Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.223/2006
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{T 0/2}
5P.223/2006 /bnm

Urteil vom 16. November 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Ersatzrichter Brunner,
Gerichtsschreiber Zbinden.

X. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Alexandre Vonwil,

gegen

Obergericht des Kantons Aargau, Zivilgericht, 4. Kammer, Obere Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 9 und 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Prozessführung im
Scheidungsverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Zivilgericht, 4. Kammer, vom 3. April 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a Der Ehemann von X.________ reichte am 25. Juni bzw. 14. Oktober 2004 beim
Bezirksgericht Muri Scheidungsklage ein. Am 24. November 2004 stellte
X.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, beantragte indes
gleichzeitig, das Gesuch sei zu sistieren, bis geklärt sei, ob der Ehemann
ihr einen Prozesskostenvorschuss bezahlen könne.

A.b Am 10. Januar 2005 ersuchte X.________ im Rahmen des Präliminarverfahrens
beim Gerichtspräsidium Muri, der Ehemann sei zu verpflichten, ihr für das
Scheidungs- und das Präliminarverfahren einen Prozesskostenvorschuss von Fr.
7'000.-- zu leisten. Ferner sei ihr für beide Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege zu bewilligen und der unterzeichnende Anwalt zum unentgeltlichen
Rechtsvertreter zu ernennen.

A.c Mit Entscheid vom 14. Dezember 2005 verpflichtete der Präsident des
Bezirksgerichts Muri den Ehemann, X.________ an deren Prozesskosten im
Ehescheidungsverfahren sowie im Präliminarverfahren Fr. 2'800.-- zu bezahlen.
Im Übrigen wies er mit Entscheid vom 20. Dezember 2005 beide Gesuche um
unentgeltliche Rechtspflege ab.

B.
Gegen diese Entscheide erhob X.________ Beschwerde beim Obergericht des
Kantons Aargau und beantragte erneut, ihr die unentgeltliche Rechtspflege für
die den Betrag von Fr. 2'800.-- übersteigenden Anwaltskosten zu gewähren und
den unterzeichnenden Anwalt als Rechtsvertreter zu ernennen. Mit Entscheid
vom 3. April 2006 wies die angerufene Instanz die Beschwerde ab.

C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 und
Art. 29 Abs. 3 BV; sie verlangt, es sei das angefochtene Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau aufzuheben und ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren die volle unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. Das
Obergericht beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht sowohl Willkür (Art. 9 BV)
als auch einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV vor. Sie wendet sich
insbesondere (act. 1 S. 5-7) gegen die Argumentation des Obergerichts, wonach
der Ehemann in der Lage sei, ihr nicht nur einen Prozesskostenvorschuss von
Fr. 2'800.-- zu bezahlen, sondern sämtliche Parteikosten des Ehescheidungs-
und des Präliminarverfahrens zu bevorschussen. Entgegen dem
Präliminarentscheid des Gerichtspräsidiums Muri vom 14. Dezember 2005 nehme
das Obergericht beim Zwangsbedarf des Ehemannes nicht einen Überschuss von
Fr. 11'500.--, sondern einen höheren von Fr. 25'152.-- an. Aus diesem Grund
gelange das Obergericht willkürlich zum Schluss, es bestehe bei der
Beschwerdeführerin kein Anspruch auf staatlich bevorschusste unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV, da der Ehemann neben seinen
Prozesskosten auch ihre voll abdecken könne.

Das Obergericht übersehe, dass der Entscheid des Gerichtspräsidiums vom 14.
Dezember 2005 zwingend Bindewirkung für die Beurteilung der unentgeltlichen
Rechtspflege entfalten müsse; es revidiere jenen in Rechtskraft erwachsenen
Entscheid, indem in der Berechnung rückwirkend von einer höheren
Leistungsfähigkeit des Ehemannes ausgegangen werde.

Im Weiteren habe das Obergericht bezüglich der Prüfung der unentgeltlichen
Rechtspflege auf einen falschen Zeitpunkt - nämlich auf Juni 2005 bis Mitte
Januar 2006 anstatt auf den 24. November 2004 (Gesuchseinreichung) -
abgestellt und damit Art. 29 Abs. 3 BV verletzt (act. 1 S. 7 unten).

1.2 Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege wird in erster Linie durch
das kantonale Prozessrecht geregelt, doch beruft sich die Beschwerdeführerin
auf keine Bestimmung dieser Art. Gleichwohl macht sie sinngemäss geltend, das
Obergericht habe Grundsätze des kantonalen Prozessrechts verletzt, indem
gerügt wird, dass in einen rechtskräftigen Entscheid eingegriffen worden sei
und das Obergericht die relevante Zeitspanne falsch angewandt habe.

1.3 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen
Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche
verfassungsmässigen Rechte bzw. welche (kantonalen) Rechtssätze und inwiefern
sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sein sollen. Das
Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich,
belegte Rügen und tritt auf ungenügend begründete Rügen sowie appellatorische
Kritik nicht ein. Wirft der Beschwerdeführer der kantonalen Behörde vor, ihr
Entscheid verletze das Willkürverbot, muss er dartun, inwiefern der Entscheid
offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft
(BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261 f.). Ferner hat der Beschwerdeführer die
verletzte kantonale Norm zu nennen (BGE 110 Ia 1 E. 2a S. 3) und in der
Begründung auszuführen, inwiefern der angefochtene Entscheid im Ergebnis
willkürlich sein soll (BGE 125 I 166 E. 2a S. 168).

In der Beschwerdeschrift werden die einschlägigen kantonalen Rechtssätze,
welche die Voraussetzungen zur Gewährung und zum Entzug der unentgeltlichen
Rechtspflege festlegen (vgl. insbes. §§ 125 und 132 ZPO/AG), mit keinem Wort
erwähnt. Auch zur (kantonalen) prozessrechtlichen Frage betreffend das
Verhältnis zwischen der behaupteten Rechtskraft des Entscheids des
Gerichtspräsidiums Muri vom 14. Dezember 2005 einerseits und dem (kantonalen)
Grundsatz einer jederzeit möglichen Überprüfung der Voraussetzungen über
Gewährung und Entzug der unentgeltlichen Rechtspflege anderseits, finden sich
in der Beschwerdeschrift keine rechtsgenügenden Hinweise. Insbesondere macht
die Beschwerdeführerin ausdrücklich nicht geltend, dass die vom Obergericht
angestellte neue Berechnung des Überschusses beim Ehemann von Fr. 25'152.--
anstelle des zunächst festgestellten Überschusses von Fr. 11'500.--
willkürlich sei (vgl. act. 1 S. 6 unten mit dem Hinweis, es könne offen
bleiben, ob die Berechnung des Obergerichts korrekt sei).

Unter diesen Umständen scheitert die Willkürrüge an den
Substanziierungsanforderungen des Art. 90 Abs. 1 lit. b OG. Auf die
staatsrechtliche Beschwerde ist in dieser Hinsicht nicht einzutreten.

2.
2.1 Unabhängig von der Prüfung unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots
nach Art. 9 BV garantiert Art. 29 Abs. 3 BV einen Mindestanspruch der
bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege. Dieser Anspruch umfasst
einerseits die Befreiung von den Verfahrenskosten und andererseits - soweit
notwendig - das Recht auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand (BGE 122 I 8
E. 2a S. 9; 322 E. 2b S. 324, mit Hinweisen). Als bedürftig gilt dabei ein
Gesuchsteller, der die erforderlichen Prozess- und Parteikosten nur bezahlen
kann, wenn er die Mittel angreift, die er zur Deckung des Lebensbedarfs für
sich und seine Familie benötigt (vgl. die vorstehend zitierte
Rechtsprechung).

2.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 4 aBV, die sich ohne
weiteres auf Art. 29 Abs. 3 BV übertragen lässt, ist der Anspruch auf
unentgeltliche Prozessführung subsidiär zur familienrechtlichen
Unterhaltspflicht der Ehegatten (Art. 159 Abs. 3 und Art. 163 ZGB; BGE 85 I 1
E. 3 S. 4 f.; 108 Ia 9 E. 3 S. 10; 119 Ia 11 E. 3a S. 12). Nach Einleitung
des Scheidungsverfahrens steht zur Geltendmachung eines
Prozesskostenvorschusses das Verfahren gemäss Art. 137 ZGB zur Verfügung.
Wenn Gewissheit besteht, dass der Gesuchsteller in diesem Verfahren einen
Prozesskostenvorschuss erhältlich machen kann, gilt er demnach nicht als
bedürftig.

2.3 Nach der Berechnung des Obergerichts, welche die Beschwerdeführerin nicht
rechtsgenügend als willkürlich beanstandet, verfügte der Ehegatte im
relevanten Zeitraum des Präliminarverfahrens und des Hauptverfahrens über
einen Überschuss von Fr. 25'152.-- anstelle des zunächst festgestellten
Überschusses von Fr. 11'500.--. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin war und
ist demnach - wie dies das Obergericht feststellt - in der Lage, ihr im
massgebenden Zeitpunkt einen vollen Prozesskostenvorschuss auszurichten. Der
angefochtene Entscheid ist daher im Lichte von Art. 29 Abs. 3 BV nicht zu
beanstanden.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist folglich abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die
Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG).

4.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren ist abzuweisen, da sich die Beschwerde von
Anfang an als aussichtslos erwiesen hat (Art. 152 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons
Aargau, Zivilgericht, 4. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. November 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: