Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.393/2006
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{T 0/2}
5P.393/2006/fco

Urteil vom 8. November 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Zbinden.

X. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Burges,

gegen

Obergericht des Kantons Bern, kantonale Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen, Postfach 7475, 3001 Bern.

Art. 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Verbeiständung im Verfahren betreffend
fürsorgerische Freiheitsentziehung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Bern, kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen,
vom 15. August 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a X.________ (Beschwerdeführerin) leidet an einer polymorph psychotischen
Störung mit gelegentlichen Symptomen einer schizophrenen Erkrankung und war
deswegen bereits mehrfach gestützt auf Art. 397a Abs. 1 ZGB in Anstalten
eingewiesen worden, dies namentlich auch im Juli 2005, nachdem sie ihre
Mutter mit dem Tod bedroht hatte.

A.b Nach ihrem Austritt aus der Klinik (18. Mai 2005) erfolgte eine
medikamentöse Behandlung (2-wöchentliche Injektionen) der Beschwerdeführerin
in der Praxis des behandelnden Arztes. In der Folge verweigerte sie weitere
Injektionen und nahm auch die verschriebenen Tabletten nicht mehr regelmässig
ein.

B.
B.aNachdem die Beschwerdeführerin gegen weitere Personen Drohungen
ausgestossen hatte, ordnete die Regierungsstatthalterin II von Bern am 2.
August 2006 ihre vorläufige, auf sechs Wochen befristete Zurückbehaltung in
einer Anstalt zwecks ergänzender Begutachtung an.

B.b Mit Eingabe vom 3. August 2006 erhob Rechtsanwalt Burges namens der
Beschwerdeführerin fristgerecht Rekurs mit dem Antrag, sie unter Auflage
einer regelmässigen Depotmedikation sofort aus der Anstalt zu entlassen und
ihr für das Verfahren die unentgeltliche Prozessführung unter Beiordnung
eines amtlichen Anwalts zu gewähren. Mit Urteil vom 15. August 2006 wies das
Obergericht des Kantons Bern, kantonale Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen, den Rekurs ab. Nicht stattgegeben wurde ebenso dem
Gesuch um Beiordnung eines unentgeltlichen Beistandes (Ziff. 3) mit der
Begründung, die anwaltliche Verbeiständung habe sich nicht als notwendig
erwiesen.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV
beantragt die Beschwerdeführerin, den Entscheid des Obergerichts vom 15.
August 2006 aufzuheben und ihr für das bundesgerichtliche Verfahren die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Obergericht hat auf
Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts
vom 15. August 2006. Aus der Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde
ergibt sich indes, dass sie sich einzig gegen die Verweigerung des
unentgeltlichen Rechtsbeistands wendet. Aufgrund des anhand der Begründung
ausgelegten Antrages richtet sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde
somit einzig gegen Ziff. 3 des angefochtenen Urteils (BGE 99 II 176 E. 2 S.
180/81; Poudret/ Sandoz-Monod, Commentaire de la loi fédérale d'organisation
judiciaire, Band II, S. 419, N. 1.4.1., S. 421, N. 1.4.1.3.).

2.
Zur Begründung für die Abweisung des Gesuchs um einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand führt das Obergericht an, gemäss Art. 397f Abs. 2 ZGB bestelle
der Richter der betroffenen Person einen Beistand, wenn sich dies als
notwendig erweise. Dabei spiele die finanzielle Situation der betroffenen
Person keine Rolle; in dem in formeller Hinsicht sehr einfach gestalteten,
von der Offizialmaxime beherrschten Verfahren betreffend fürsorgerische
Freiheitsentziehung gebe es keine unentgeltliche Prozessführung, seien doch
auch gesundheitlich ziemlich schwer beeinträchtigte Personen in der Lage,
über die wenigen, aber für die Entlassung aus der Anstalt wesentlichen
Gesichtspunkte Auskunft zu geben und ihre Vorstellungen zu äussern. Dass die
betroffene Person an einem geistigen Gebrechen leide und die Versorgung in
einer Anstalt schwer in ihre Rechte eingreife, lasse die amtliche
Verbeiständung nicht als notwendig erscheinen. Vorliegend sei die
Beschwerdeführerin in der Lage gewesen, der Rekursverhandlung zu folgen und
sich klar auszudrücken. Sie habe die ablehnende Haltung gegenüber der
vorgesehenen Massnahme verständlich darlegen können und habe sich
diesbezüglich als völlig urteils- und handlungsfähig erwiesen. Schliesslich
hätten sich keine schwerwiegenden Rechtsfragen gestellt; vielmehr sei es
lediglich um die Feststellung medizinischer Belange und des Sachverhalts
gegangen, wobei der Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären gewesen sei
(Urteil S. 7 f. IV 3. und 4.).

Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe ihren Anwalt noch vor Erlass
der Verfügung der Regierungsstatthalterin vom 2. August 2006 selbst bestellt.
Unverständlich sei daher, weshalb sich das Obergericht mit Art. 397f Abs. 2
ZGB auseinandersetze, werde doch der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
nicht durch 397f Abs. 2 ZGB, sondern durch Art. 29 Abs. 3 BV geregelt. Die
fürsorgerische Freiheitsentziehung bedeute einen schweren Eingriff in die
Rechte der betroffenen Person, so dass sich die Bestellung eines Anwalts
schon aus diesem Grund aufdränge. Im vorliegenden Fall gelte es ferner zu
beachten, dass die Beschwerdeführerin bereits viermal Entscheide an die
kantonale Rekurskommission weitergezogen habe, und diese Rekurse stets
abgewiesen worden seien. Angesichts des umfangreichen Aktenmaterials und der
Vorbefasstheit der Mitglieder des Obergerichts habe sich eine Verbeiständung
als notwendig erwiesen. Für eine amtliche Verbeiständung sprächen ferner der
im Urteil geschilderte, sehr schlechte Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin, der Umstand, dass der Beschwerdeführerin jeglicher
Zeitbegriff abhanden gekommen sei, ferner die Tatsache, dass der Arzt
befürchtet habe, die Beschwerdeführerin werde sich anlässlich der Einweisung
"daneben benehmen", schliesslich aber auch ihre fehlenden Rechtskenntnisse
(Beschwerde bb S. 9ff. Ziffern 6-9 und 13).

2.1 Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass sich der Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege im allgemeinen und auf einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand im Besonderen nicht aus Art. 397f Abs. 2 ZGB ergibt (vgl. BGE
107 II 314 E. 2; 118 II 248 E. 2 mit Hinweisen). Die Voraussetzungen für die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege werden vielmehr (unter anderem)
durch Art. 29 Abs. 3 BV geregelt, den die Beschwerdeführerin vorliegend
ausdrücklich als verletzt rügt.

2.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV hat die
bedürftige Partei Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre
Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug
eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Dabei fallen neben der
Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts
auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa
seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurecht zu finden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2
S. 232; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51, 275 E. 3a S. 276; 120 Ia 43 E. 2a S. 44 f.
mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen beurteilen sich nicht abstrakt, sondern
anhand der tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalles und der konkreten
Umstände des jeweiligen Verfahrens (Auer/Malinverni/Hottelier, Droit
constitutionnel suisse, Volume II, 2. Aufl. 2006, S. 707 Rz. 1591). Dass das
entsprechende Verfahren von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird,
schliesst die unentgeltliche Verbeiständung - entgegen der Auffassung des
Obergerichts - nicht zwingend aus (BGE 122 II 8; 125 V 32 E. 4b S. 36).
Ein geistiges Gebrechen der betroffenen Person lässt für sich allein noch
nicht auf deren Unfähigkeit schliessen, sich im Verfahren zurecht zu finden.
In den Verfahren betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehungen leiden die
Betroffenen in der Regel an derartigen gesundheitlichen Störungen, wobei sich
aber immer wieder zeigt, dass sie dennoch ihre Rechte im Zusammenhang mit der
Anstaltseinweisung ausreichend wahrnehmen können (Spirig, Zürcher Kommentar,
N. 63 zu Art. 397d ZGB). Ob sich ein unentgeltlicher Rechtsbeistand
aufdrängt, beurteilt sich auch in diesem Zusammenhang nach den Umständen des
konkreten Einzelfalles (Auer/Malinverni/Hottelier, a.a.O., S. 707 Rz. 1591).

Mag die unentgeltliche Verbeiständung in Fällen, wo das Verfahren besonders
stark in die Rechtsstellung der betroffenen Person eingreift, auch als
grundsätzlich geboten bezeichnet worden sein (so namentlich: BGE 119 Ia 264
E. 3b S. 265), macht Art. 397f Abs. 2 ZGB vom Grundsatz generell
erforderlicher Verbeiständung für die fürsorgerische Freiheitsentziehung eine
Ausnahme; er sieht ausdrücklich vor, dass der betroffenen Person nur "wenn
nötig" ein Rechtsbeistand zu bestellen ist.

2.3 Auch wenn nach dem Gesagten eine rechtskundige Verbeiständung im
Verfahren betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung nicht generell
geboten ist, muss angesichts der Schwere des Eingriffs bei Grenz- und
Zweifelsfällen eher zu Gunsten der betroffenen Person entschieden werden. Ein
solcher Fall liegt hier vor:

Klar für die unentgeltliche Verbeiständung der Beschwerdeführerin spricht die
Schwere der bei ihr festgestellten Krankheit. Nach dem angefochtenen Urteil
leidet sie an einer polymorph psychotischen Störung mit gelegentlichen
Symptomen einer schizophrenen Erkrankung, die in den letzten Jahren mehrere
Anstaltseinweisungen erforderlich machte und auch in Zukunft weitere
Behandlungsmassnahmen erheischt. Die Beschwerdeführerin war denn auch
aufgrund ihres krankheitsbedingten Fehlverhaltens aufgefallen, da sie
mehrfach Personen mit dem Tod bedrohte. Erwähnenswert ist in diesem
Zusammenhang insbesondere auch die Tatsache, dass sich der Arzt am 28. Juli
2006 von der Polizei begleiten liess, da er befürchtete, die
Beschwerdeführerin werde sich "daneben benehmen", wenn ihr die Einweisung in
die Anstalt wegen Fremdgefährdung eröffnet werde (angefochtenes Urteil S. 4
III 3.). Die tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit der Krankheit der
Beschwerdeführerin lassen begründete Zweifel daran aufkommen, dass sie -
allein auf sich gestellt - in der Lage gewesen wäre, sich anlässlich der
Verhandlung vor Obergericht den Umständen entsprechend zu verteidigen bzw.
ihre Rechte wahrzunehmen. Dass sich die Beschwerdeführerin klar und
verständlich äusserte, vermag diese Zweifel nicht auszuräumen, hatte sie doch
bereits unmittelbar nach ihrer Einweisung vom 2. August 2006 einen Anwalt mit
der Wahrung ihrer Interessen betraut, welcher Rekurs gegen den verfügten
Freiheitsentzug einlegte und die Beschwerdeführerin überdies an die
Verhandlung begleitete.

3.
Damit ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und Ziff. 3 des
angefochtenen Urteils aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind
keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Bern hat die
Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art.
159 Abs. 2 OG).

4.
Aufgrund der Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch der
Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und Ziff. 3 des Urteils des
Obergerichts des Kantons Bern, kantonale Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen, vom 15. August 2006 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons
Bern, kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: