Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.250/2006
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{T 0/2}
5P.250/2006 /blb

Urteil vom 21. Dezember 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Gysel.

X. ________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Franz Hollinger,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. Andrea Metzler,
Obergericht (Zivilgericht, 2. Kammer) des Kantons Aargau, Obere Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 9 BV (Verfahrens- und Parteikosten im Ehescheidungsprozess),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts (Zivilgericht,
2. Kammer) des Kantons Aargau vom 23. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Der Gerichtspräsident von S.________ erkannte am 29. August 2005, dass die
Ehe von X.________ (geboren 1966) und Y.________ (geboren 1967) in
Gutheissung ihres gemeinsamen Begehrens geschieden werde. Die Söhne
A.________, geboren 1989, B.________, geboren 1991, und C.________, geboren
1993, wurden unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt. X.________ wurde
verpflichtet, an den Unterhalt der drei Söhne bis zu deren Mündigkeit
monatliche Beiträge von je Fr. 700.-- und an den Unterhalt von Y.________
gestützt auf Art. 125 ZGB solche von Fr. 1'324.-- bis und mit April 2007,
Fr. 1'826.-- von Mai 2007 bis und mit September 2009 und Fr. 817.-- von
Oktober 2009 bis und mit September 2011 zu zahlen. Das für die
Unterhaltsbeiträge massgebliche Monatseinkommen setzte der Gerichtspräsident
bei X.________ auf Fr. 6'323.-- und bei Y.________ auf Fr. 600.-- für die
Zeit bis April 2007, Fr. 1'500.-- für die Zeit von Mai 2007 bis August 2009
und Fr. 3'000.-- ab September 2009 fest.

B.
Mit Appellation an das Obergericht des Kantons Aargau verlangte X.________,
dass die Y.________ zugesprochenen Unterhaltsbeiträge auf monatlich
Fr. 1'000.-- festzusetzen und auf die Zeit von September 2005 bis August 2009
zu beschränken seien.
Ebenso appellierte Y.________. Einerseits beantragte sie, die Dauer der
Unterhaltspflicht des X.________ gegenüber den Söhnen sei auf die Zeit bis zu
deren Mündigkeit bzw. bis zum Erreichen der wirtschaftlichen Selbständigkeit,
falls sich ein Sohn bei Eintritt in die Mündigkeit noch in der Ausbildung
(Lehre, Anlehre, Mittelschule) befinde, bis zu deren Abschluss festzusetzen.
Andererseits verlangte sie hinsichtlich der ihr zugesprochenen monatlichen
Unterhaltsbeiträge, diese seien auf Fr. 1'324.-- bis und mit April 2007,
Fr. 528.-- von Mai 2007 bis August 2008, Fr. 1'823.-- von September 2008 bis
September 2009, Fr. 1'428.-- von Oktober 2009 bis September 2011 und
Fr. 1'696.-- für die Zeit von Oktober 2011 bis zum Eintritt des X.________
ins AHV-Alter festzusetzen.
Mit Urteil vom 23. März 2006 hiess das Obergericht (Zivilgericht, 2. Kammer)
die Appellation von Y.________ teilweise gut. Es änderte den
erstinstanzlichen Entscheid insofern ab, als es die Dauer der
Unterhaltspflicht gegenüber den Söhnen im Sinne des Antrags der Appellantin
ausdehnte und X.________ verpflichtete, an deren Unterhalt monatliche
Beiträge von Fr. 1'611.-- für die Zeit von September 2005 bis April 2007,
Fr. 1'455.-- für die Zeit von Mai 2007 bis Juli 2008 und Fr. 1'920.-- für die
Zeit von August 2008 bis September 2009 zu zahlen (Dispositiv-Ziffer 1).
Ferner entschied die Appellationsinstanz, dass die zweitinstanzlichen
Verfahrenskosten zu drei Vierteln X.________ und zu einem Viertel Y.________
auferlegt würden (Dispositiv-Ziffer 3) und dass X.________ der
Rechtsvertreterin von Y.________ die Hälfte des gerichtlich genehmigten
Honorars für die Aufwendungen im Appellationsverfahren zu zahlen habe
(Dispositiv-Ziffer 4).

C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 BV
und verlangt, Dispositiv-Ziffer 1 des obergerichtlichen Urteils sei insofern
aufzuheben, als in der Einleitung einzig von der teilweisen Gutheissung der
Appellation von Y.________ die Rede sei, obschon auch seine Appellation
teilweise gutgeheissen worden sei, und die Dispositiv-Ziffern 3 und 4 seien
gänzlich aufzuheben. Ausserdem ersucht er darum, ihm für das
bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Das Obergericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Y.________
(Beschwerdegegnerin) beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei, und die Verfahrens- sowie die Parteikosten dem
Beschwerdeführer, allenfalls dem Obergericht (Kanton Aargau) aufzuerlegen. Im
Übrigen ersucht auch sie darum, ihr für das bundesgerichtliche Verfahren die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

D.
Durch Präsidialverfügung vom 20. Juni 2006 ist der Beschwerde antragsgemäss
aufschiebende Wirkung zuerkannt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht ist davon ausgegangen, dass in Scheidungssachen die
Verfahrens- und Parteikosten des Appellationsverfahrens nach Massgabe von
Obsiegen und Unterliegen und damit gestützt auf § 112 Abs. 1 der Aargauer
Zivilprozessordnung (ZPO) zu verlegen seien. Alsdann hat es festgehalten,
dass der Beschwerdeführer mit seiner Appellation vollständig unterlegen sei,
während die Beschwerdegegnerin bezüglich der ihr persönlich zugesprochenen
Unterhaltsbeiträge teilweise und bezüglich der Kinderunterhaltsbeiträge
vollständig obsiegt habe. Es rechtfertige sich unter diesen Umständen, die
zweitinstanzlichen Verfahrenskosten zu drei Vierteln dem Beschwerdeführer und
zu einem Viertel der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen, wobei sie zufolge der
den beiden gewährten unentgeltlichen Rechtspflege unter Vorbehalt der
Rückforderung allerdings in diesem Sinne einstweilen vorzumerken seien, und
den Beschwerdeführer zu verpflichten, der Beschwerdegegnerin die Hälfte ihrer
zweitinstanzlichen Parteikosten zu zahlen.

2.
Der Beschwerdeführer hält die obergerichtliche Verlegung der Verfahrens- und
Parteikosten für willkürlich: Bereits in der Teilvereinbarung der Parteien
vom 11. Dezember 2003/5. Januar 2004 sei festgelegt worden, dass seine
Unterhaltspflicht über das Mündigkeitsalter der Söhne hinaus dauern solle,
falls sich diese zu diesem Zeitpunkt noch in Ausbildung befinden sollten. Der
Bezirksgerichtspräsident habe diesen Punkt der Vereinbarung nicht übernommen,
was die Beschwerdegegnerin veranlasst habe, in ihrer Appellation zu
verlangen, dass die erwähnte Regelung in das Urteil aufgenommen werde. Gegen
diesen Antrag habe er nicht opponiert; mit dem Hinweis auf die erwähnte
Vereinbarung der Parteien habe er sich vielmehr mit einer entsprechenden
Abänderung des erstinstanzlichen Entscheids einverstanden erklärt. Auch wenn
er formell keine Anschlussappellation eingereicht habe, habe materiell
dennoch die gleiche Situation vorgelegen. Dem Umstand, dass die Appellation
der Beschwerdegegnerin in diesem Punkt mit seiner Zustimmung gutgeheissen
worden sei, sei bei der Kostenverlegung Rechnung zu tragen; die
Beschwerdegegnerin könne nicht einfach als "obsiegend" im Sinne von § 112
Abs. 1 ZPO und er angesichts seiner Zustimmung nicht als "unterliegend"
bezeichnet werden. In Anbetracht der dargelegten Gegebenheiten habe das
Obergericht die genannte Bestimmung in krasser Weise verletzt.
Der Beschwerdeführer räumt ein, dass er allein aus diesem Grund nicht
staatsrechtliche Beschwerde geführt hätte. Indessen macht er geltend, es
ergebe sich vor allem dann, wenn zusätzlich die von den Parteien zu den der
Beschwerdegegnerin zugesprochenen Unterhaltsbeiträgen gestellten
Appellationsanträge mit dem Entscheid des Obergerichts verglichen würden,
dass dessen Verlegung der Kosten willkürlich sei.

3.
3.1 Wie der Beschwerdeführer zutreffend festhält hatte der
Bezirksgerichtspräsident der Beschwerdegegnerin für die Zeit von September
2005 bis September 2011 persönliche Unterhaltsbeiträge von zusammen
Fr. 99'042.-- zugesprochen. Der Gesamtbetrag der vom Obergericht (für die
Zeit von September 2005 bis September 2009) festgesetzten Unterhaltsbeiträge
beläuft sich auf Fr. 80'925.--. Mit seiner Appellation hatte der
Beschwerdeführer eine Reduktion der Unterhaltsbeiträge auf insgesamt
Fr. 48'000.-- (monatlich Fr. 1'000.-- für die Zeit von September 2005 bis
August 2009) beantragt, während die Beschwerdegegnerin - für die Zeit von
September 2005 bis Mai 2031 (Eintritt des Beschwerdeführers ins AHV-Alter) -
die Zusprechung von Unterhaltsbeiträgen in einem Gesamtbetrag von
Fr. 493'155.-- (nicht wie vom Beschwerdeführer versehentlich errechnet
Fr. 491'332.--), d.h. eine Erhöhung der Summe der vom
Bezirksgerichtspräsidenten festgesetzten Beiträge um Fr. 394'113.-- verlangt
hatte.

3.2 Auf Grund der Tatsache, dass die Appellationsinstanz der
Beschwerdegegnerin gesamthaft weniger zugesprochen hat als der
erstinstanzliche Richter, ist ihre Feststellung, der Beschwerdeführer sei mit
seiner Appellation vollständig unterlegen, unzutreffend. Der Einwand des
Obergerichts, es habe darauf abgestellt, wieweit die Parteien im Grundsatz
durchgedrungen seien, ist unbehelflich, zumal angesichts der Herabsetzung des
Gesamtbetrags der der Beschwerdegegnerin zugesprochenen Unterhaltsbeiträge
die Appellation des Beschwerdeführers in diesem Punkt dem Grundsatze nach
(teilweise) gutgeheissen wurde. Weshalb das Obergericht für die Beurteilung
der Kostenverlegung die Rentenbeträge nicht zusammengezählt hat, ist nicht
nachzuvollziehen.
Das Gesagte vermöchte für sich allein freilich den Entscheid des Obergerichts
über die Kosten- und Entschädigungsfolgen nicht als vollkommen unhaltbar
erscheinen zu lassen, wenn der Beschwerdeführer zu einem erheblichen Teil
unterlegen wäre, stand doch der Appellationsinstanz naturgemäss ein gewisses
Ermessen zu. Unterlegen ist indessen ebenfalls die Beschwerdegegnerin, deren
Appellationsanträge zu einer Erhöhung der Summe der ihr von der ersten
Instanz zugesprochenen Unterhaltsbeiträge von Fr. 99'042.-- auf
Fr. 493'155.-- geführt hätten. Betragsmässig ist der Beschwerdeführer im
Umfang von Fr. 32'925.-- (Fr. 80'925.-- [gemäss Entscheid der ersten Instanz]
minus Fr. 48'000.--), die Beschwerdegegnerin im Umfang von Fr. 412'230.--
(Fr. 493'155.-- minus Fr. 80'925.--) unterlegen, was einem Verhältnis von
weniger als 10 % zu mehr als 90 % entspricht. Dem Beschwerdeführer drei
Viertel der Verfahrenskosten aufzuerlegen und ihn zur Bezahlung der Hälfte
des Honorars der Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin zu verpflichten,
war bei dieser Sachlage nicht nur falsch, sondern selbst dann willkürlich,
wenn der Beschwerdegegnerin zugebilligt wird, dass sie mit ihrem
Appellationsbegehren zu den Kinderunterhaltsbeiträgen obsiegt hat. Dass das
Obergericht das dem Beschwerdeführer anzurechnende Einkommen von Fr. 6'323.--
gemäss Entscheid des Bezirksgerichtspräsidenten auf Fr. 6'586.-- erhöht hat,
ändert daran nichts. Dieser Umstand hat keine eigenständige Bedeutung und ist
insofern bereits berücksichtigt, als er die Höhe der von der kantonalen
Appellationsinstanz festgesetzten Unterhaltsbeiträge beeinflusst hat.

4.
Auf Grund des Dargelegten ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen.
Die Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Urteils ist insoweit aufzuheben,
als darin einzig auf die teilweise Gutheissung der von der Beschwerdegegnerin
eingereichten Appellation hingewiesen wird, und die Dispositiv-Ziffern 3 und
4 sind vollumfänglich aufzuheben.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die Beschwerdegegnerin an sich kosten-
und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG), wodurch
das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege bezüglich der Gerichtskosten gegenstandslos wird. Sowohl beim
Beschwerdeführer als auch bei der ebenfalls um unentgeltliche Rechtspflege
nachsuchenden Beschwerdegegnerin ist die Bedürftigkeit offenkundig. Der
Anspruch auf Gewährung des Armenrechts ist auch sonst bei beiden zu bejahen
(vgl. Art. 152 Abs. 1 OG), zumal die Beschwerdegegnerin sich der Beschwerde
in guten Treuen hat widersetzen dürfen. Da eine Parteientschädigung
angesichts der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse der Beschwerdegegnerin
als von vornherein uneinbringlich betrachtet werden muss, ist auch der Anwalt
des Beschwerdeführers sogleich aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, und die
Dispositiv-Ziffern 1 (nur soweit darin einzig auf die teilweise Gutheissung
der von der Beschwerdegegnerin eingereichten Appellation hingewiesen wird), 3
und 4 des Urteils des Obergerichts (Zivilgericht, 2. Kammer) des Kantons
Aargau vom 23. März 2006 werden aufgehoben.

2.
2.1 Dem Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird entsprochen, soweit es
nicht gegenstandslos geworden ist, und dem Beschwerdeführer wird in der
Person von Rechtsanwalt lic. iur. Franz Hollinger ein Rechtsbeistand
beigegeben.

2.2 Dem Gesuch der Beschwerdegegnerin um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird entsprochen, und der
Beschwerdegegnerin wird in der Person von Rechtsanwältin lic. iur. Andrea
Metzler eine Rechtsbeiständin beigegeben.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdegegnerin auferlegt,
einstweilen jedoch auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4.
4.1 Rechtsanwalt lic. iur. Franz Hollinger wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- zugesprochen.

4.2 Rechtsanwältin lic. iur. Andrea Metzler wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- zugesprochen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht (Zivilgericht, 2. Kammer)
des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Dezember 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: