Fr. 82'259.15 zurückzuerstatten. Zur Begründung führte es an, die Firma habe
im fraglichen Zeitraum keine betriebliche Arbeitszeitkontrolle geführt,
weshalb der geltend gemachte Arbeitszeitausfall nicht kontrollierbar sei, was
aber Anspruchsvoraussetzung gewesen wäre. Daran hielt es mit
Einspracheentscheid vom 27. Oktober 2004 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess die Rekurskommission des
Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements mit Entscheid vom 23. März 2006
in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid vom 27. Oktober 2004 aufhob
und die Verwaltung anwies, anhand der im Beschwerdeverfahren von der Firma
beigebrachten Unterlagen (Arztzeugnisse und schriftliche Bestätigungen der
von der Kurzarbeit betroffenen Mitarbeiter über die Arbeitstage;
[Ferien-]Abwesenheitsliste; Bestätigung des Unfallversicherers über fehlende
Unfallmeldungen) die abgerechneten Arbeitsausfälle erneut zu überprüfen und
hernach gegebenenfalls neu zu verfügen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das seco die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids.

Die Firma hat sich vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Ausschluss
von Arbeitnehmern, deren Arbeitszeit nicht ausreichend kontrollierbar ist,
vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung zutreffend wiedergegeben (Art. 31
Abs. 3 lit. a AVIG, Art. 46b AVIV; ARV 1999 Nr. 34 S. 200; Urteile X. vom 5.
November 2001, C 59/01, Erw. 2b, D. AG vom 30. Juli 2001, C 229/00, Erw. 1b,
A. AG vom 17. Januar 2001, C 42/00, Erw. 2b, W. AG vom 11. April 2000,
C 299/99, Erw. 1b).
Hervorzuheben ist Art. 46b Abs. 1 AVIV, wonach die genügende
Kontrollierbarkeit des Arbeitsausfalles eine betriebliche
Arbeitszeitkontrolle voraussetzt. Von dieser formellen Beweisvorschrift
abgewichen werden darf nur, wenn deren Anwendung im Einzelfall überspitzt
formalistisch erscheint, d.h. die prozessuale Formenstrenge exzessiv ist,
durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen
Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer
Weise erschwert oder gar verhindert (BGE 130 V 183 f. Erw. 5.4.1 mit
Hinweisen). Darüber hinaus bleiben Gesetzesanwender und Gericht an die vom
Bundesrat im Rahmen des ihm durch den Gesetzgeber zugestandenen Ermessens
erlassene Verfahrensvorschrift von Art. 46b AVIV gebunden (in diesem Sinne:
Urteil X. vom 5. November 2001, C 59/01). Insbesondere ist es nicht
statthaft, das eigene Ermessen an Stelle desjenigen des Bundesrats zu setzen:
So genügt etwa nicht, einen anderen Lösungsansatz als dem Einzelfall besser
Rechnung tragend zu betrachten.

1.2 Richtig dargelegt hat die Vorinstanz ferner die gesetzlichen Grundlagen
zur Rückforderung von unrechtmässig bezogenen Leistungen (Art. 95 AVIG in
Verbindung mit Art. 25 ATSG; vgl. auch BGE 129 V 110 ff. Erw. 1).
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die rechtskräftig verfügte oder
formlos erfolgte Leistungszusprechung zweifellos unrichtig und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG; vgl. BGE 126
V 23 Erw, 4b, 46 Erw. 2b, 400 Erw. 2b, 122 V 368 Erw. 3 mit Hinweisen).

1.3 Ebenfalls ergänzend ist die Rechtsprechung zu den Voraussetzungen zu
nennen, unter denen ein behördliches Verhalten nach dem Grundsatz von Treu
und Glauben eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung gebietet: Dies
ist der Fall, erstens wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug
auf bestimmte Personen gehandelt hat; zweitens wenn sie für die Erteilung der
betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die
Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;
drittens wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres
erkennen konnte; viertens wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der
Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig
gemacht werden können und fünftens wenn die gesetzliche Ordnung seit der
Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat. Unterbleibt eine Auskunft
entgegen gesetzlicher Vorschrift oder obwohl sie nach den im Einzelfall
gegebenen Umständen geboten war, hat die Rechtsprechung dies der Erteilung
einer unrichtigen Auskunft gleichgestellt (BGE 131 V 480 Erw. 3 mit
zahlreichen Hinweisen).

2.
Trotz Fehlens einer täglich fortlaufend geführten Arbeitszeiterfassung über
die effektiv geleisteten Arbeitsstunden der von der Kurzarbeit betroffenen
Mitarbeiter bezeichnete die Vorinstanz die von der Firma geltend gemachte
Kurzarbeit für innert nützlicher Frist zuverlässig überprüfbar. Zur
Begründung verwies sie in erster Linie auf die in diesem Kleinbetrieb
herrschende Praxis der fixen Arbeitszeiten. Gestützt darauf wie auch die
nachträglich beigebrachten Bestätigungen über Tagesabwesenheiten sei der
Nachweis des Arbeitszeitausfalls hinreichend belegt.

2.1 Wie bereits unter Erw. 1.1 hiervor dargelegt, darf von Art. 46b Abs. 1
AVIV erst abgewichen werden, wenn deren Anwendung im Einzelfall überspitzt
formalistisch erscheint.

2.2 Es mag in Übereinstimmung mit der Vorinstanz durchaus zutreffen, dass in
einem Betrieb wie jenem der Beschwerdegegnerin die Arbeitszeiten fix
vorgegeben sind und sich die Mitarbeiter in aller Regel auch daran halten. Zu
beachten ist indessen die besondere Fallkonstellation, in welcher sich Firmen
mit eingeführter Kurzarbeit ganz allgemein und die im Recht stehende Firma im
Besonderen befinden. Die Arbeitsreserven sind reduziert und es wird nur noch
teilzeitlich gearbeitet. Oftmals werden - wie vorliegend - einzelne
Mitarbeiter oder die gesamte Belegschaft für ganze Arbeitstage vom Erscheinen
am Arbeitsplatz befreit. Umgekehrt sind insbesondere Zulieferbetriebe wie
derjenige der Beschwerdegegnerin gehalten, Aufträge termingerecht zu
erledigen. Auch bei anderen Betrieben ist es zumindest wenig wahrscheinlich,
dass sich der an den übrigen Tagen zu bewältigende Arbeitsanfall jeweils
exakt in den üblicherweise vorgegebenen Tagesarbeitsstunden erledigen lässt.
Denkbar ist, dass gewisse Restarbeiten an einzelnen Tagen über diese
ordentliche Tagesarbeitszeit hinaus zum Abschluss gebracht werden, damit die
Arbeit nicht doch am Folgetag zum Beispiel einzig für eine Arbeitsstunde
wieder aufgenommen werden muss. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. Aus
diesem Grund kommt der in Art. 46b Abs. 1 AVIV geforderten
Arbeitszeitkontrolle als beweismässige Anspruchsvoraussetzung auch im
vorliegenden Fall durchaus ihre Berechtigung zu. Nachträglich beigebrachte
Bestätigungen von Arbeitnehmern über die Arbeitszeiten dagegen sind nicht
gleichwertig. Die Kontrollierbarkeit des Arbeitsausfalles gemäss Art. 31 Abs.
3 lit. a AVIG ist dadurch nicht gewährleistet (ARV 1999 Nr. 34 S. 200; sodann
neueren Datums: Urteile H. AG vom 19. August 2004, C 64/04, Erw. 2.1, und
B. AG vom 10. März 2003, C 61/01, Erw. 2). Insoweit kann nicht von einer
überspitzt formalistischen Vorgehensweise der Verwaltung gesprochen werden,
wenn sie in Nachachtung von Art. 46b Abs. 1 AVIV wegen der fehlenden
betrieblichen Arbeitszeitkontrolle den Arbeitszeitausfall für nicht
hinreichend kontrollierbar bezeichnete.

2.3 Vielmehr müssen bei dieser Ausgangslage die Verfügungen, mit denen der
Beschwerdegegnerin für die Zeit vom März bis Dezember 2003
Kurzarbeitsentschädigung ausgerichtet worden sind, als zweifellos unrichtig
bezeichnet werden; da die zugesprochenen Beträge in der Höhe von insgesamt
Fr. 82'259.15 zudem erheblich sind, hat eine Rückerstattung zu erfolgen.

3.
Die Vorinstanz erwog in ihrem Entscheid die Möglichkeit einer vom materiellen
Recht abweichende Behandlung wegen unzureichender Auskunfterteilung durch die
Verwaltung. Dazu nahm sie aber nicht abschliessend Stellung.

3.1 Der Firmeninhaber wurde bei der kantonalen Amtsstelle anlässlich der
Gesuchseinreichung um Kurzarbeitsentschädigung vorstellig und liess sich die
von ihm auszufüllenden Formulare erklären. Der Sachbearbeiter der Amtsstelle
orientierte ihn dementsprechend, ohne indessen ausdrücklich auf die Pflicht
zur Führung einer betrieblichen Arbeitszeitkontrolle hinzuweisen.

3.2 Das seco weist zu Recht darauf hin, dass einer über die konkrete
Fragestellung hinausgehenden allgemeinen Informationspflicht zur
Arbeitszeitkontrolle gemäss Art. 27 Abs. 1 ATSG mit der Abgabe der
Informationsbroschüre "Kurzarbeitsentschädigung", Ausgabe 2003, genüge getan
ist (ebenso Urteil H. vom 26. Oktober 2005, C 114/05, Erw. 3). In Ziffer 6
dieses Merkblattes ist das gesetzliche Erfordernis der Bestimm- und
Kontrollierbarkeit des Arbeitszeitausfalls entsprechend Art. 46b Abs. 1 AVIV
dahingehend konkretisiert, dass dies eine betriebliche Arbeitszeitkontrolle
(z.B. Stempelkarten, Stundenrapporte) voraussetze; in Ziff. 12 findet sich
sodann der Hinweis, dass die Arbeitgeber alle betrieblichen Unterlagen
während fünf Jahren aufzubewahren und auf Verlangen der Ausgleichsstelle
vorzulegen haben.

3.3 Zwar wäre es wünschenswert, diese Hinweise angesichts ihrer Bedeutung für
die in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen befindlichen Arbeitgeber in
der Broschüre speziell hervorzuheben und allenfalls den Begriff der
betrieblichen Arbeitszeitkontrolle mit "täglich fortlaufend geführter
Arbeitszeitkontrolle" näher zu umschreiben. Auch wäre es sinnvoll, zusätzlich
den im Antragsformular für Kurzarbeitsentschädigung unter der Rubrik "Nicht
anspruchsberechtigte Arbeitnehmer" angebrachten Hinweis auf den fehlenden
Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung bei nicht ausreichend kontrollierbarer
Arbeitszeit mit einem Verweis auf die geforderte Arbeitszeitkontrolle zu
präzisieren. Ebenfalls könnten die auf der Rückseite des Formulars
"Entscheide betreffend Kurzarbeitsentschädigung" bereits angebrachten
"wichtige(n) Hinweise" mit der Erwähnung der Pflicht des Arbeitgebers, alle
betrieblichen Unterlagen, einschliesslich der täglich fortlaufend zu
führenden Arbeitszeitkontrolle, während fünf Jahren aufzubewahren und auf
Verlangen vorzulegen, ergänzt werden. Dadurch könnten möglicherweise vermehrt
Rückforderungen vermieden werden.

3.4 Dies alles ändert aber nichts daran, dass die Verwaltung mit der Abgabe
der Broschüre der allgemeinen Informationspflicht gemäss Art. 27 Abs. 1 ATSG
in ausreichendem Masse nachgekommen ist. Obwohl die Broschüre einen gewissen
Umfang aufweist, ist deren Lektüre zumutbar. Es liegt in erster Line am
jeweiligen Gesuchsteller, die Informationsbroschüre (und das Antragsformular
für Kurzarbeitsentschädigung) mit der gebotenen Sorgfalt zu lesen und bei
Zweifeln mit konkreten Fragen an die zuständigen Stellen zu gelangen.
Verzichtet er darauf, trägt er die damit verbundenen Nachteile.

3.5 Der Verweis der Vorinstanz auf den Entscheid W. vom 28. Oktober 2005, C
157/05, vermag daran nichts zu ändern. Dieses Urteil bezog sich auf die
arbeitgeberähnliche Stellung von Bezügern von Arbeitslosengeldern. Es wurde
darin festgehalten, dass die Verwaltung gehalten gewesen wäre, einen Bezüger
von Arbeitslosenentschädigungen darüber aufzuklären, dass Personen mit
arbeitgeberähnlicher Stellung keine Ansprüche zustehen. Darin wurde eine
Verletzung der Aufklärungspflicht gemäss ATSG erblickt. Eine solche
Verletzung liegt indessen in casu nicht vor, steht doch fest, dass die
Beschwerdegegnerin im Besitz der genannten Broschüre war.

3.6 Dergestalt bleibt es bei der Feststellung, dass die Rückforderungen
rechtens sind.

4.
Abschliessend sei die Vorinstanz an das bereits im Urteil H. vom 26. Oktober
2005, C 114/05, Gesagte erinnert: Gemäss Art. 4b der Verordnung über die
Kosten und Entschädigung im Verwaltungsverfahren dürfen bei Streitigkeiten
über die Bewilligung oder Verweigerung von Leistungen der Sozialversicherung
- worunter Rückforderungsstreitigkeiten von Kurzarbeitsentschädigungen fallen
- keine Verfahrenskosten erhoben werden, es sei denn, es handle sich um
mutwillige oder leichtfertige Beschwerden. Dies ist bereits beim Erheben
eines Kostenvorschusses zu beachten (a.a.O. Erw. 5).

5.
Das Verfahren ist kostenfrei (e contrario Art. 134 OG). Parteientschädigung
ist keine zu sprechen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
Rekurskommission des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements vom 23.
März 2006 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Eidgenössischen
Volkswirtschaftsdepartements und der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des
Kantons Solothurn zugestellt.

Luzern, 4. September 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: