Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.238/2006
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{T 0/2}
5P.238/2006 /bnm

Urteil vom 16. November 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Marazzi,
Gerichtsschreiber Schett.

X. ________ (Ehemann),
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Pasquino Bevilacqua,

gegen

Y.________ (Ehefrau),
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Fürsprecher Daniel Künzler,
Obergericht des Kantons Bern, Appellationshof, 2. Zivilkammer, Postfach 7475,
3001 Bern.

Art. 9 und 29 Abs. 2 BV (Eheschutzmassnahmen, Obhutszuteilung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Bern, Appellationshof, 2. Zivilkammer, vom 22. Mai 2006.

Sachverhalt:

A.
Zwischen den Eheleuten X.________ (Ehemann) und Y.________ (Ehefrau) ist ein
Eheschutzverfahren hängig, das zur Hauptsache der Frage gewidmet ist, unter
wessen Obhut das gemeinsame Kind Z.________, geboren 2005, zu stellen sei.
Der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises XI Interlaken-Oberhasli stellte
es mit Entscheid vom 3. Februar 2006 unter die elterliche Obhut des Vaters.

B.
Das Obergericht des Kantons Bern wies hingegen mit Entscheid vom 22. Mai 2006
die elterliche Obhut über das Kind der Mutter zu und setzte die Übergabe des
bis anhin beim Vater lebenden Kindes auf den 9. Juni 2006 fest. Darüber
hinaus gewährte es dem Vater ein Besuchsrecht und bestätigte die bereits
errichtete Beistandschaft gemäss Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB, unter
Präzisierung der Aufgaben des Beistandes. Hinsichtlich der geschuldeten
Unterhaltsbeiträge wurde die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen.

C.
Gegen den obergerichtlichen Entscheid richtet sich die staatsrechtliche
Beschwerde des Vaters (nachfolgend: Beschwerdeführer). Unter Geltendmachung
einer Verletzung des Willkürverbotes und seines Anspruchs auf Gewährung des
rechtlichen Gehörs verlangt er die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

Dem Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der aufschiebenden Wirkung ist
nach Anhörung der Beschwerdegegnerin mit Verfügung des Präsidenten der
urteilenden Abteilung des Bundesgerichts vom 16. Juni 2006 stattgegeben
worden, so dass die Übergabe des Kindes nicht vollzogen wurde.

Beide Parteien ersuchen schliesslich um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

In der Sache sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgericht prüft die Rechtsmittelvoraussetzungen frei und von
Amtes wegen, ohne an die Auffassungen der Parteien gebunden zu sein (BGE 132
III 291 E. 1 S. 292).

1.2 Eheschutzentscheide stellen regelmässig keine Endentscheide im Sinne von
Art. 48 Abs. 1 OG dar und sind deshalb nicht berufungsfähig (BGE 127 III 474,
E. 2 S. 476-480). Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist demnach
unter dem Blickwinkel von Art. 84 Abs. 2 OG zulässig. Auf die rechtzeitig von
der beschwerten Partei gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid
erhobene Beschwerde ist somit einzutreten (Art. 86 Abs. 1, 88 und 89 Abs. 1
OG).

2.
2.1 Im Bereich der Verfassungsbeschwerde gilt der Grundsatz der richterlichen
Rechtsanwendung nicht (BGE 125 I 71 E. 1c S. 76). Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen Tatsachen und eine kurz
gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw.
welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid
verletzt worden sind. Das Bundesgericht prüft im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde nur klar und einlässlich erhobene, und soweit
möglich, belegte Rügen (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261 f. mit Hinweisen). Auf
appellatorische Kritik, wie sie allenfalls im Rahmen eines
Berufungsverfahrens zulässig ist, wird nicht eingetreten (BGE 128 I 295 E. 7a
S. 312; 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.).

2.2 Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde sind neue
Tatsachenbehauptungen, neue rechtliche Argumente und neue Beweisanträge
grundsätzlich unstatthaft. Ausnahmsweise sind neue Vorbringen rechtlicher und
tatsächlicher Art zulässig, zu deren Geltendmachung erst die Begründung des
angefochtenen Entscheides Anlass gegeben hat bzw. zu Gesichtspunkten, die
sich aufdrängen und deshalb von der kantonalen Instanz offensichtlich hätten
berücksichtigt werden müssen; weiter sind ausnahmsweise Vorbringen zulässig,
die erstmals im Rahmen von Sachverhaltsabklärungen gemäss Art. 95 OG
Bedeutung erlangen, sowie neue rechtliche Vorbringen, falls die letzte
kantonale Instanz volle Überprüfungsbefugnis besass und das Recht von Amtes
wegen anzuwenden hatte (BGE 128 I 354, E. 6c S. 357 mit weiteren Hinweisen).

2.3 Wird der kantonalen Instanz Willkür vorgeworfen, ist aufzuzeigen,
inwiefern deren Entscheid offensichtlich unhaltbar sein soll, d.h. mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehe, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletze oder sonst wie in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufe (dazu BGE 130 I 258 E. 1.3
S. 262; 129 I 8 E. 2.1, und 49 E. 4 S. 58,  je mit Hinweisen). Das
Bundesgericht greift im Übrigen nur ein, wenn nicht bloss die Begründung des
Entscheids, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 129 I 49 E. 4 S. 58;
128 I 81 E. 2 S. 86, und 177 E. 2.1 S. 182, je mit Hinweisen).

2.4 Wenn die letzte kantonale Instanz ihren Entscheid in Anlehnung an ein
Gutachten trifft, schützt das Bundesgericht die Rüge der willkürlichen
Beweiswürdigung nur, wenn der Gutachter die gestellten Fragen nicht
beantwortet hat, wenn seine Schlussfolgerungen widersprüchlich sind oder wenn
das Gutachten anderweitig derart krasse und offensichtliche Fehler aufweist,
dass man diese selbst ohne besondere Fachkenntnisse einfach nicht übersehen
konnte. Der kantonale Richter ist nicht gehalten, anhand von
Fachpublikationen die wissenschaftliche Richtigkeit des Gutachtens zu
überprüfen. Seinerseits muss das Bundesgericht nicht alle Aussagen des
Gutachters auf Willkür prüfen, sondern darf sich vielmehr auf die Frage
beschränken, ob die letzte kantonale Instanz die Schlussfolgerungen des
Gutachtens willkürfrei übernehmen durfte (Entscheid des Bundesgerichts vom
29. September 2006 [5P.206/2006], E. 3.1, mit Hinweis auf die ständige nicht
publizierte Rechtsprechung).

3.
Der Beschwerdeführer greift mit seinem Rechtsmittel nur die Frage der
Obhutszuteilung auf. Die weiteren Fragen betreffend sein Besuchsrecht und die
Aufgaben des Beistandes sind vor Bundesgericht nicht streitig.

3.1
3.1.1 Im Wesentlichen begründet der Beschwerdeführer seine Willkürrüge wie
folgt: Das Obergericht des Kantons Bern hätte sich nicht nur und einseitig
auf die Schlussfolgerungen und Empfehlungen des beigezogenen Gutachtens des
IFB stützen dürfen, denn der Rechtsbegriff des Kindeswohls sei ein
unbestimmter, den als Rechtsfrage der Richter und nicht der Gutachter
auszulegen habe. Folglich zu Recht habe der erstinstanzliche Richter weitere
Beweise abgenommen und seinen Entscheid abweichend vom Gutachten gefällt. Der
Beschwerdeführer folgert daraus weiter, dass für das Obergericht in
Anbetracht der unveränderten tatsächlichen Situation kein Anlass bestanden
habe, vom erstinstanzlichen Entscheid abzuweichen.

3.1.2 Die Rechtsprechung zum Thema der Beweiskraft von Gutachten (neben den
vom Beschwerdeführer erwähnten BGE 128 I 81 E. 2 S. 86 und 130 I 337 E. 5.4.2
siehe auch zuletzt BGE 132 II 257 E. 4.4.1 S. 269) besagt zweierlei:
Einerseits, dass die Beantwortung von Rechtsfragen zwingend dem Gericht
obliegt und andererseits von einem Gutachten nicht ohne triftige Gründe
abgewichen werden soll. In ihrem Zusammenhang zueinander betrachtet sind
diese Vorgaben für die Entscheidfindung so zu verstehen, dass der
Sachverständige dem Richter die sachverhaltsmässigen Abklärungen liefert, die
diesem ermöglichen, die Rechtsfrage zu beantworten. Die zwei Vorgänge können
freilich nicht vollkommen getrennt werden: Ein Gutachten, das gestützt auf
umfassende Fragestellungen (tatsächlicher und nicht rechtlicher Natur) ergeht
und diese Fragen vollständig und widerspruchsfrei beantwortet, suggeriert dem
Richter gleichsam die konkrete Beantwortung der Rechtsfrage im Einzelfall.
Wenn vom Bundesgericht verlangt wird, dass der Richter die Empfehlungen des
Sachverständigen übernehmen solle bzw. einen abweichenden Entscheid besonders
sorgfältig begründen müsse, bedeutet dies, dass ein qualitativ
zufriedenstellendes Gutachten für die Beantwortung der Rechtsfrage im Prinzip
ausreicht. Eine Pflicht, zusätzlich zum Gutachten weitere Abklärungen zu
treffen, nur weil es ihm obliegt, die Rechtsfrage zu beantworten, hat der
Richter entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht. Vielmehr muss der
kantonale Richter, ohne sich dem Vorwurf der willkürlichen Beweiswürdigung
auszusetzen, das Gutachten auch nicht in jeder Einzelheit überprüfen (E. 2.4
vorne), sondern darf sich darauf beschränken, offensichtliche
Unvollkommenheiten, Fehler oder Widersprüche zu suchen. Dies heisst
keineswegs, dass der Richter auf diese Weise die Beantwortung der Rechtsfrage
dem Gutachter überlässt. Der gegenteilige Schluss des Beschwerdeführers
vermag keine Willkür zu begründen.

3.1.3 Für die Schlüssigkeit des Gutachtens bzw. für die Frage, ob die letzte
kantonale Instanz ohne Willkür auf das Gutachten abstellen durfte, ist es
weiter - entgegen der Meinung des Beschwerdeführers - ohne Bedeutung, dass
zwischen den zwei kantonalen Entscheiden die Situation unverändert geblieben
sei: Denn nicht dies ist das massgebende Kriterium, und auch nicht, ob das
Obergericht Anlass genug hatte, die erstinstanzliche Beweiswürdigung
umzustossen, sondern nur, ob der erstinstanzliche Richter mit Recht vom
Gutachten abgewichen war.
Dies hat das Obergericht denn auch eingehend geprüft. Es hat keinen Grund
gefunden, der am Gutachten hätte Zweifel aufkommen lassen können, sondern
gelangte im Gegenteil zum Ergebnis, dass die Zweifel des erstinstanzlichen
Richters unbegründet waren. Der Beschwerdeführer setzt sich nicht im Sinne
von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG substantiiert mit der Beweiswürdigung des
Obergerichts auseinander, weshalb auf die Beschwerde in diesem Punkt nicht
eingetreten werden kann.

3.2
3.2.1 Sodann bemängelt der Beschwerdeführer, dass das Obergericht vor seinem -
vom erstinstanzlichen abweichenden - Entscheid keine ergänzenden
Beweisabklärungen vorgenommen habe, um die tatsächliche Situation zu
überprüfen, obwohl das Gutachten mittlerweile ein Jahr alt gewesen sei und
sich die wesentlichen tatsächlichen Verhältnisse seit dem Erlass des
erstinstanzlichen Urteils tatsächlich nicht verändert und vor allem beim
Beschwerdeführer nicht verschlechtert hätten. Er erblickt darin nicht nur
einen weiteren Grund für die Annahme, dass der angefochtene Entscheid
willkürlich sei, sondern insbesondere eine Verletzung seines rechtlichen
Gehörs.

3.2.2 Soweit mit dieser Rüge der angefochtene Entscheid nochmals als
willkürlich kritisiert werden soll, wird auf das bereits Gesagte (E. 3.1.3
vorne) verwiesen.

3.2.3 Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV umfasst
unter anderem das Recht des Betroffenen, erhebliche Beweisanträge zu stellen,
und die grundsätzliche Pflicht des Richters, solche Beweismittel auch
abzunehmen. Dies verwehrt es dem Richter allerdings nicht, einen Beweisantrag
abzulehnen, wenn er ohne Willkür in freier, antizipierter Würdigung der
beantragten zusätzlichen Beweise zur Auffassung gelangen durfte, dass weitere
Beweisvorkehren an der Würdigung der bereits abgenommenen Beweise
voraussichtlich nichts mehr ändern würden (BGE 131 I 153 E. 3 S. 157 mit
weiteren Hinweisen).

Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass vor dem Obergericht neue Beweismittel
anerboten und teilweise auch abgenommen wurden. Da der Beschwerdeführer nicht
darlegt, welche Beweise er offeriert habe, die schliesslich nicht abgenommen
wurden, sondern sich mit dem pauschalen Hinweis auf die Offizialmaxime und
die daraus fliessende Pflicht des Gerichts, "ergänzende Beweisabklärungen" zu
treffen, begnügt, erfüllt seine Rüge die Begründungsanforderungen von Art. 90
Abs. 1 lit. b OG offensichtlich nicht. Zudem geht er fehl in der Annahme,
dass die blosse Absicht der letzten kantonalen Instanz, vom erstinstanzlichen
Entscheid im Ergebnis abzuweichen, das Obergericht zu weiteren Abklärungen
verpflichtet hätte: Wie bereits gesagt (E. 3.1.3 vorne), beruht der
angefochtene Entscheid nicht auf der Würdigung neuer wesentlicher Tatsachen
oder Erkenntnisse, sondern  auf der Schlussfolgerung, dass der
erstinstanzliche Richter zu Unrecht dem Gutachten nicht gefolgt ist. Deshalb
konnten weitere Abklärungen ohne Willkür unterbleiben, und dies erst recht
dann, wenn - wie der Beschwerdeführer ausführt - die tatsächlichen
Verhältnisse sich nicht verändert haben.

3.3 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder eine
willkürliche Beweiswürdigung noch eine Verletzung seines Anspruchs auf
rechtliches Gehör nachzuweisen vermochte. Die staatsrechtliche Beschwerde ist
folglich abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann.

Damit wird die Umteilung der elterlichen Obhut über das Kind Z.________ an
die Beschwerdegegnerin definitiv und muss vollstreckt werden. Da der
staatsrechtlichen Beschwerde aufschiebende Wirkung erteilt wurde, wird die
Sache zur Neugestaltung der Übergabemodalitäten an das Obergericht des
Kantons Bern zurückgewiesen (vgl. Birchmeier, Bunderechtspflege, N. 4c zu
Art. 94 OG, S. 405).

4.
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1
OG). Die Gesuche beider Parteien um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege müssen wegen der Aussichtslosigkeit ihrer Begehren (Art. 152
Abs. 1 OG) abgewiesen werden. Der Beschwerdegegnerin, die in der Sache keine
Vernehmlassung einreichen musste und die sich zu Unrecht gegen die Gewährung
der aufschiebenden Wirkung zur Wehr setzte, ist keine Entschädigung
zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Sache wird zur Regelung der Übergabemodalitäten dem Obergericht des
Kantons Bern zurückgewiesen.

3.
Die Gesuche beider Parteien um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
werden abgewiesen.

4.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Appellationshof, 2. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. November 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: