Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.335/2006
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{T 0/2}
5P.335/2006 /zga

Urteil vom 15. September 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Escher, Hohl,
Gerichtsschreiber Möckli.

X. ________ AG,
Beschwerdeführerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Thomas Gattlen,

gegen

Y.________ SA,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Michael Hunziker,
Obergericht des Kantons Aargau, Zivilgericht, 3. Kammer, Obere Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 9 BV etc. (vorsorgliche Massnahmen, Herausgabe),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht,

3. Kammer, vom 3. August 2006.

Sachverhalt:

A.
Die Y.________ SA (Beschwerdegegnerin) hatte seinerzeit von der X.________ AG
(Beschwerdeführerin) die Pumpe 0.________ erworben und in der Folge an die
Société Z.________ weiterveräussert. Aufgrund von Reparatur- bzw.
Änderungsarbeiten wurde die Pumpe wieder zur Beschwerdeführerin verbracht, wo
sie sich gegenwärtig befindet.

B.
Mit Klage vom 12. Mai 2006 verlangte die Beschwerdegegnerin beim
Gerichtspräsidium Brugg, die Beschwerdeführerin sei zur sofortigen Herausgabe
der Pumpe zu verpflichten, und zwar im Sinn einer vorläufigen (d.h.
superprovisorischen) Massnahme im Sinn von § 294 ZPO/AG bereits vor Anhörung
der Gegenpartei.

Nach Eingang der Klageantwort verfügte das Gerichtspräsidium Brugg am 1. Juni
2006 die sofortige Herausgabe der Pumpe.

Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin am 19. Juni 2006
Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau mit den Begehren um dessen
Aufhebung und um Abweisung des gegnerischen Herausgabebegehrens.

In ihrer Beschwerdeantwort verlangt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der
Beschwerde und die Herausgabe der Pumpe im Sinn einer vorläufigen
(superprovisorischen) Verfügung.

Mit vorläufiger (superprovisorischer) Verfügung vom 3. August 2006
verpflichtete die Instruktionsrichterin der 3. Zivilkammer des Obergerichts
die Beschwerdeführerin gestützt auf § 294 ZPO/AG zur sofortigen Herausgabe
der Pumpe.

C.
Gegen diese Verfügung hat die X.________ AG am 8. August 2006 eine
staatsrechtliche Beschwerde eingereicht mit dem Begehren um deren Aufhebung
und um Erteilung der aufschiebenden Wirkung. In ihrer Vernehmlassung vom 14.
August 2006 hat die Beschwerdegegnerin auf Abweisung dieser Begehren
geschlossen. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Mit
Präsidialverfügung vom 30. August 2006 wurde der staatsrechtlichen Beschwerde
die aufschiebende Wirkung erteilt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Instruktionsrichterin hat ausgeführt, gemäss § 294 ZPO/AG könnten bei
dringender Gefahr bereits vor Anhörung der Gegenpartei vorläufige Massnahmen
getroffen werden. Dringende Gefahr liege vor, wenn dem Gesuchsteller sehr
wahrscheinlich ein erheblicher, nicht leicht wiedergutzumachender Schaden
entstehe. Vorliegend sei dies gegeben, mache doch die Beschwerdegegnerin
geltend, die Société Z.________ habe vor dem zuständigen Gericht in Cherbourg
gegen sie eine Klage eingereicht und darin die sofortige Herausgabe der Pumpe
und eine Strafzahlung von ? 2'000.-- pro Tag gefordert. Inwiefern die
Beschwerdegegnerin zur Leistung einer solchen Strafzahlung tatsächlich
verpflichtet werde, sei im heutigen Zeitpunkt noch offen. Angesichts der
eingereichten Klage bestehe aber die Möglichkeit und der zu leistende
Schadenersatz würde sich täglich vergrössern.

In der Sache selbst argumentierte die Instruktionsrichterin zusammengefasst,
die Beschwerdeführerin verfüge über ein Retentionsrecht an der Pumpe, führe
doch die Beschwerdegegnerin in ihrem Herausgabegesuch selbst an, dieser
hierfür den Betrag von ? 180'338.40 zu schulden. Indes sei diese Forderung
durch Verrechnung mit einer A.________ an die Beschwerdegegnerin abgetretenen
Forderung untergegangen. Der Liquidator der X.________ Immobilien und Holding
AG (Holding) habe bestätigt, dass mit der Versteigerung vom 22. November 2004
verschiedene Beteiligungen und Aktiven der Holding veräussert und gemäss
Steigerungsbedingungen mit dem Steigerungskaufpreis von der ersteigernden
A.________ auch die Kontokorrentschulden der Beschwerdeführerin gegenüber der
Holding von Fr. 664'767.92 bezahlt worden seien. Dabei sei davon auszugehen,
dass die Versteigerung nicht im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens
erfolgt sei. Da sich die Holding offensichtlich in Nachlassliquidation
befunden habe, sei vielmehr davon auszugehen, dass die Veräusserung der
Aktiven im Rahmen eines Nachlassverfahrens erfolgt sei. Beim Nachlassvertrag
mit Vermögensabtretung würden die Aktiven in der Regel durch Eintreibung oder
Verkauf der Forderung, durch freihändigen Verkauf oder öffentliche
Versteigerung verwertet. Aufgrund der Verlautbarung des Liquidators sei davon
auszugehen, dass dieser die Forderung der Holding gegen die
Beschwerdeführerin durch freihändigen Verkauf an die A.________ veräussert
habe. Der Forderungsübergang sei daher mit dem Veräusserungsakt erfolgt und
habe keiner zusätzlichen Abtretungserklärung bedurft. B.________ von der
A.________ habe schliesslich gegenüber der Beschwerdeführerin erklärt, dass
die A.________ von der erworbenen Forderung den Teilbetrag von Fr. 320'000.--
an die Beschwerdegegnerin abtrete, die schliesslich am 11. Mai 2006 die
Verrechnung mit der Retentionsforderung von ? 180'338.40 erklärt habe. Es sei
also davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin bei Abgabe der
Verrechnungserklärung über die Forderung von Fr. 320'000.-- tatsächlich habe
verfügen und somit die Rententionsforderung habe tilgen können.

2.
Mit der superprovisorisch angeordneten Herausgabe der Pumpe ist das
Herausgabebegehren der Beschwerdegegnerin erfüllt, wird doch das vor
Obergericht hängige Herausgabeverfahren mit dem Vollzug der angefochtenen
Verfügung gegenstandslos, weil das Retentionsrecht materiell nur soweit
besteht, als die Beschwerdeführerin Besitz am Retentionsgegenstand hat (vgl.
Art. 895 Abs. 1 ZGB). Über das Schicksal der Pumpe könnte mithin selbst dann
nicht mehr entschieden werden, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte,
dass - wie von der Beschwerdeführerin behauptet - keine Verrechnungslage
bestanden hat und die Herausgabe der Pumpe deshalb in Verletzung des
Retentionsrechts verfügt worden ist.

Unter dem Gesichtspunkt der absoluten Subsidiarität der staatsrechtlichen
Beschwerde (Art. 84 Abs. 2 OG) könnte man sich deshalb zunächst fragen, ob
die auf das materielle Besitzesrecht gestützte angefochtene Verfügung nicht
einen berufungsfähigen Endentscheid im Sinn von Art. 48 Abs. 1 OG darstellt
(vgl. etwa zur analogen Situation bei Auskunftsbegehren: BGE 126 III 445 E.
3b S. 447). Die Frage kann indes offen bleiben, weil die Beschwerdeführerin
nicht die willkürliche Handhabung von Bundesrecht, sondern Willkür sowie
Gehörsverletzungen bei der Anwendung des kantonalen Prozessrechts und damit
zusammenhängend die Vorenthaltung des verfassungsmässigen Richters bzw.
Spruchkörpers rügt, und diese Rügen nur im Rahmen einer staatsrechtlichen
Beschwerde vorgebracht werden können.

Im Übrigen ist die angefochtene Verfügung kantonal letztinstanzlich (Art. 86
Abs. 1 OG). Die dagegen gerichtete staatsrechtliche Beschwerde ist somit
zulässig. Nicht einzutreten ist indes auf die Vorbringen der Parteien, soweit
diese neue Sachverhaltselemente einführen wollen; im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde gilt (von hier nicht gegebenen Ausnahmen
abgesehen) in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ein umfassendes
Novenverbot (BGE 114 Ia 204 E. 1a S. 205; 118 Ia 20 E. 5a S. 26; 129 I 49 E.
3 S. 57).

3.
Die Beschwerdeführerin wirft der Instruktionsrichterin vor, § 294 ZPO/AG
willkürlich angewandt und in diesem Zusammenhang auch das rechtliche Gehör
verletzt und ihr den verfassungsmässigen Richter (nämlich einen Entscheid
durch die zuständige Kammer des Obergerichts) vorenthalten zu haben.
Vorläufige Massnahmen dürften nicht das Resultat des Hauptprozesses
unwiderruflich vorwegnehmen. Gemäss der angefochtenen Verfügung müsse sie die
Pumpe, an der sie ein Retentionsrecht beanspruche, sofort herausgeben und
damit die von der Gegenpartei im Hauptprozess verlangte Leistung sofort
erbringen. Damit werde ihr im Rahmen einer superprovisorischen Verfügung das
Pfandrecht gegenüber der Beschwerdegegnerin entzogen, die von sich selbst
behaupte, überschuldet zu sein. Dem stehe die prozessual nur glaubhaft
gemachte Tatsache entgegen, dass die Beschwerdegegnerin eine Tagesbusse für
jeden Tag Verzögerung zu gewärtigen habe und deren Ruf im französischen Markt
geschädigt werden könnte. Umgekehrt leide aber ihr eigener Ruf genau gleich
wie derjenige der Beschwerdegegnerin, und die Tagesbusse könne durch
Sicherstellung ohne weiteres abgewandt werden. Die von der
Instruktionsrichterin vorgenommene Interessenabwägung erweise sich vor diesem
Hintergrund als willkürlich.

4.
Gemäss § 302 Abs. 1 lit. b ZPO/AG, auf den die Instruktionsrichterin ihren
Entscheid gestützt hat, können vorsorgliche Verfügungen zur Aufrechterhaltung
eines tatsächlichen Zustandes oder zur Abwehr eines drohenden, nicht leicht
wieder gutzumachenden Nachteils getroffen werden. Im Fall dringender Gefahr
können solche Massnahmen gestützt auf § 294 ZPO/AG auch vorläufig, d.h. ohne
Anhörung der Gegenpartei, erlassen werden, wofür im obergerichtlichen
Verfahren der Instruktionsrichter zuständig ist (§ 294 Abs. 3 ZPO/AG).

4.1 Die Rüge der Gehörsverletzung, die aufgrund der formellen Natur des
rechtlichen Gehörs an sich vorweg zu prüfen ist (BGE 115 Ia 8 E. 2a S. 10;
121 I 230 E. 2a S. 232; 122 II 464 E. 4a S. 469), hat im vorliegenden
Zusammenhang keine eigenständige Bedeutung, ist es doch gerade das
Wesensmerkmal einer superprovisorischen Anordnung, dass der Gegenpartei erst
nachträglich das rechtliche Gehör gewährt wird. Hält das Superprovisorium vor
dem Willkürverbot stand, was im Folgenden zu prüfen sein wird, kann mit
anderen Worten das rechtliche Gehör nicht verletzt sein und erübrigen sich
somit Ausführungen zur vorliegenden Konstellation, die insofern speziell ist,
als sich die Beschwerdeführerin bereits im Rahmen der Vernehmlassung im
erstinstanzlichen Verfahren sowie in ihrer Beschwerde ans Obergericht
materiell hat äussern können.

4.2 Sowohl den drohenden Nachteil im Sinn von § 302 ZPO/AG als auch die eine
superprovisorische Anordnung rechtfertigende dringende Gefahr im Sinn von §
294 ZPO/AG erblickt die Instruktionsrichterin darin, dass die
Beschwerdegegnerin bei fehlender Herausgabemöglichkeit der Pumpe an die
Société Z.________ allenfalls eine Tagesbusse von ? 2000.-- pro Tag zu
bezahlen habe und gegebenenfalls die Société Z.________ als Kundin verliere.

Beim möglichen Verlust der Société Z.________ als Kundin gibt die
Instruktionsrichterin indes eine blosse Behauptung der Beschwerdegegnerin
wieder, die im kantonalen Verfahren weder belegt noch substanziiert worden
ist. Betreffend die Strafzahlung im Rahmen des am 21. Juni 2006 von der
Société Z.________ angestrengten Verfahrens hat die Instruktionsrichterin
festgehalten, es sei im heutigen Zeitpunkt offen, inwiefern die
Beschwerdegegnerin tatsächlich zu entsprechenden Zahlungen verpflichtet
werde.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht sagen, dass eine dringende Gefahr im
Sinn von § 294 ZPO/AG vorliegt. Eine besondere Dringlichkeit im Sinn dieser
Bestimmung setzt voraus, dass ein Zuwarten - hier bis zum Entscheid der
Kammer - den Schutzzweck der vorsorglichen Verfügung vereiteln würde
(Eichenberger, Zivilrechtspflegegesetz des Kantons Aargau, Aarau 1987, vgl.
N. 2 zu § 294 ZPO/AG) bzw. sehr wahrscheinlich ein erheblicher, nicht leicht
wiedergutzumachender Schaden entstehen oder die anbegehrte Massnahme obsolet
würde (Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen
Zivilprozessordnung, Aarau 1998). Superprovisorien werden denn auch
typischerweise zur Ansprucherhaltung, etwa bei unmittelbar drohender
Veräusserung des Streitgegenstandes, angeordnet. Von einer solchen
Vereitelung der vorsorglichen Verfügung kann im vorliegenden Fall keine Rede
sein. Ein Zuwarten hat lediglich zur Folge, dass die Beschwerdegegnerin
möglicherweise finanzielle Folgen zu gewärtigen hat und ungewiss ist,
inwieweit sie diese auf Dritte abwälzen kann.
Sodann ist zu berücksichtigen, dass die Instruktionsrichterin bei der von ihr
angenommenen Verrechnungslage in Bezug auf die unbestrittene
Retentionsforderung von bestrittenen Vermutungen ausgegangen ist und im
Übrigen den möglichen Nachteilen der Beschwerdegegnerin gegenübersteht, dass
die Beschwerdeführerin ihr Retentionsrecht an der Pumpe infolge der
superprovisorisch verfügten Herausgabe definitiv verlieren würde. Auf der
einen Seite geht es mit anderen Worten um möglichen finanziellen Schaden, auf
der anderen Seite um den Streitgegenstand selbst. In einer solchen Situation
erscheint der definitive Entzug des Streitobjekts mittels superprovisorischer
Verfügung als willkürlich, sind doch Superprovisorien in der Regel nicht
statthaft, wenn diese praktisch einen definitiven Zustand schaffen und einer
antizipierten Vollstreckung gleichkommen (Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi,
Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. Aufl., Bern 2000, N. 1b zu
Art. 308a ZPO/BE).

4.3 Wurde die kantonale Norm von § 294 ZPO/AG in der angefochtenen Verfügung
willkürlich angewandt und ist diese demzufolge aufzuheben, kann die in der
Literatur umstrittene Frage (vgl. insb. Meier, Grundlagen des einstweiligen
Rechtsschutzes, Zürich 1983, S. 155 ff. m.w.H.) offen bleiben, ob
Leistungsmassnahmen überhaupt im Rahmen einer vorsorglichen Massnahme verfügt
werden können. Desgleichen werden auch alle weiteren Rügen der
Beschwerdeführerin gegenstandslos.

5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die angefochtene superprovisorische
Verfügung vom 3. August 2006 aufzuheben ist. Die Beschwerdegegnerin wird
demzufolge kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159
Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde wird die Verfügung des
Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht, 3. Kammer, vom 3. August 2006
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 4'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Zivilgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. September 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: