Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.486/2006
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{T 0/2}
5P.486/2006 /bnm

Urteil vom 16. Januar 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Zbinden.

X. ________, Kosovo,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Suppiger, Postfach, 6000 Luzern 5,

gegen

Obergericht des Kantons Luzern, Postfach, 6002 Luzern.

Art. 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Rechtspflege im Unterhaltsprozess),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern vom 30. Oktober 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 22. Dezember 1992 stellte das Amtsgericht Luzern-Land fest,
dass X.________ Vater der am 27. Oktober 1992 geborenen Y.________ sei, und
verpflichtete ihn zu monatlichen, indexierten Unterhaltszahlungen von Fr.
300.--.

B.
B.aAm 12. Mai 2006 reichte X.________ (Gesuchsteller) ein Aussöhnungsgesuch
ein und stellte den Antrag, den Unterhaltsbeitrag an die Tochter Y.________
aufzuheben. Ausserdem beantragte er, ihm sei für den Unterhaltsprozess die
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. Im Anschluss an
die Verhandlung vom 5. September 2006, die zu keiner Einigung der Parteien
führte, stellte die Instruktionsrichterin des Amtsgerichts Luzern-Land mit
Entscheid vom 14. September 2006 einen Weisungsschein aus, wies den Antrag
des Gesuchstellers um unentgeltliche Rechtspflege ab und auferlegte ihm die
herabgesetzten Kosten von Fr. 200.--.

B.b Der Gesuchsteller rekurrierte an das Obergericht des Kantons Luzern,
welches sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für den beim Amtsgericht
hängigen Abänderungsprozess mit Entscheid vom 30. Oktober 2006 wegen
fehlender Bedürftigkeit abwies und ihm die erst- und zweitinstanzlichen
Kosten von gesamthaft Fr. 400.-- auferlegte.

C.
Der Gesuchsteller führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den
Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern aufzuheben, ihm für den Prozess
betreffend Aufhebung der Unterhaltsbeiträge an seine Tochter die
vollumfängliche unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und einen amtlichen
Rechtsbeistand zu ernennen. Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht er
ebenfalls um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Obergericht beantragt, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf einzutreten sei. Der Beschwerdeführer hat sich am 13. Dezember 2006
zur Stellungnahme des Obergerichts vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht in Kraft
getreten (BGG; SR 173.110; AS 2006 1205, 1243). Der angefochtene Entscheid
ist vorher ergangen, so dass noch die Bestimmungen des
Bundesrechtspflegegesetzes anzuwenden sind (vgl. Art. 132 Abs. 1 BGG). Die
vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist von der II. Zivilrechtlichen
Abteilung zu beurteilen (Art. 32 Abs. 1 lit. c des Reglementes vom 20.
November 2006 für das Bundesgericht; BgerR; SR 173.110.131).

2.
2.1 Die staatsrechtliche Beschwerde ist, von hier nicht gegebenen Ausnahmen
abgesehen, ausschliesslich kassatorischer Natur (allgemein: BGE 126 III 534
E. 1c S. 536 f. mit Hinweisen; mit Bezug auf die unentgeltliche Rechtspflege:
BGE 104 Ia 31 E. 1). Soweit der Beschwerdeführer mehr als die Aufhebung des
Entscheides der letzten kantonalen Instanz verlangt, kann demnach auf die
staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden.

2.2 Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde sind neue tatsächliche und
rechtliche Vorbringen (BGE 114 Ia 204 E. 1a S. 205; 118 Ia 20 E. 5a S. 26;
127 I 145 E. 5c/aa S. 160) sowie neue Beweismittel grundsätzlich unzulässig
(BGE 108 II 69 E. 1 S. 71; BGE 128 I 354 E. S. 357 f.; 129 I 49 E. 3 S. 57).
Im Übrigen prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und
soweit möglich belegte Rügen (Rügeprinzip). Auf ungenügend begründete Rügen
und rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein
(BGE 125 I 492 E 1b S. 495; 127 III 279 E. 1c S. 282). Soweit der
Beschwerdeführer den vorgenannten Anforderungen nicht genügt, kann auf die
staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden. Dies gilt insbesondere
für die Behauptung, im angefochtenen Entscheid sei der Unterhaltsbeitrag für
die Tochter Y.________ von monatlich Fr. 310.-- nicht berücksichtigt worden
(act. 1, S. 4, 4.). Nach den unbestrittenen Feststellungen des Obergerichts
(act. 8, S. 1, letzter Absatz; act. 10) hat die Instruktionsrichterin die
Unterhaltsbeiträge für Y.________ bei der Notbedarfsrechnung nicht
berücksichtigt, was der Beschwerdeführer vor Obergericht nicht beanstandet
hat. Das in der staatsrechtlichen Beschwerde erstmals erörterte Vorbringen
erweist sich damit als neu und unzulässig. Entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers (act. 10) befreit ihn die dem Obergericht obliegende freie
Prüfung der Voraussetzungen für die unentgeltliche Rechtspflege nicht davon,
sein Gesuch zu substanziieren (vgl. BGE 120 Ia 179 E. 3a S. 181; 123 III 328
E. 3 S. 329; 124 V 234 E. 4b/bb S. 239). Der Beschwerdeführer bezeichnet
überdies auch keine kantonale Norm, welche das Obergericht im Rahmen des
Rekursverfahrens dazu verpflichtet hätte, die entsprechenden
Unterhaltsbeiträge von Amtes wegen zu berücksichtigen. Sodann behauptet der
Beschwerdeführer auch nicht rechtsgenüglich, im kantonalen Verfahren die
regelmässige Erfüllung seiner Unterhaltspflicht gegenüber Y.________ belegt
zu haben.

3.
Der Beschwerdeführer sieht eine Verletzung seines verfassungsmässigen
Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV) darin, dass das
Obergericht ihn für die Kosten des Abänderungsprozesses nicht als bedürftig
betrachtet hat.

3.1 Nach der Rechtsprechung zu Art. 4 aBV, die sich ohne weiteres auf Art. 29
Abs. 3 BV übertragen lässt, gilt als bedürftig, wer die Kosten eines
Prozesses nicht aufzubringen vermag, ohne die Mittel anzugreifen, deren er
zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes für sich und seine Familie
bedarf. Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten
wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung
des Gesuchs. Dazu gehören einerseits sämtliche finanziellen Verpflichtungen,
anderseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 120 Ia 179 E. 3a
S. 181; 124 I 1 E. 2a S. 2, je mit Hinweisen). Bei der Ermittlung des
notwendigen Lebensunterhaltes soll nicht schematisch auf das
betreibungsrechtliche Existenzminimum abgestellt, sondern den individuellen
Umständen Rechnung getragen werden. Ein allfälliger Überschuss zwischen dem
zur Verfügung stehenden Einkommen und dem Zwangsbedarf der Gesuch stellenden
Partei ist mit den für den konkreten Fall zu erwartenden Gerichts- und
Anwaltskosten in Beziehung zu setzen (BGE 118 Ia 369 E. 4a S. 370 f.); dabei
sollte es der monatliche Überschuss ihr ermöglichen, die Prozesskosten bei
weniger aufwendigen Prozessen innert eines Jahres, bei anderen innert zweier
Jahre zu tilgen. Entscheidend ist zudem, ob die Gesuch stellende Partei mit
dem ihr verbleibenden Überschuss in der Lage ist, die anfallenden Gerichts-
und Anwaltskostenvorschüsse innert absehbarer Zeit zu leisten (BGE 109 Ia 5
E. 3a S. 9 mit Hinweisen; 118 Ia 369 E. 4a S. 370). Das Bundesgericht prüft
frei, ob die Kriterien zur Bestimmung der Bedürftigkeit zutreffend gewählt
worden sind, während seine Kognition in Bezug auf die tatsächlichen
Feststellungen der kantonalen Behörde auf Willkür beschränkt ist (BGE 119 Ia
11 E. 3a S. 12 mit Hinweis).

3.2 Das Obergericht hat dem Beschwerdeführer als entscheidrelevantes
monatliches Einkommen seine persönliche SUVA-Rente von Fr. 998.--, die
IV-Kinderrenten für drei seiner im Kosovo lebenden Kinder im Betrag von Fr.
159.-- (3 x Fr. 53.--), sowie die Sozialhilfe der im Kosovo lebenden Ehefrau
im Betrag von Fr. 55.-- pro Monat (35 Euro bei einem Umwandlungssatz von Fr.
1.55/Euro) und somit ein Gesamteinkommen von Fr. 1'212.-- angerechnet.

Der Beschwerdeführer ist im Kosovo verheiratet und Vater von acht im
gemeinsamen Haushalt der Familie lebenden Kindern, von denen zum Zeitpunkt
des Gesuchs vier volljährig waren (act. 2 Beleg Amtsgerichtskanzlei
A.________ Nr. 3). Er kommt für den Unterhalt der volljährigen, aber
arbeitslosen Kinder auf (act. 7 S. 4). Mit Bezug auf die Ausgaben steht
aufgrund des obergerichtlichen Entscheides unangefochten fest, dass dem
Beschwerdeführer im Kosovo weder Wohnungskosten noch Krankenkassenprämien
noch Steuern anfallen. Das Obergericht hält dafür, dem Beschwerdeführer
könnten keine Grundbeträge für die in seinem Haushalt lebenden, erwachsenen
Kinder angerechnet werden, zumal sich diese Kinder je nach ihren finanziellen
Verhältnissen an den Lebenshaltungskosten des Beschwerdeführers zu beteiligen
hätten. Dieser belege nicht, dass er für seine volljährigen Kinder nicht nur
aufgrund einer sittlichen, sondern aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung
aufkomme. Dem Beschwerdeführer sei daher der von der Vorinstanz noch erhöhte
Grundbetrag von 400 Euro bzw. Fr. 620.-- (bei einem Umwandlungssatz von Fr.
1.55 pro Euro) anzurechnen, womit dem Umstand Rechnung getragen werde, dass
er seine erwachsenen arbeitslosen Kinder unterstütze. Bei einem Zuschlag von
20% ergäben sich anrechenbare Auslagen von Fr. 744.-- pro Monat (Fr. 620
Fr. 124.--).

Bei einem Gesamteinkommen von Fr. 1'212.-- und Auslagen von Fr. 744.--
verbleibe dem Beschwerdeführer ein Betrag von Fr. 468.--, mit dem er unter
Berücksichtigung des nicht mehr allzu grossen Prozessaufwandes die
anfallenden Gerichts- und Anwaltskosten innert eines Jahres tilgen könne
(act. 7, S. 3 f., 3.2 und 3.3).
3.3 Zur Begründung seines Vorwurfs der Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV macht
der Beschwerdeführer geltend, die Berechnung des Obergerichts sei nicht
zulässig, Die drei IV-Kinderrenten von gesamthaft Fr. 159.-- seien für den
Unterhalt der im Kosovo lebenden drei Kinder bestimmt und könnten daher
ebenso wenig berücksichtigt werden wie der Sozialhilfebeitrag für die Ehefrau
von Fr. 55.-- pro Monat. Nach dem obergerichtlichen Entscheid beliefen sich
die Lebenshaltungskosten für eine im Kosovo lebende Familie von 6,3 Personen
auf 340 Euro, was im vorliegenden Fall insofern nicht den Verhältnissen
entspreche, als er für eine zehnköpfige Familie aufzukommen habe. Die ihm
effektiv entstehenden Auslagen würden mit dem vom Obergericht
(fälschlicherweise) berücksichtigten Einkommen von Fr. 1'212.-- knapp
gedeckt. Er gelte damit als bedürftig, zumal die bei der Berechnung
berücksichtigten Sozialbeiträge für die Ehefrau und die drei Kinder nicht
berücksichtigt werden dürften.

3.4 Das Obergericht schliesst eine Berücksichtigung der moralischen
Unterstützungspflicht des Beschwerdeführers gegenüber seinen erwachsenen
arbeitslosen Kindern, die im gemeinsamen Haushalt leben, nicht schlechthin
aus und erachtet auch als glaubhaft gemacht, dass er seine volljährigen
Kinder unterstützt, setzt es doch für die besagte Unterstützung einen Betrag
von 60 Euro ein (400 - 340 Euro). Es anerkennt auch, dass den
Beschwerdeführer eine entsprechende sittliche Pflicht trifft (E. 3.2). Dass
eine moralische Unterstützungspflicht im Rahmen der unentgeltlichen
Rechtspflege zu berücksichtigen ist, entspricht geltender Rechtsprechung (BGE
106 III 11 E. 3c S. 16). Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass
das Obergericht der durch die moralische Pflicht entstehenden finanziellen
Belastung mit einem Betrag von 60 Euro nicht in einer der Rechtsprechung zu
Art. 29 Abs. 3 BV entsprechenden Weise Rechnung getragen hat. Der
angefochtene Entscheid geht von einem Haushalt von 6,3 Personen aus, obwohl
im vorliegenden Fall eine Familie von insgesamt zehn Personen (der
Beschwerdeführer, seine Ehefrau und acht Kinder) betroffen ist. Wird von dem
für eine Familie von 6,3 Personen bestimmten Betrag von 340 Euro bzw. von
rund 54 Euro pro Person ausgegangen, beläuft sich der zu berücksichtigende
Aufwand für eine Familie von zehn Personen auf rund 540 Euro, was bei einem
Umrechnungssatz von Fr. 1.55 pro Euro einen Betrag von Fr. 837.-- ausmacht.
Nicht bestritten ist vorliegend ein Zuschlag von 20%, womit sich ein Bedarf
von Fr. 1'004.-- ergibt. Bei dem vom Obergericht angenommenen Einkommen von
Fr. 1'212.-- verbleibt dem Beschwerdeführer somit nur gerade ein für die
Kosten des Prozesses reservierter Betrag von Fr. 208.-- pro Monat. Das
Obergericht verweist auf den nicht mehr allzu grossen Prozessaufwand. Im
vorliegenden Fall wurde erst der Weisungsschein ausgestellt, wobei für dieses
Verfahren allein schon Gerichtskosten von Fr. 200.-- (erstinstanzliche
Kosten) aufgelaufen sind, zu denen noch die Anwaltskosten hinzukommen.
Hinzuzurechnen sind nunmehr aber auch noch die Kosten der nach Ausstellung
des Weisungsscheines einzureichenden Klage (§ 195 ZPO) sowie die Kosten der
Verhandlung und des Urteils in der Sache, womit der Beschwerdeführer mit dem
zuvor errechneten Überschuss von Fr. 208.-- pro Monat nicht in der Lage ist,
den finanziellen Aufwand des Abänderungsverfahrens innert eines Jahres zu
tragen. Das Obergericht hat demnach die Bedürftigkeit zu Unrecht verneint.
Ist der Beschwerdeführer aber bereits im Lichte des vom Obergericht
ermittelten Einkommens als bedürftig anzusehen, erübrigen sich Erörterungen
darüber, ob es ein zu hohes Einkommen berücksichtigt hat. Auf die
entsprechenden Ausführungen ist nicht weiter einzugehen.

4.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten
werden kann, und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang
des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton
Luzern hat den Beschwerdeführer jedoch für die Umtriebe des
bundesgerichtlichen Verfahrens zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

5.
Mit der vorliegenden Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch des
Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist, und der Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 30. Oktober
2006 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Luzern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons
Luzern schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: