Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4P.80/2006
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4P.80/2006 /ruo

Urteil vom 29. Mai 2006

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,
Gerichtsschreiber Luczak.

A. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler,

gegen

Obergericht des Kantons Luzern, Justizkommission, Postfach, 6002 Luzern.

Art. 9, 29 und 30 BV sowie Art. 6 EMRK (Zivilprozess; unentgeltliche
Rechtspflege),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, Justizkommission, vom 13. Februar 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Klage vom 1. Juli 2005 belangte A.________ (Beschwerdeführerin) die
Versicherung X.________ vor dem Amtsgericht I Luzern-Stadt auf Zahlung von
mindestens Fr. 500'000.-- Schadenersatz für die Folgen eines am 24. März 1992
erlittenen Verkehrsunfalls. Gleichzeitig stellte sie ein Begehren um
Befreiung von der Pflicht zur Leistung von Gerichtskostenvorschüssen. Der
Amtsgerichtspräsident I als Einzelrichter wies das Begehren ab und setzte
einen reduzierten Gerichtskostenvorschuss von Fr. 36'000.-- fest, welchen die
Beschwerdeführerin in zwei Raten zu je Fr. 18'000.-- zu bezahlen habe. Die
Beschwerdeführerin rekurrierte gegen diesen Entscheid und verlangte nebst der
teilweisen Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege eventualiter die
Herabsetzung des Gerichtskostenvorschusses auf Fr. 4'000.--. Die
Justizkommission des Obergerichts des Kantons Luzern wies den Rekurs sowie
das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für den beim
Amtsgericht Luzern-Stadt hängigen Prozess ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht, es sei der Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom
13. Februar 2006 wegen Verletzung von Art. 9 BV sowie Art. 29/30 BV und Art.
6 EMRK aufzuheben. Die Präsidentin der Justizkommission stellt in ihrer
Vernehmlassung den Antrag, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird in
erster Linie durch das kantonale Prozessrecht geregelt, dessen Anwendung und
Auslegung das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der Willkür prüft (BGE
129 I 129 E. 2.1 S. 134 mit Hinweisen). Unabhängig davon besteht ein solcher
Anspruch unmittelbar aufgrund von Art. 29 Abs. 3 BV. Danach hat jede Person,
die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es
zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand. Die Voraussetzungen dieses durch die
Bundesverfassung garantierten Anspruchs untersucht das Bundesgericht in
rechtlicher Hinsicht frei, tatsächliche Feststellungen der kantonalen
Instanzen prüft es dagegen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 130
I 180 E. 2.1 S. 182 mit Hinweisen). Entsprechende Willkürrügen sind in der
Beschwerde gehörig zu begründen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). So ist im
Einzelnen aufzuzeigen, inwiefern die im angefochtenen Urteil vertretene
Auffassung offensichtlich unhaltbar ist, das heisst mit der tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn sich nur die
Begründung des angefochtenen Entscheides als unhaltbar erweist. Eine
Aufhebung rechtfertigt sich nur dann, wenn der Entscheid auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 131 I 217 E. 2.1 S. 219 mit Hinweis).

1.2 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Person bedürftig, wenn sie nicht
in der Lage ist, für die Prozesskosten aufzukommen, ohne dass sie Mittel
beanspruchen müsste, die zur Deckung des Grundbedarfs für sie und ihre
Familie notwendig sind (BGE 128 I 225 E. 2.5.1 S. 232; 127 I 202 E. 3b S.
205). Dabei darf nicht schematisch auf das betreibungsrechtliche
Existenzminimum abgestellt werden, sondern es sind die individuellen Umstände
zu berücksichtigen (BGE 124 I 1 E. 2a S. 2 mit Hinweisen). Die unentgeltliche
Rechtspflege kann namentlich verweigert werden, wenn der Gesuchsteller die
anfallenden Gerichts- und Anwaltskosten in absehbarer Zeit, das heisst innert
einiger Monate aus Einkommensüberschüssen zu bezahlen vermag (BGE 109 Ia 5 E.
3a S. 9).

2.
2.1 Nach den Feststellungen der kantonalen Gerichte beträgt der
zivilprozessuale Notbedarf der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten Fr.
6'385.70 und das Gesamteinkommen der Eheleute Fr. 8'312.85, der monatliche
Überschuss mithin Fr. 1'927.15. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann wohnen
in einem eigenen Haus, das einen Steuerwert von Fr. 483'500.-- aufweist und
mit einer Hypothek von Fr. 500'000.-- (gemäss den Feststellungen des
Amtsgerichts höchst möglich) belastet ist. Zusätzlich verfügen die Eheleute
über ein Vermögen von Fr. 70'000.--, bestehend zu einem grossen Teil in
Fonds. Mit Bezug auf die Verfügbarkeit dieses Vermögens erwog das
Obergericht, die Beschwerdeführerin sei bereits im erstinstanzlichen
Verfahren vergeblich aufgefordert worden, ein Fondsreglement einzureichen,
aus dem ersichtlich sei, ob und unter welchen Bedingungen die Gelder
zurückgezogen werden könnten. Da die Beschwerdeführerin diese Auflage auch im
Rekursverfahren nicht erfüllt habe, sei davon auszugehen, dass die
Depotvermögenswerte sofort verfügbar seien. Die Beschwerdeführerin sei somit
in der Lage, den vom Amtsgericht einverlangten Gerichtskostenvorschuss von
Fr. 36'000.-- in zwei Raten zu Fr. 18'000.-- zu bezahlen.

2.2 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht mit Bezug auf die
Feststellungen zur Verfügbarkeit des Fondsvermögens Willkür vor. Sie macht
geltend, mit ihrer Eingabe vom 18. Oktober 2005 habe sie einen
Verpfändungsvertrag über das Fondsvermögen ins Recht gelegt. Daraus ergebe
sich, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann nicht frei über die
angesparten Fondsdepots von Fr. 41'390.-- verfügen könnten, da ein Pfandrecht
der Bank mit einer Inkassovollmacht für fällige Leistungen bestehe.

2.3
2.3.1 Dass die Säule 3a des Ehegatten der Beschwerdeführerin anstelle der
Amortisation der Hypothekarschuld auf ihrem Einfamilienhaus an die
Hypothekargläubigerin verpfändet ist, geht aus dem Entscheid des Amtsgerichts
klar hervor. Mit ihrem Rekurs hat die Beschwerdeführerin vor der
Justizkommission dargelegt, dass die Fonds bei der Bank verpfändet seien,
weshalb sie ohne deren schriftliche Zustimmung nicht für die Bezahlung des
Gerichtskostenvorschusses verwendet werden könnten. Die Beschwerdeführerin
hat gerügt, dass das erstinstanzliche Gericht diesen Umstand zu Unrecht nicht
berücksichtigt hat. Diesen Einwand hat das Obergericht indessen ohne jegliche
Begründung ausser Acht gelassen. Bei der Beurteilung der Verfügbarkeit des
Fondsvermögens hat es einzig erwähnt, dass es die Beschwerdeführerin
unterlassen hat, mittels Fondsreglements die Bedingungen nachzuweisen, unter
denen sie die Auszahlung der Gelder verlangen könnte, weshalb es davon
ausging, die Depotvermögenswerte seien sofort verfügbar. Dieser Schluss ist
jedoch nur statthaft, soweit die Verpfändung der Verfügbarkeit nicht
entgegensteht, zumal der angefochtene Entscheid keine Feststellungen darüber
enthält, inwiefern das Pensionskassenvermögen des Ehegatten nicht unter die
erwähnten "Depotwerte" fallen soll. Indem die das Obergericht von der freien
Verfügbarkeit des gesamten Fondsvermögens ausging, ohne zu begründen, weshalb
das Fondsvermögen trotz der Verpfändung frei verfügbar sein soll, verfiel es
in Willkür.

2.3.2 Allerdings ergibt sich aus dem von der Beschwerdeführerin bezeichneten
Beleg entgegen ihren Ausführungen nicht, dass ihr eigenes, mit Fr. 41'390.--
angegebenes Fonds-Depot verpfändet und deshalb nicht frei verfügbar wäre.
Selbst wenn sich die Pfandhaft lediglich auf den auf den Ehemann der
Beschwerdeführerin entfallenden Teilbetrag des gemäss den Feststellungen des
Obergerichts ca. Fr. 70'000.-- betragenden Vermögens erstreckt, ist nicht
nachvollziehbar, inwiefern die Beschwerdeführerin innerhalb von zwei Monaten
in der Lage sein sollte, Fr. 36'000.-- für den Gerichtskostenvorschuss
aufzubringen, wenn ihr entsprechend der vom Amtsgericht angeführten
kantonalen Rechtsprechung ein "Notgroschen" von Fr. 10'000.-- belassen werden
soll (Studer/Rüegg/Eiholzer, Die Luzerner Zivilprozessordnung, N. 3 zu § 130
ZPO). Da nicht auszuschliessen ist, dass bei Berücksichtigung der allenfalls
fehlenden Verfügbarkeit eines Teils des Vermögens zumindest die vor
Obergericht eventualiter beantragte Herabsetzung des Vorschusses hätte Platz
greifen müssen, erweist sich der angefochtene Entscheid auch im Ergebnis als
willkürlich.

3.
Einen weiteren Willkürvorwurf begründet die Beschwerdeführerin damit, dass
das Obergericht die Rechnungen für vorprozessuale Anwaltskosten von Fr.
138'535.-- und für einen neuen Anwaltskostenvorschuss von Fr. 56'000.-- nicht
berücksichtigt hat.

3.1 Das Obergericht stellte fest, die Beschwerdeführerin schulde ihrem
Rechtsvertreter Fr. 138'535.-- für vorprozessuale Anwaltskosten. Daran habe
sie bisher keine Zahlungen geleistet. Aus diesem Grunde lehnte das
Obergericht deren Anrechnung bei der Ermittlung des Notbedarfs ab. Es stützte
sich dabei auf die kantonale Rechtsprechung (LGVE 1995 I Nr. 34 S. 52),
wonach privatrechtliche Verpflichtungen ebenso wie Steuern und andere
öffentlichrechtliche Verpflichtungen bei der zivilprozessualen
Notbedarfsrechnung nur berücksichtigt werden, wenn der Gesuchsteller den
Nachweis erbringt, das diese rechtlich bestehen, nicht ohne grössere
Nachteile aufgehoben oder sistiert werden können und dass er diesen
Verpflichtungen bisher tatsächlich nachgekommen ist. Mit diesen Ausführungen
setzt sich die Beschwerdeführerin nicht eingehend auseinander. Sie behauptet
lediglich, für die Vermögenssituation sei nur massgeblich, ob die Schuld
tatsächlich bestehe, nicht ob Abzahlungen geleistet würden. Gemäss
Rechtsprechung des Bundesgerichts bleibt aber die gewöhnliche Tilgung
angehäufter Schulden bei der Beurteilung der Bedürftigkeit grundsätzlich
ausser Betracht, da die unentgeltliche Rechtspflege nicht dazu dienen soll,
auf Kosten des Gemeinwesens Gläubiger zu befriedigen, die nicht oder nicht
mehr zum Lebensunterhalt beitragen (Bundesgerichtsurteile 2P.90/1997 vom 7.
November 1997 E. 3d; 5P.356/1996 vom 6. November 1996 E. 8a/aa). Da es nicht
allein auf die Existenz der Schulden ankommt, vermag die Beschwerdeführerin
in Bezug auf die bisher aufgelaufenen Anwaltskosten keine Verletzung ihrer
verfassungsmässigen Rechte aufzuzeigen.

3.2 In Bezug auf die Anwaltskosten für den aktuellen Haftspflichtprozess
erwog das Obergericht, diese würden sich auf etwa Fr. 40'000.-- belaufen und
die Beschwerdeführerin könne aus dem ihr verbleibenden Überschuss von Fr.
1'927.15 die notwendigen Vorschüsse leisten beziehungsweise die mutmasslichen
Anwaltskosten bezahlen. Auch diesbezüglich verweist die Beschwedeführerin
einzig darauf, dass sie überschuldet sei, und daher den
Gerichtskostenvorschuss von Fr. 36'000.-- zur Zeit nicht bezahlen könne. Da
die Überschuldung für sich allein, wie dargelegt,  nicht ausschlaggebend ist,
erweist sich auch diese Rüge als unbegründet, soweit angesichts der
ungenügenden Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid überhaupt
darauf einzutreten ist.

4.
Nicht einzutreten ist schliesslich auf die weiteren, teils in polemischem
Tone gehaltenen allgemeinen Darlegungen der Beschwerdeführerin ohne konkreten
Bezug zum angefochtenen Entscheid. Eine Verletzung der Verfassung oder der
EMRK lässt sich auf diese Weise nicht begründen.

5.
Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen, soweit
darauf einzutreten ist, und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Da dem
unterliegenden Kanton keine Gerichtskosten überbunden werden können, ist von
einer Gerichtsgebühr abzusehen (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton
die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren zu
entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist, und der Entscheid der Justizkommission des Obergerichts des Kantons
Luzern vom 13. Februar 2006 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Luzern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons
Luzern, Justizkommission, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Mai 2006

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: