Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.121/2006
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{T 0/2}
5P.121/2006 /bru

Urteil vom 18. Juli 2006
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Zbinden.

X. _______,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Becker,

gegen

Y._______,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Roman M. Hänggi,
Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als
zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Art. 9 und 29 Abs. 2 BV (Besuchsrecht; Zuständigkeit der
Vormundschaftsbehörde),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzlicher
vormundschaftlicher Aufsichtsbehörde,
vom 15. Februar 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a Mit Urteil der Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Lenzburg vom 6. August
1999 wurde die Ehe von X._______ und Y._______ geschieden, der gemeinsame
Sohn der Parteien wurde seiner Mutter, Y._______, zu Erziehung Unterhalt und
Ausübung der elterlichen Gewalt zugewiesen und das Besuchsrecht von X._______
wie folgt geregelt: Dieser wurde berechtigt, seinen Sohn bis zu dessen
3. Altersjahr jeweils am ersten und dritten Samstagnachmittag jeden Monats
von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr im Beisein der Mutter zu besuchen, nach dem
vollendeten 3. bis zum vollendeten 7. Altersjahr jeweils am ersten und
dritten Samstagnachmittag jeden Monats von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr zu sich
auf Besuch zu nehmen. Nach dem 7. Alterjahr des Sohnes wurde dem Vater das
Recht zugesprochen, seinen Sohn jeweils am ersten und dritten Wochenende pro
Monat je einen Tag von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr zu sich auf Besuch zu nehmen
und ihn nach vorheriger Ankündigung von drei Monaten während 14 Tagen pro
Jahr mit sich in die Ferien zu nehmen.

A.b Mit Beschluss vom 18. September 2001 ordnete die Vormundschaftsbehörde
von Rohr für das Kind ein begleitetes Besuchsrecht sowie eine
Erziehungsbeistandschaft mit Bestimmung eines Sozialarbeiters als Beistand
an. Am 26. März 2002 genehmigte die Vormundschaftsbehörde Rohr auf Antrag des
Beistands eine Neuregelung des Besuchsrechts.

A.c Mit Beschluss vom 19. November 2002 ersetzte die Vormundschaftsbehörde
Rohr den vorgenannten Beschluss und genehmigte eine ihr vom Beistand
unterbreitete "Vereinbarung zum Besuchsrecht". Danach wurde X._______
berechtigt, seinen Sohn ab dessen 6. Geburtstag am ersten Samstag des Monats
von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr und jeden dritten Samstag pro Monat von 10.00 Uhr
bis 17.00 Uhr, ab dem 7. Geburtstag des Sohnes jedes erste und dritte
Wochenende des Monats, und zwar von Samstag 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr bzw. von
Samstag 14.00 Uhr bis Sonntag 17.00 Uhr zu sich auf Besuch zu nehmen. Ab dem
8. Geburtstag des Sohnes wurde der Vater zusätzlich zum gewährten
Besuchsrecht berechtigt, jährlich 14 Tage Ferien mit seinem Sohn zu
verbringen.

A.d Mit Beschluss vom 17. Mai 2005 ordnete die Vormundschaftsbehörde gestützt
auf das Gesuch der Mutter ein begleitetes Besuchsrecht an. Nachdem ein
Gutachten des KJPD zur Frage des Besuchsrechts eingeholt worden war,
entschied die Vormundschaftsbehörde nach Anhörung der Eltern, die Anträge der
Kindsmutter würden abgewiesen. Dieser Beschluss erwuchs in Rechtskraft.

A.e Am 8. November 2005 beschloss die Vormundschaftsbehörde, das am 19.
November 2002 genehmigte Besuchsrecht (in Abänderung des Scheidungsurteils)
werde mit Ausnahme der Ferienregelung aufrechterhalten. Die Ferienregelung ab
dem 8. Geburtstag des Sohnes werde abgestuft gewährt, nämlich 7 Tage Ferien
im ersten möglichen Jahr bzw. 14 Tage ab dem 2. möglichen Jahr (Ziff. 2 und 3
des Beschlusses).

B.
Mit Entscheid vom 15. Februar 2006 hob das Obergericht des Kantons Aargau,
Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde, im Rahmen der Behandlung einer Aufsichtsbeschwerde der
Mutter wegen Verweigerung des Akteneinsichtsrechts von Amtes wegen die
Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde Rohr vom 18. September 2001, 26. März
2002, 19. November 2002 und 17. Mai 2005 vollumfänglich (Ziff. 1.1.) sowie
deren Beschluss vom 8. November 2005 in den Ziffern 2 und 3 (Ziff. 1.2.) auf
mit der Feststellung, dass das rechtskräftige Ehescheidungsurteil des
Gerichtspräsidiums Lenzburg vom 6. August 1999 mit der darin erlassenen
Besuchs- und Ferienrechtsregelung weiter gelte (Ziff. 2.1.), die Kindseltern
sich an eine einvernehmlich getroffene, davon abweichende Vereinbarung halten
können (Ziff. 2.2.) und im Konfliktfall das rechtskräftige Scheidungsurteil
mit seiner vollstreckungsfähigen Regelung auf Begehren des Kindsvaters im
summarischen gerichtlichen Zwangsvollstreckungsverfahren vollstreckbar sei
(Ziff. 2.3.). Die auf die aufsichtsrechtliche Aufhebung der Beschlüsse der
Vormundschaftskammer Rohr entfallenden Kosten des Verfahrens vor der Kammer
für Vormundschaftswesen wurden auf die Staatskasse genommen (Ziff. 4).

C.
X._______ führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des rechtlichen
Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV).
Er beantragt, den obergerichtlichen Entscheid ersatzlos, eventuell bezüglich
der Ziff. 1.1. ersatzlos aufzuheben, soweit unter dieser Ziffer der Beschluss
der Vormundschaftsbehörde Rohr vom 19. November 2002 aufgehoben werde.
Y._______ hat ausdrücklich auf Vernehmlassung verzichtet. Das Obergericht
ersucht darum, auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend
Regelung des persönlichen Verkehrs. Der Beschwerdeführer beruft sich in
erster Linie auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV),
die beim Bundesgericht einzig mit staatsrechtlicher Beschwerde vorgetragen
werden kann (Art. 84 Abs. 1 lit. a und Art. 84 Abs. 2 OG). Offen bleiben
kann, ob die Beschwerde auch insoweit gegeben ist, als der Beschwerdeführer
den Entscheid als willkürlich beanstandet, weil das Obergericht von Amtes
wegen die verschiedenen Beschlüsse unter Hinweis auf die materielle
Rechtskraft der entsprechenden Anordnung des Scheidungsurteils und die
fehlenden Voraussetzungen für eine Abänderung dieser Anordnung aufgehoben hat
(vgl. E. 2). Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist somit grundsätzlich
einzutreten.

1.2 Der Beschwerdeführer ist entgegen der Auffassung des Obergerichts in
seinem rechtlich geschützten Interesse betroffen (Art. 88 OG). Das
Obergericht hat durch seinen Entscheid das von der Vormundschaftsbehörde
gewährte, über die Regelung im Scheidungsurteil hinausgehende Besuchsrecht
(vgl. A.c hiervor) aufgehoben und ausdrücklich festgehalten, dass die
Regelung im Scheidungsurteil weiter gelte (Ziff. 2.1.). Dass sich die
Parteien an eine davon abweichende private Regelung halten können (Ziff.
2.2.), ändert an der Beschwer nichts, kann doch im Konfliktfall nur die im
Scheidungsurteil vorgesehene Regelung vollstreckt werden (Ziff. 2.3.).
1.3 Der Beschwerdeführer beantragt zur Hauptsache, der angefochtene Entscheid
des Obergerichts sei ersatzlos aufzuheben. Aus der Begründung der Beschwerde
ergibt sich indes, dass sich die Beschwerde einzig auf die Aufhebung der
Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde im Zusammenhang mit der Besuchs- und
Ferienregelung bezieht und die Rüge der Beschwerdegegnerin, ihr sei im
Verfahren die Akteneinsicht verweigert worden, nicht mitumfasst. Diese Rüge
bezieht sich denn auch nicht auf die vorgenannten Beschlüsse der
Vormundschaftsbehörde Rohr, sondern auf jenen vom 9. Januar 2006 (vgl. E.
5.1. des angefochtenen Entscheids). Fest steht somit, dass der
Beschwerdeführer mit seinem Hauptantrag die Aufhebung der Ziffern 1, 2 und 4
des angefochtenen Entscheides verlangt.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer wirft der letzten kantonalen Instanz eine Verletzung
seines Anspruchs auf rechtliches Gehör vor (Art. 29 Abs. 2 BV). Das
rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es
ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides
dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört
insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine
Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, Beweise
beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen
gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder
mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses
geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 106 Ia 161 E. 2b; 127 I 54
E. 2b).

2.2 Das Obergericht hat den Beschwerdeführer zwar als "Verfahrensbeteiligten"
im Rubrum des angefochtenen Entscheids aufgeführt und ihn damit in das
aufsichtsrechtliche Verfahren einbezogen, wie dies Art. 8 EMRK verlangt (vgl.
dazu Schwenzer, Basler Kommentar, N. 5 zu Art. 275 ZGB), hat aber
zugegebenermassen das durch vormundschaftlichen Beschluss vom 19. November
2002 gewährte, im Verhältnis zur Regelung im Scheidungsurteil erweiterte
Besuchsrecht des Beschwerdeführers eingeschränkt, ohne diesen im Verfahren
zur Sache anzuhören. Damit hat es den Anspruch des Beschwerdeführers auf
rechtliches Gehör, wie es in Art. 29 Abs. 2 BV umschrieben wird, verletzt.
Der angefochtene Entscheid ist daher antragsgemäss in den Ziffern 1, 2 und 4
aufzuheben, ohne dass auf die weiteren Rügen einzugehen wäre.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat sich am vorliegenden Verfahren nicht beteiligt und
kann somit auch nicht zu den Kosten des Verfahrens und zu einer Entschädigung
an den Beschwerdeführer angehalten werden. Praxisgemäss werden in einem
solchen Fall keine Gerichtskosten erhoben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton
Aargau hat aber den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu
entschädigen (Art. 159 Abs. 5 i.V.m. Art. 156 Abs. 6 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und die Ziffern 1, 2 und 4
des Entscheides des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für
Vormundschaftswesen als zweitinstanzlicher vormundschaftlicher
Aufsichtsbehörde, vom 15. Februar 2006 werden aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzlicher vormundschaftlicher
Aufsichtsbehörde, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. Juli 2006

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: