Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.390/2006
Zurück zum Index Kassationshof in Strafsachen 2006
Retour à l'indice Kassationshof in Strafsachen 2006


{T 0/2}
6S.390/2006 /bri

Urteil vom 8. November 2006
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
Gerichtsschreiber Willisegger.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Reto Leiser,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau.

Zurechnungsfähigkeit (Art. 13 StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, vom 20. Juni 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 2. März 2005 sprach der Präsident I des Bezirksgerichts Aarau
X.________ schuldig der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Beamte (Art. 285
Ziff. 1 StGB), des mehrfachen Hausfriedensbruches (Art. 186 StGB), der
geringfügigen Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 i.V.m. Art. 172ter StGB), der
Drohung (Art. 180 StGB), der mehrfachen Beschimpfung (Art. 177 Abs. 1 StGB)
sowie der mehrfachen Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (Art. 90
Ziff. 1, Art. 99 Ziff. 4 SVG), der mehrfachen Widerhandlung gegen das
Transportgesetz (Art. 51 Abs. 1 TG) und der Widerhandlung gegen Art. 8 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes betreffend Handhabung der Bahnpolizei. Eine
dagegen von X.________ erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons
Aargau mit Urteil vom 20. Juni 2006 ab.

B.
X.________ führt gegen das Urteil des Obergerichts eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben
und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

C.
Das Obergericht hat sich mit Eingabe vom 7. September 2006 zur Beschwerde
vernehmen lassen. Weitere Stellungnahmen wurden nicht eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
In der Nichtigkeitsbeschwerde wird geltend gemacht, die Vorinstanz habe zu
Unrecht darauf verzichtet, die Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers
gemäss Art. 13 StGB zu untersuchen. X.________ werde eine offensichtlich
schwierige Persönlichkeit und ein massives Problem im Umgang mit staatlichen
Autoritäten zugestanden. Gleichwohl sei von einer Begutachtung abgesehen bzw.
mangels Kooperation davon Abstand genommen worden. Seit seiner Jugend leide
er an Schizophrenie, auch wenn er seit längerem ohne ärztliche Betreuung und
Medikamente auskomme. Wenn er seiner Bewegungsfreiheit mit Polizeigewalt
beraubt werde, zeige er unkontrollierte Reaktionen, die typische Folgen
seiner Krankheit seien. Für diese Reaktionen sei er nicht oder nicht voll
schuldfähig.

2.
2.1 Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und
in welchem Umfang das eingereichte Rechtsmittel zulässig ist (BGE 129 IV 216
E. 1, mit Hinweis).

2.2 Im kantonalen Verfahren hat der Beschwerdeführer seine
Zurechnungsfähigkeit nicht angezweifelt. In der Nichtigkeitsbeschwerde wird
zum ersten Mal eine Begutachtung beantragt. Das hindert das Bundesgericht
indessen nicht, auf die Beschwerde einzutreten, soweit sich die Rüge auf
Tatsachen stützen kann, die im kantonalen Verfahren festgestellt wurden. Denn
der Kassationshof wendet Bundesrecht von Amtes wegen an (BGE 102 IV 74 E.
1a). Das Vorbringen neuer Tatsachen hingegen ist im Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b
BStP). Soweit der Beschwerdeführer daher erstmals behauptet, er leide an
Schizophrenie, ist er nicht zu hören.

2.3 Das Obergericht wirft in seiner Stellungnahme unter Verweis auf BGE 127 I
54 E. 2 d die Frage auf, ob die Rüge nicht Treu und Glauben widerspreche und
damit unzulässig sei. Es erscheine sehr fraglich, wenn derselbe Beschuldigte
sich einer Begutachtung zuerst widersetze und später eine solche verlange. Im
erwähnten Entscheid prüfte das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde
hin, ob das Abstellen auf ein Aktengutachten ohne persönliche Untersuchung
zulässig ist, und hat dies unter den gegebenen Umständen bejaht (BGE, a.a.O.,
E. 2 e-g). Im vorliegenden Verfahren ist demgegenüber zu beurteilen, ob es
Art. 13 StGB verletzt, wenn die urteilenden Behörden auf die Erstattung eines
psychiatrischen Gutachtens gänzlich verzichten. Allein der Umstand, dass der
Beschwerdeführer sich der Untersuchung widersetzt hatte, lässt die Rüge nicht
schon als unzulässig erscheinen. Auf die Beschwerde ist somit im dargelegten
Umfang einzutreten.

3.
3.1 Nach Art. 13 Abs. 1 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten
anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der Richter
soll seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa indem er psychiatrische
Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 StGB, dass er
bei Zweifeln einen Sachverständigen beiziehen muss. Art. 13 StGB gilt nicht
nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hat,
sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte (BGE
132 IV 29 E. 5.1 S. 37; 119 IV 120 E. 2a; 116 IV 273 E. 4a; 106 IV 242 E. 1a,
mit Hinweisen). Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen zuzuziehen, ist
erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind, Zweifel
hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein Widerspruch
zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder ein völlig unübliches Verhalten
(BGE 132 IV 29 E. 5.1 S. 38; 116 IV 273 E. 4a).

3.2 Die Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers steht hier mit Bezug auf
die mehrfach verübte Gewalt und Drohung gegen Beamte in Frage. Die
Tatumstände im angefochtenen Urteil lassen ein ungewöhnliches Mass an
körperlicher und verbaler Aggression gegenüber Beamten als Vertreter der
staatlichen Autorität erkennen. Ob diese Umstände geeignet sind, Zweifel
hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit im dargelegten Sinn zu begründen,
kann offen bleiben. Die Vorinstanz schliesst solche Zweifel nicht aus,
sondern hat von der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens Abstand
genommen, weil der Beschwerdeführer sich einer persönlichen Untersuchung
widersetzt hatte.

3.3 Wenn der zu begutachtende Täter sich einer persönlichen Untersuchung
verweigert, ist zu prüfen, ob nicht wenigstens ein Aktengutachten Aufschluss
über die Zurechnungsfähigkeit zu geben vermag. Das ist regelmässig der Fall,
wenn bereits in jüngerer Zeit ein oder mehrere Gutachten über den Täter
erstattet worden sind und sich die Grundlagen der Begutachtung nicht
wesentlich geändert haben. Ob sich ein Aktengutachten verantworten lässt, hat
in erster Linie der angefragte Sachverständige zu beurteilen (vgl. BGE 127 I
54 E. 2f). Vorliegend befindet sich kein Gutachten bei den Akten, das sich
über den Geisteszustand des Beschwerdeführers ausspricht. Auch seine
Krankheitsgeschichte konnte nicht angefordert werden, nachdem er die
Entbindung der ihn früher behandelnden Psychiater vom ärztlichen Geheimnis
verweigert hatte. Aufgrund der fehlenden Informationen sah sich der
Sachverständige ausser Stande, eine fachgerechte psychiatrische Beurteilung
vorzunehmen. Die Vorinstanz hat daher ohne Bundesrecht zu verletzen auf die
Einholung eines Gutachtens verzichtet.

4.
Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich demnach als unbegründet und ist
abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die
bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann nicht bewilligt werden, weil das
Rechtsbegehren des Beschwerdeführers von vornherein aussichtslos war (Art.
152 Abs. 1 OG). Den angespannten finanziellen Verhältnissen ist mit einer
reduzierten Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2006

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: