Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4P.254/2006
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{T 0/2}
4P.254/2006 /len

Urteil vom 6. Dezember 2006

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Klett, Kiss,
Gerichtsschreiberin Hürlimann.

X. ________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Rudolf Kunz,

gegen

Y.________ AG,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans-Jürg Tarnutzer,
Bezirksgerichtsausschuss Prättigau/Davos.

Art. 29 Abs. 1 und 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Zivilprozess; Ablehnung
eines Experten),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Beiurteil des
Bezirksgerichtsausschusses Prättigau/Davos
vom 24. August 2006.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (Beschwerdeführer und Gesuchsteller), geboren am 31. Januar 1934,
US-amerikanischer Staatsbürger, hielt sich mit einer Gruppe von Touristen
unter anderem in A.________ auf. Am 15. März 2002 um ca. 22.00 Uhr nahm er in
einer Gruppe von 34 Personen an einer Nacht-Schlittelfahrt teil, die die
Y.________ AG (Beschwerdegegnerin) kommerziell anbot. Nach etwa 300 Meter
Fahrt geriet er in einer Rechtskurve über die Piste hinaus und verletzte sich
so schwer, dass er seitdem gelähmt ist.

B.
Am 1. Juli 2004 beantragte der Beschwerdeführer dem Bezirksgericht
Prättigau/Davos, die Beschwerdegegnerin sei zu verurteilen, ihm Schadenersatz
im Betrag von US$ 1'250'000.-- zuzüglich 5 % Zins seit dem 15. März 2002
sowie eine Genugtuung im Betrage von SFr. 200'000.-- zuzüglich 5 % Zins seit
dem 15. März 2002 zu bezahlen. Nach Durchführung des Schriftenwechsels
ordnete der Bezirksgerichtspräsident Prättigau/Davos eine Expertise zur Frage
an, "ob die Schlittelbahn im bestehenden Zustand mit den getroffenen
Sicherheitsmassnahmen den Anforderungen genügte, um einen Unfall der
vorliegenden Art auszuschliessen bzw. als nicht mehr adäquat kausal
verursacht erscheinen zu lassen". Nachdem die Ernennung von Dr. B.________
als Experte abgelehnt worden war, ernannte der Bezirksgerichtspräsident am
16. März 2005 auf beidseitigen Antrag der Parteien Herrn C.________ zum
Experten.

C.
Am Mittwoch, 1. März 2006, fand ein vom Experten einberufener Augenschein
statt; der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde von dessen Tochter
begleitet. Im Anschluss an den offiziellen Teil des Augenscheins trafen sich
die Beteiligten auf Einladung des Direktors der Beschwerdegegnerin im
Bergrestaurant D.________ zu einem Kaffee. Im Zuge dieser Unterredung duzten
sich der Experte und der Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin. Auf die
Frage des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers, ob sie sich kennen würden,
gaben sie bekannt, dass sie miteinander in Bern studiert hatten. Im Anschluss
an diesen rund 30-minütigen Kaffee fuhren die Teilnehmer des Augenscheins mit
den Gondeln ins Tal hinunter. Dort vereinbarten der Experte und der Anwalt
der Beschwerdegegnerin, dass sie sich im Hotel A.________, der Unterkunft des
Experten, in der Bar zu einem Umtrunk träfen. Diese Abrede wurde offen
getroffen, so dass der Anwalt des Beschwerdeführers sie hörte. Die
Konsumation, zwei Biere, bezahlte der Experte. Das Nachtessen nahm der
Experte allein ein.

D.
Mit Schreiben vom 7. März 2006 verlangte der Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers vorsorglich den Ausstand des Experten wegen Befangenheit.
Nachdem der Beschwerdeführer von den Stellungnahmen Kenntnis erhalten hatte,
in denen die Beschwerdegegnerin und der Experte die Befangenheit bestritten,
hielt er am Ausstandsbegehren fest. Er beantragte, der Experte habe als
gerichtlicher Sachverständiger infolge Befangenheit in den Ausstand zu treten
bzw. er sei vom Bezirksgerichtspräsidenten von seinem Amt abzuberufen (Ziffer
1) und es sei den Parteien Gelegenheit zu geben, neue Experten zu nominieren
(Ziffer 2). Der Bezirksgerichtspräsident Prättigau/Davos lehnte den Antrag
mit Verfügung vom 10. Mai 2006 ab.

E.
Mit Beiurteil vom 24. August/4. September 2006 wies der
Bezirksgerichtsausschuss Prättigau/Davos die Beschwerde des Beschwerdeführers
gegen die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidiums Prättigau/ Davos vom
10. Mai 2006 ab. Das Gericht vermochte keinen Grund für den Anschein einer
Befangenheit im Umstand zu erblicken, dass sich der Experte mit dem
Rechtsanwalt der Beschwerdegegnerin im Anschluss an den Augenschein noch zu
einem persönlichen Gespräch getroffen hatte. Es hielt sodann dafür, es liege
der Sache nach auf der Hand, dass sich der Experte zur Vorbereitung seiner
privaten vormittäglichen Erkundungstour an den ortskundigen Rechtsvertreter
der Beschwerdegegnerin gewendet habe. Weiter lehnte es ab, eine Befangenheit
des Experten aus dem Umstand abzuleiten, dass dieser den Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin ausserhalb des offiziellen Augenscheins duzte.
Schliesslich hielt das Gericht es für zu weitgehend, aus der beim Eintreffen
der Tochter des Beschwerdeführers und dessen Vertreter beim Augenschein
angetroffenen Situation abzuleiten, es habe eine Vorbesprechung mit der
Beschwerdegegnerin stattgefunden.

F.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 5. Oktober 2006 stellt der
Beschwerdeführer den Antrag, das Beiurteil des Bezirksgerichtsausschusses
Prättigau/Davos vom 24. August 2006 - verschickt am 4. September 2006 - sei
zu kassieren. Er rügt die Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK sowie von Art. 29 Abs. 1 BV.

G.
Die Beschwerdegegnerin schliesst in ihrer Vernehmlassung auf Abweisung der
Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist.

H.
Mit Beschluss vom 12. Oktober 2006 wurde dem Beschwerdeführer die
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gewährt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach Art. 87 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde gegen selbständig
eröffnete Zwischenentscheide über Ausstandsbegehren zulässig. Der
angefochtene Entscheid ist kantonal letztinstanzlich, wie sich aus der
Rechtsmittelbelehrung ergibt (Art. 237 Abs. 4 ZPO GR in Verbindung mit Art.
218 Abs. 2 ZPO GR). Es werden grundsätzlich zulässige Rügen erhoben (Art. 84
Abs. 1 lit. a OG). Der Beschwerdeführer, dessen Ausstandsbegehren abgelehnt
wurde, ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 88 OG). Auf die fristgerecht
eingereichte Beschwerde ist einzutreten, soweit die Begründung den
Anforderungen von Art. 90 Abs. 2 lit. b OG genügt.

2.
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK.

2.1 Für gerichtliche Sachverständige gelten im Wesentlichen dieselben
Ausstands- und Ablehnungsgründe, wie sie für die Richter vorgesehen sind (BGE
126 III 249 E. 3c S. 253; 125 II 541 E. 4a S. 544; 120 V 357 E. 3a S. 364 f.,
je mit Hinweisen). Vorliegend bestimmt denn auch das kantonale Recht in Art.
190 Abs. 1 ZPO GR, dass Sachverständige ausser den erforderlichen
Fachkenntnissen die Eigenschaften besitzen müssen, die für die Richter gemäss
Artikel 17 und 18 des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgeschrieben sind. In
Art. 18 GVG GR sind die Ausstandsgründe für Richter und Aktuare aufgeführt.
Wird mit einer staatsrechtlichen Beschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf
den verfassungs- und konventionsmässigen Richter geltend gemacht, so prüft
das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts
nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Mit freier Kognition prüft es
dagegen, ob die als vertretbar erkannte Auslegung des kantonalen
Prozessrechts mit den Garantien von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
vereinbar ist (BGE 131 I 113 E. 3.2 S. 115; 126 I 68 E. 3b S. 73; 117 Ia 170
E. 1 S. 172 f., je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer behauptet nicht, das
kantonale Recht gewährleiste eine weitergehende Unabhängigkeit als Art. 30
Abs. 1 BV. Er beruft sich unmittelbar auf diese Verfassungsbestimmung.

2.2 Nach der in Art. 58 Abs. 1 aBV bzw. im materiell unverändert in die neue
Bundesverfassung vom 18. April 1999 überführten Art. 30 Abs. 1 BV und in Art.
6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der
Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen,
unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder
Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise
Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der
Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt (BGE
131 I 113 E. 3.4 S. 116, 24 E. 1.1 S. 25; 126 I 68 E. 3a S. 73, je mit
Hinweisen). Das Verhalten eines Richters oder eines Sachverständigen
gegenüber einer Partei kann den Anschein der Befangenheit begründen, wenn
daraus nach objektiver Betrachtung inhaltlich oder durch die Art der
Kommunikation auf besondere Sympathien oder Antipathien oder auf eine
Ungleichbehandlung der Prozessbeteiligten geschlossen werden kann (vgl.
Regina Kiener/Melanie Krüsi, Die Unabhängigkeit von Gerichtssachverständigen,
in ZSR 2006 Bd. I S. 487/504 f., Alfred Bühler, Erwartungen des Richters an
den Sachverständigen, in AJP 1999 S. 567/570 f.). Insofern begründen
insbesondere einseitige Kontakte eines gerichtlichen Experten zu einer Partei
oder deren Vertreter den Anschein der Befangenheit (Bühler, a.a.O., S. 571).
Auch wenn einseitige Kontaktnahmen tatsächlich bloss organisatorische Fragen
betreffen, finden sie definitionsgemäss in Abwesenheit der Gegenpartei statt
und entziehen sich deren Kontrolle, was naheliegend begründetes Misstrauen in
die  Unparteilichkeit des Experten weckt. Selbst unter Berücksichtigung des
Beschleunigungsgebots lässt sich daher in diesen Fällen angesichts der
Bedeutung des Anspruchs auf einen unparteiischen und unabhängigen Richter
eine restriktive Auslegung und Anwendung der entsprechenden Garantien nicht
vertreten (BGE 127 I 196 E. 2d S. 199; 114 Ia 153 E. 3 S. 155 f.).
2.3 Der Bezirksgerichtssausschuss hat den Anschein der Befangenheit des
Experten aus dem Umstand, dass sich dieser unmittelbar nach dem Augenschein
privat mit dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin während rund einer
halben Stunde allein unterhalten hat, nicht abzuleiten vermocht. Er hat es
als nachvollziehbar erachtet, dass sich die früheren Kommilitonen im
Anschluss an das informelle Beisammensein sämtlicher Beteiligter noch auf
einen Umtrunk unter vier Augen verständigten, nachdem sie während 21 Jahren
keinen Kontakt mehr gehabt hätten, was objektiv betrachtet Anlass und
Gesprächsstoff genug zu einem privaten Umtrunk geliefert habe. Das Gericht
berücksichtigte auch den Umstand, dass das Treffen nicht verheimlicht worden
sei und der Experte die Zeche bezahlt habe. Der Bezirksgerichtsausschuss
verkennt mit dieser Beurteilung die Bedeutung des Anscheins der Befangenheit,
der durch einseitige Kontakte des Gerichtsgutachters mit nur einer Partei im
Rahmen der Erstellung des Gutachtens objektiv betrachtet entsteht. Auch wenn
plausibel erscheinen mag, dass das private Gespräch zwischen dem Experten und
dem Rechtsanwalt der Beschwerdegegnerin im Anschluss an den Augenschein nicht
den geringsten Bezug zum Streitfall hatte, so war eine Erörterung der
Streitsache für die Gegenpartei objektiv betrachtet aus den äusseren
Gegebenheiten vorstellbar. Der Beschwerdeführer bringt zutreffend vor, dass
ein halbstündiges Gespräch mit dem Vertreter einer Partei ohne Anwesenheit
der Gegenpartei im unmittelbaren Anschluss an den Augenschein und vor
Erstellung des Gutachtens durch den Experten objektiv Misstrauen in die
Unparteilichkeit des Experten unbesehen darum weckt, dass der Gegenstand des
Gesprächs mit grosser Wahrscheinlichkeit keinen Bezug zum Gutachten hat. Der
Gutachter hat mit diesem einseitigen Kontakt zum Vertreter der einen Partei
das objektiv begründete Misstrauen der anderen in seine Unparteilichkeit
geweckt. Dabei ist entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin unerheblich,
ob das private Treffen im unmittelbaren Anschluss an den Augenschein und vor
der Erstellung des Gutachtens zum Voraus oder spontan vereinbart wurde.

2.4 Ob die weiteren Umstände, welche der Beschwerdeführer zur Begründung der
Befangenheit anführt, bei objektiver Betrachtung ebenfalls Anlass zu
begründetem Misstrauen in die Unparteilichkeit des Experten geben könnten,
kann offen bleiben. Immerhin ist nicht auszuschliessen, dass die vorgängige
einseitige Kontaktaufnahme des Experten mit dem Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin zur Beschaffung von Informationen über die in Aussicht
genommene Besichtigung, die er zuvor allein vornehmen wollte, die Anwesenheit
der Gegenpartei zusammen mit dem Experten am Besprechungsort bei Eintreffen
des Vertreters des Beschwerdeführers und der Stil der Stellungnahme des
Experten bei objektiver Betrachtung das Misstrauen in die Unparteilichkeit
des Experten verstärken konnten. Dass im Rahmen formeller Beweisaufnahmen wie
bei einem Augenschein die förmliche Anrede "Sie" auch zwischen Personen
verwendet wird, die sich im privaten Umgang duzen, ist hingegen üblich und
dürfte kaum ausreichen, zusätzlich den Anschein der Parteilichkeit zu wecken.
Wie es sich damit verhält, kann jedoch wie erwähnt offen bleiben. Denn ein
rund halbstündiges Gespräch mit dem Vertreter der einen Partei in Abwesenheit
der anderen bei Gelegenheit einer Beweisaufnahme zur Erstellung des
Gutachtens begründet objektiv als solches jedenfalls den Anschein der
Befangenheit des Experten. Der Anschein der Befangenheit ist allein schon
wegen dieses einseitigen Kontaktes im Rahmen der Beweisaufnahme für das
Gutachten begründet.

3.
Die Abweisung des Ablehnungsgesuchs des Beschwerdeführers ist mit den in Art.
30 Abs. 1 BV gewährleisteten Garantien unvereinbar. Die Beschwerde ist
begründet und der angefochtene Entscheid des Bezirksgerichtsausschusses
Prättigau/Davos ist antragsgemäss aufzuheben. Die Kosten des
Beschwerdeverfahrens sind bei diesem Ausgang der Beschwerdegegnerin zu
auferlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem Beschwerdeführer ausserdem die
Parteikosten zu ersetzen (Art. 159 Abs. 2 OG). Sollten sie sich als
uneinbringlich erweisen, sind sie zufolge Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege an den Beschwerdeführer aus der Bundesgerichtskasse
auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Beiurteil des
Bezirksgerichtsausschusses Prättigau/Davos vom 24. August 2006 wird
aufgehoben.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen. Im Falle der Uneinbringlichkeit
wird dieser Betrag Rechtsanwalt Rudolf Kunz, Chur, aus der
Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgerichtsausschuss
Prättigau/Davos schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Dezember 2006

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: