Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.41/2006
Zurück zum Index II. Zivilabteilung 2006
Retour à l'indice II. Zivilabteilung 2006


5P.41/2006 /blb

Urteil vom 17. Februar 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Marazzi,
Gerichtsschreiber Schett.

X. ________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Blum,

gegen

Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, Fünfeckpalast,
Postfach 161, 9043 Trogen.

Art. 29 BV (unentgeltliche Rechtspflege im Rekursverfahren betreffend
Erteilung einer Betriebsbewilligung an eine Pflegefamilie),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Verwaltungsgerichts von Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, vom 19.
Dezember 2005.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Januar 2003 beschloss die Vormundschaftsbehörde V.________, X.________
im Rahmen von Kindesschutzmassnahmen gestützt auf Art. 310 ZGB bei der
Pflegefamilie F.________, damals wohnhaft in K.________, unterzubringen. Sie
verfügte gleichzeitig, dass X.________ dort ohne Zustimmung der
Vormundschaftsbehörde weder weggehen noch weggenommen werden dürfe. Im
Verlauf des Jahres 2004 zog die Familie F.________ einschliesslich der drei
von ihnen betreuten Personen, darunter der Beschwerdeführer, nach L.________.
Am 6. August 2004 reichte die Familie F.________ bei der kantonalen
Heimaufsicht ein Gesuch um Erteilung einer Betriebsbewilligung für eine
Pflegefamilie/Familienwohngemeinschaft mit maximal vier Personen in
L.________ ein. Mit Verfügung vom 16. Oktober 2004 wies die
Gesundheitsdirektion AR das Gesuch ab und verweigerte die nachgesuchte
Bewilligung. In Ziffer 2 der Verfügung ordnete sie an, dass die
Betreuungsverhältnisse mit den gegenwärtig betreuten Personen möglichst
rasch, spätestens aber bis Ende 2004 aufzulösen seien und in Ziffer 3 entzog
sie einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

B.
Gegen die Ziffern 2 und 3 wandte sich X.________, vertreten durch einen
Rechtsanwalt, mit Rekurs vom 1. November 2004 an den Regierungsrat des
Kantons Appenzell Ausserrhoden und stellte gleichzeitig ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege. Ziffer 1 wurde rechtskräftig. Die Familie
F.________ zog in der Folge mit X.________ von L.________ weg und liess sich
in M.________ nieder. Der Regierungsrat schrieb daher den Rekurs mit
Beschluss vom 9. August 2005 wegen Gegenstandslosigkeit ab. Mit separater
Verfügung vom 9. August 2005 wies der Regierungsrat das Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung ab und verzichtete auf das Erheben
einer Staatsgebühr. Eine gegen diesen Entscheid betreffend die unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung gerichtete Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht am 19. Dezember 2005 ab.

C.
Gegen diesen Entscheid hat X.________ staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit
dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Zudem hat er ein
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung eingereicht. Das
Verwaltungsgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet und auf seine
Ausführungen im angefochtenen Entscheid verwiesen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV. Nach dieser
Bestimmung hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt,
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht
aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat
sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Die kantonalen
Behörden haben das Gesuch ausschliesslich wegen Aussichtslosigkeit
abgewiesen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Prozessbegehren
als aussichtslos anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos,
wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder
jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die
über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger
Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde; eine Partei soll einen
Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht
deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet. Ob im Einzelfall
genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich nach den Verhältnissen
zur Zeit, in der das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird (BGE
128 I 225 S. 236 mit Hinweisen).

1.1 Der Regierungsrat führte zur Begründung seines ablehnenden Entscheids
aus, auf den Rekurs hätte mangels Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers
nicht eingetreten werden können, wenn der Rekurs nicht durch Wegzug des
Beschwerdeführers aus dem Kanton gegenstandslos geworden wäre. Der
Beschwerdeführer sei nämlich bei Einreichung des Rekurses noch nicht mündig
gewesen, so dass sich die Frage seiner Prozessfähigkeit stelle. Die
Prozessfähigkeit sei die prozessuale Seite der Handlungsfähigkeit im Sinne
von Art. 12 ZGB. Unmündige Personen seien daher in der Regel nicht
prozessfähig. Es treffe zwar zu, dass handlungsunfähige Personen gemäss Art.
19 Abs. 2 ZGB ohne Zustimmung des Inhabers der elterlichen Sorge Rechte
auszuüben vermögen, die ihnen um ihrer Persönlichkeit Willen zustünden. Für
die Geltendmachung höchstpersönlicher Rechte komme den urteilsfähigen
Unmündigen eine beschränkte Handlungs- bzw. Prozessfähigkeit zu, womit sie
Prozesse über solche Rechte selbst oder durch selbsternannte Vertreter führen
könnten. Im vorliegenden Fall sei nicht ersichtlich, auf welches
höchstpersönliche Recht sich der Beschwerdeführer berufen könne. Mit Ziffer 2
des Dispositivs der Verfügung der Gesundheitsdirektion werde nur
festgehalten, dass das Obhutsverhältnis zwischen dem Ehepaar F.________ und
den sich bei ihnen befindlichen Personen aufgelöst werden solle. Das Ehepaar
F.________ werde angewiesen, den Vertrag mit der für die Obhut zuständigen
Vormundschaftsbehörde aufzulösen. Selbst wenn diese Ziffer rechtswidrig sein
sollte, folge daraus nicht ohne weiteres, dass der Beschwerdeführer zur
Erhebung eines Rechtsmittels legitimiert gewesen wäre. Denn legitimiert sei
nur der Träger des Rechts, welches verletzt sei. Zuständig für die Obhut des
Beschwerdeführers, bzw. seine Platzierung in einer geeigneten Institution sei
nämlich die Vormundschaftsbehörde V.________. Ihr alleine stehe das Recht zu,
über die Obhut des Beschwerdeführers zu entscheiden. Da dem Beschwerdeführer
dieses Recht nicht zukomme, komme ihm auch die Prozessfähigkeit nicht zu, so
dass er nicht befugt sei, ein Rechtsmittel einzulegen.

1.2 Das Verwaltungsgericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden widersprach dem
Regierungsrat insofern, als es ausführte, dass das urteilsfähige Kind gegen
Obhutsentscheide, bzw. gegen Kindesschutzmassnahmen generell selbständig
Rechtsmittel einlegen könne. Weder im Verfahren vor der Gesundheitsdirektion
noch im Rekursverfahren vor dem Regierungsrat sei es aber um
Kindesschutzmassnahmen im Sinne von Art. 307 ff. ZGB gegangen. Zur Anordnung
von Kindesschutzmassnahmen gegenüber dem Beschwerdeführer seien
ausschliesslich die vormundschaftlichen Behörden im Kanton Zürich zuständig.
Im appenzellischen Bewilligungsverfahren nach Art. 14bis des
Gesundheitsgesetzes sei der Beschwerdeführer nicht beteiligt. Die
Gesundheitsdirektion habe in Ziffer 2 ihrer Verfügung vom 16. Oktober 2004
keine Kindesschutzmassnahmen angeordnet und habe auch keine solchen anordnen
dürfen. Soweit ihre Verfügung dem Beschluss der Vormundschaftsbehörde
V.________ vom 30. Januar 2003 widerspreche, sei sie geradezu nichtig. Die
Vormundschaftsbehörde habe den Beschwerdeführer seinerzeit in der
Pflegefamilie F.________ untergebracht. Daran habe die Gesundheitsdirektion
nichts zu ändern vermocht und ein Rekurs des nicht beteiligten X.________ sei
nicht notwendig gewesen. Die Gesundheitsdirektion habe ihm daher die
Verfügung auch nicht eröffnet. Es sei zuzugeben, dass Ziffer 2 der
erstinstanzlichen Verfügung insofern missverständlich sei, als daraus
herausgelesen werden könnte, das Ehepaar F.________ habe aufgrund der
Verfügung das Pflegeverhältnis zum Beschwerdeführer zu beenden. Den
Beteiligten habe bei näherem Hinsehen allerdings nicht verborgen bleiben
können, dass die von der Vormundschaftsbehörde angeordneten
Kindesschutzmassnahmen von der Ziffer 2 der Verfügung keinesfalls betroffen
sein konnten. In diesem Sinne sei der Beschwerdeführer von der Verfügung der
Gesundheitsdirektion nicht betroffen, weshalb er zum Rekurs an den
Regierungsrat nicht legitimiert gewesen sei. Auf seinen Rekurs hätte der
Regierungsrat, wäre er nicht gegenstandslos geworden, nicht eintreten können.
In diesem Sinne sei der Rekurs aussichtslos gewesen.

1.3 Die unterschiedliche, für einen juristischen Laien zudem nicht leicht
nachvollziehbare Argumentation der beiden kantonalen Instanzen zeigt ohne
weiteres auf, dass das Beschwerdeverfahren nicht aussichtslos war. Während
der Regierungsrat der Sache nach meinte, der Beschwerdeführer sei als damals
(urteilsfähiger) Minderjähriger nicht befugt gewesen, Ziffer 2 des
Dispositivs der Verfügung der Gesundheitsdirektion anzufechten, mit der das
Obhutsverhältnis zwischen dem Ehepaar F.________ und den sich bei ihnen
befindlichen Personen aufgelöst werden sollte, erachtete das
Verwaltungsgericht den urteilsfähigen Unmündigen zwar als befugt, gegen
Obhutsentscheide Rechtsmittel zu ergreifen, es betrachtete Ziffer 2, soweit
damit das Obhutsverhältnis zwischen dem Ehepaar F.________ und den sich bei
ihnen befindlichen Personen aufgelöst werden sollte, aber als derart
rechtswidrig, dass sie geradezu nichtig sei. Richtig ist, dass Ziffer 2 in
die Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde eingreift (Art. 310 Abs. 1 ZGB)
und daher rechtswidrig ist, so dass der Beschwerdeführer hinreichend Grund
und Anlass hatte, diese anzufechten, und richtig ist auch, dass der
urteilsfähige Unmündige gegen Obhutsentscheide Beschwerde führen kann (BGE
120 Ia 369 E. 1 S. 371). Der Beschwerdeführer weist mit Recht darauf hin,
dass ihm bei Nichtbeachtung der Ziffer 2 der erstinstanzlichen Verfügung
durch seine Pflegefamilie die Entfernung aus deren Obhut gedroht hätte. Wie
ausgeführt, sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung
massgeblich. Es liegt auf der Hand, dass er auch angesichts der Haltung der
Gesundheitsdirektion und anschliessend des Regierungsrates nicht darauf
vertrauen durfte, dass die kantonalen Vollzugsbehörden ohne weiteres auf
Nichtigkeit erkannt und Ziffer 2 nicht vollzogen hätten, wenn er sie nicht
angefochten hätte und die Familie F.________ im Kanton Appenzell Ausserrhoden
geblieben wäre. Die staatsrechtliche Beschwerde ist gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben.

2.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs.
2 OG) und der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG). Das vor
Bundesgericht gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung wird gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
1.1 Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts von Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, vom 19.
Dezember 2005 wird aufgehoben.

1.2 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos
abgeschrieben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Verwaltungsgericht von
Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Februar 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: