Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.230/2006
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{T 0/2}
5P.230/2006 /bnm

Urteil vom 29. September 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Ersatzrichter Brunner,
Gerichtsschreiber Zbinden.

X. ________ (Ehemann),
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Edith Heimgartner,

gegen

Y.________ (Ehefrau),
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Estermann,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer als Appellationsinstanz nach ZPO,
Postfach, 6002 Luzern.

Art. 8, 9 + 29 BV (Ehescheidung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer als Appellationsinstanz nach ZPO, vom 18. April 2006.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (Beklagter) und Y.________ (Klägerin) heirateten am 20. November
1987. Sie sind Eltern eines Sohnes, V.________, geb. am 8. Dezember 1987, und
einer Tochter, W.________, geb. Am 22. Dezember 1990.

B.
B.aMit Urteil des Amtsgerichts Luzern-Stadt vom 31. Mai 2005 wurde die Ehe
der Parteien geschieden. Das Gericht stellte die Kinder unter die elterliche
Sorge der Klägerin und regelte das Besuchs- und Ferienrecht des Beklagten
sowie die übrigen Nebenfolgen.

B.b Mit fristgerechter Appellation vom 6. Juli 2005 gelangte der Beklagte an
das Obergericht des Kantons Luzern und beantragte wie vor Amtsgericht, es sei
die Tochter W.________ unter seine elterliche Sorge zu stellen unter neuer
Regelung der entsprechenden Nebenfolgen. Sodann verlangte er, von einer
Entschädigung nach Art. 124 Abs. 1 ZGB sei abzusehen. Mit Urteil vom 18.
April 2006 stellte das Obergericht fest, dass der Hauptpunkt (Ehescheidung)
in Rechtskraft erwachsen ist. In teilweiser Gutheissung der Appellation
entschied es, dass der Beklagte und W.________ das Besuchsrecht untereinander
regeln; sodann wurde die Ausgleichskasse des Kantons Luzern angewiesen, die
IV-Kinderrente für W.________ zu 80% der Klägerin und zu 20% dem Beklagten
auszuzahlen. Im Übrigen wies es die Appellation ab.

C.
Der Beklagte (nunmehr: Beschwerdeführer) hat gegen das obergerichtliche
Urteil beim Bundesgericht sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch
Berufung eingereicht. Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt er, das
angefochtene Urteil vom 18. April 2006 sei aufzuheben. Sodann sei ihm für das
bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Wird in der gleichen Sache sowohl Berufung als auch staatsrechtliche
Beschwerde erhoben, so ist in der Regel zuerst über die staatsrechtliche
Beschwerde zu befinden, und der Entscheid über die Berufung ist auszusetzen
(Art. 57 Abs. 5 OG). Im vorliegenden Fall besteht kein Anlass, anders zu
verfahren.

2.
Der Grundsatz der richterlichen Rechtsanwendung gilt im Bereich der
Verfassungsbeschwerde nicht (BGE 125 I 71 E. 1c S. 76). Das Bundesgericht
untersucht nicht von Amtes wegen, ob ein kantonaler Hoheitsakt
verfassungswidrig ist, sondern prüft auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur
rechtsgenügend vorgebrachte, klar erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen
(Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 110 Ia 1 E. 2a S. 3/4; 122 I 70 E. 1c S. 73
mit Hinweis); auf ungenügend begründete oder appellatorische Kritik wird
nicht eingetreten (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 262; 125 I 492 E. 1b S. 495). Im
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde gilt schliesslich das
grundsätzliche Verbot, neue Tatsachenbehauptungen sowie rechtliche Argumente
vorzubringen und neue Beweisanträge zu stellen (BGE 128 I 354 E. 6c S. 357 e
contrario).

3.
Der Beschwerdeführer beanstandet in der staatsrechtlichen Beschwerde als
Erstes die Zuteilung der elterlichen Sorge als verfassungswidrig.
Insbesondere wirft er der letzten kantonalen Instanz willkürliche
Beweiswürdigung (Art. 9 BV) sowie krasse ungleiche Rechtsanwendung im Sinne
von Art. 8 BV vor. Er stellt sich auf den Standpunkt, das Obergericht habe
dem Zuteilungswunsch des Kindes nicht Rechnung getragen.

3.1 Die behauptete Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger (Art. 84
Abs. 1 lit. a OG) kann nur mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten
werden, wenn sie nicht sonst wie durch Klage oder Rechtsmittel dem
Bundesgericht unterbreitet werden kann (Art. 84 Abs. 2 OG). Die Frage, wem
die elterliche Sorge über die Kinder im Fall der Scheidung zu übertragen ist,
beschlägt Bundesrecht (Art. 133 ZGB); sie beantwortet sich nach den durch die
Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätzen (dazu: BGE 117 II 353 E. 3; 115 II
206). Insoweit erschöpft sich die Behauptung krass ungleicher Rechtsanwendung
in der Behauptung, die vorgenannte Bestimmung verletzt bzw. die zu ihrer
Auslegung erarbeiteten Kriterien nicht korrekt angewendet zu haben. Die
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes wird in Kinderbelangen und somit auch
hinsichtlich der elterlichen Sorge vom Bundesrecht beherrscht (vgl.
Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, 1999, N. 18 und 39
zu Art. 134 ZGB). Im Weiteren liegt eine nicht vermögensrechtliche
Zivilrechtstreitigkeit vor, so dass die Verletzung von Bundesrecht mit
eidgenössischer Berufung dem Bundesgericht unterbreitet werden kann (Art. 44
OG). In dieser Hinsicht erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als
unzulässig.

3.2 Soweit der Beschwerdeführer der kantonalen Instanz im Zusammenhang mit
der elterlichen Sorge Willkür in der Beweiswürdigung und in der
Sachverhaltsermittlung vorwirft, ist der angefochtene Entscheid nur dann
willkürlich, wenn der Richter Sinn und Tragweite eines Beweismittels
offensichtlich nicht verstanden hat, wenn er ohne triftigen Grund ein
wichtiges Beweismittel, das den angefochtenen Entscheid abzuändern geeignet
war, unberücksichtigt lässt, oder wenn er aus den zusammengetragenen
entscheidrelevanten Elementen unhaltbare Schlussfolgerungen zieht (BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9).

3.2.1 Bei den Ausführungen des Beschwerdeführers zur willkürlichen
Beweiswürdigung handelt es sich zum grössten Teil um Darstellungen ohne
konkreten Bezug zum angefochtenen Urteil oder um appellatorische und damit
ebenfalls unzulässige Kritik. Darauf ist nicht einzutreten. Im Übrigen wird
damit in keiner Weise Willkür in der Beweiswürdigung erstellt.

3.2.2 Das gilt insbesondere für die Ausführungen zum Inhalt des Protokolls
über die Anhörung der Tochter. Im Übrigen geht auch das Obergericht davon
aus, dass die Tochter den Wunsch geäussert hat, beim Vater bleiben zu können.
Insoweit ist eine willkürliche Beweiswürdigung nicht ersichtlich.

3.2.3 Der Feststellung des Obergerichts, dass der Beschwerdeführer seine
Wohnsituation nur mittelfristig werde verändern können, hält der
Beschwerdeführer entgegen, das Obergericht habe nicht berücksichtigt, dass
ihm (dem Beschwerdeführer) im Falle der Übertragung der elterlichen Sorge die
IV-Kinderrente zugewiesen würde und die Ergänzungsleistungen neu berechnet
werden müssten. Das Obergericht hat die angeführten Umstände durchaus
berücksichtigt (E. 3.3.2.); es hat aber in seine Überlegungen ebenso mit
einbezogen, dass der Beschwerdeführer in diesem Fall für den Unterhalt der
Tochter allein aufzukommen hat, da der Beschwerdegegnerin erst nach einer
eher grossszügig bemessenen Übergangszeit eine Erwerbsaufnahme mit
entsprechenden Unterhaltszahlungen möglich sein werde. Soweit sich die Rüge
nicht in einer unzulässigen appellatorischen Kritik bzw. in einer behaupteten
Verletzung von Bundesrecht erschöpft, wird damit willkürliche Beweiswürdigung
nicht dargetan.

3.2.4 Willkürlich ist die Beweiswürdigung nach Ansicht des Beschwerdeführers
auch deshalb, weil das Obergericht entgegen den Aussagen der Tochter
festhalte, es sei für sie wichtig, weiterhin bei der Beschwerdegegnerin in
A.________ bleiben zu können. Die Tochter habe anlässlich ihrer Befragung
ausgesagt, es spiele für sie bezüglich des Entscheides über die
Sorgerechtszuweisung keine Rolle, wohin der Beschwerdeführer ziehe.

Das Obergericht hat durchaus berücksichtigt, dass die Tochter dem Wohnort
keine Bedeutung beimisst. Es hat aber für seine Beurteilung der
Wohnverhältnisse dem Umstand Bedeutung beigemessen, dass die Tochter in der
Obhut der Beschwerdegegnerin weiterhin nahe der Schule, bei einem späteren
Gymnasialbesuch auch der Kantonsschule verbleiben könne (E. 3.3.2.). Eine
willkürliche Würdigung der Aussage der Tochter liegt demnach nicht vor.
Vielmehr hat das Obergericht bei der Beantwortung der Frage, wem die
elterliche Sorge zuzuweisen sei, einem anderen erstellten Element (Nähe zur
Schule) mehr Bedeutung beigemessen als der Aussage der Tochter. Der
Beschwerdeführer rügt damit im Ergebnis in unzulässiger Weise eine Verletzung
von Bundesrecht.

3.2.5 Der Beschwerdeführer rügt sodann, das Obergericht habe die
Erziehungsfähigkeit beider Eltern ungleich gewichtet, insbesondere den
Bericht von Z.________ vom 28. Dezember 2005 (Kinder- und Jugendschutz)
unkritisch-positiv zu Gunsten der Beschwerdegegnerin gewürdigt, die positive
Entwicklung des heute volljährigen Sohnes (Bericht Business-Schule S.________
vom 8. Dezember 2004) für den Beschwerdeführer zu wenig berücksichtigt, die
Aussagen der Tochter W.________ betreffend das teilweise aggressive Verhalten
der Beschwerdegegnerin ausser Acht gelassen und unzulässigerweise zu Lasten
des Beschwerdeführers auf frühere Entscheide abgestellt.

Auch damit kritisiert der Beschwerdeführer nicht die Beweiswürdigung des
Obergerichts, sondern in erster Linie die Gewichtung der einzelnen Elemente
für die Zuweisung der elterlichen Sorge, was wie dargelegt Bundesrecht
beschlägt. Soweit der Beschwerdeführer überhaupt die Beweiswürdigung als
willkürlich beanstandet, erschöpfen sich seine Ausführungen in
appellatorischer und damit unzulässiger Kritik. Darauf ist nicht einzutreten.

3.2.6 Zusammenfassend erweist die Rüge willkürlicher Beweiswürdigung im
Zusammenhang mit der Frage der elterlichen Sorge insgesamt als unbegründet,
soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.

4.
Im Zusammenhang mit der Entschädigung nach Art. 124 ZGB verweist das
Obergericht auf die erstinstanzliche Feststellung, wonach fragwürdig sei, ob
die Beschwerdegegnerin ihr sehr bescheidenes Vorsorgeguthaben aufgrund des
Arbeitsmarktes werde aufstocken können und dass der teilweise erfolgreiche
Versuch des Beschwerdeführers, ihr Vorsorgegelder zu entziehen, nicht seiner
Besserstellung dienen solle. Es wirft dem Beschwerdeführer vor, sich damit
nicht auseinandergesetzt zu haben.

Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich in der Appellation sehr wohl
dazu geäussert, weshalb von einer Entschädigung abzusehen sei und dass der
Beschwerdegegnerin noch 17 Jahre bis zu ihrer Pensionierung verbleiben,
während welcher Zeit sie einer Erwerbstätigkeit nachzugehen vermöge.

Diese Ausführungen gehen an den Feststellungen des erstinstanzlichen bzw. des
obergerichtlichen Urteils vorbei; sie sind damit nicht geeignet, Willkür
darzutun. Der Beschwerdeführer räumt selbst ein, im Rahmen der Appellation
keine Ausführungen zum Vorwurf gemacht zu haben, ohne Wissen der
Beschwerdegegnerin Vorsorgegelder bezogen zu haben. Soweit er sich in der
staatsrechtlichen Beschwerde dazu äussert, handelt es sich um neue und damit
unzulässige Vorbringen. Die auch in diesem Zusammenhang behauptete Verletzung
der Untersuchungsmaxime wäre mit Berufung zu rügen gewesen (vgl. E. 3.1).
Insoweit ist auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten.

5.
Damit ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf überhaupt
eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Der Beschwerdegegnerin
ist für das bundesgerichtliche Verfahren keine Entschädigung zuzusprechen, da
sie nicht zur Einreichung einer Vernehmlassung eingeladen worden ist.

6.
Die über weite Strecken unzulässige staatsrechtliche Beschwerde hat sich von
Anfang an als aussichtslos erwiesen. Dem Gesuch des Beschwerdeführers um
unentgeltliche Rechtspflege kann somit nicht entsprochen werden (Art. 152
Abs. 1 OG).

7.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird
abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II.
Kammer als Appellationsinstanz nach ZPO, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. September 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: