Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4P.163/2006
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{T 0/2}
4P.163/2006 /ruo

Urteil vom 20. Juli 2006

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterin Kiss,
Bundesrichter Mathys,
Gerichtsschreiberin Sommer.

Verein X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Advokat Dr. Frank Heini,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Advokat Daniel Brügger,
Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Zivil- und Strafrecht.

Art. 9 BV (Zivilprozess; Willkür; Rechtsgültigkeit der Appellation),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Zivil-
und Strafrecht, vom 4. April 2006.

Sachverhalt:

A.
Der vor rund 14 Jahren gegründete Verein X.________ (Beschwerdeführer)
bezweckt "das Führen von sozialpädagogisch betreuten Wohngruppen zur
Betreuung sozial auffälliger Jugendlicher". A.________ (Beschwerdegegner) war
seit der Gründung beim Beschwerdeführer als Heimleiter angestellt. Mit
Schreiben vom 6. Juli 2004 kündigte der Beschwerdeführer das
Arbeitsverhältnis mit dem Beschwerdegegner per 31. Januar 2005. Der
Beschwerdegegner wurde bei voller Lohnzahlung bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist von der Arbeitsleistung freigestellt. Nachdem ihm der Lohn
für den Monat Juli 2004 ausbezahlt worden war, schrieb ihm der
Beschwerdeführer am 30. August 2004, dass die verbleibenden Lohnguthaben mit
einer Schadenersatzforderung verrechnet würden. Diese ergebe sich daraus,
dass sich der Beschwerdegegner in Verletzung seiner Sorgfalts- und
Treuepflichten geweigert habe, entsprechend dem Vorstandsbeschluss vom 17.
Juni 2003 den Betrieb in Z.________ zu schliessen. Der Verein habe deswegen
einen unmittelbaren Schaden von Fr. 277'000.-- erlitten.

B.
B.a Am 4. Oktober 2004 reichte der Beschwerdegegner gegen den
Beschwerdeführer beim Bezirksgericht Liestal Teilklage ein. Er verlangte mit
anlässlich der Hauptverhandlung erweitertem Rechtsbegehren die Bezahlung des
Lohns für die Monate August und September 2004 von je Fr. 10'760.-- zuzüglich
Anteil am 13. Monatslohn und Zins sowie die Rückerstattung einer von ihm für
den Beschwerdeführer bezahlten Telefonrechnung über Fr. 1'910.-- nebst Zins.
Mit Urteil vom 31. Mai 2005 wies der Bezirksgerichtspräsident Liestal die
Klage ab. Er erachtete die zur Verrechnung gestellte Schadenersatzforderung
für ausgewiesen.

B.b  Am 3. Juni 2005 richtete die damalige Vertreterin des Beschwerdegegners
folgendes Schreiben an das Bezirksgericht Liestal:

"Heute läuft die dreitägige Frist zur Erklärung der Appellation in
rubrizierter Angelegenheit ab, welche ich mit vorliegender Eingabe wahre. Da
dem Kläger die Höhe des zu leistenden Kostenvorschusses noch nicht bekannt
ist, kann er die Appellationserklärung nicht abgeben. Ich bitte Sie deshalb,
mir den entsprechenden Betrag noch mitzuteilen."

Mit Verfügung vom 7. Juni 2005 verwies der Bezirksgerichtspräsident Liestal
auf die Kostenlosigkeit des Verfahrens nach Art. 343 Abs. 3 OR und ordnete
an, die Klagpartei habe innerhalb von drei Tagen seit Zustellung zu erklären,
ob ihre Eingabe vom 3. Juni 2005 als Appellation gegen das Urteil vom 31. Mai
2005 zu verstehen sei. Für eine Appellation werde kein Kostenvorschuss
erhoben.

Hierauf teilte die damalige Vertreterin des Beschwerdegegners dem
Bezirksgerichtspräsidenten Liestal am 10. Juni 2005 Folgendes mit:

"Ich nehme Bezug auf Ihre Verfügung vom 7. Juni 2005 und erkläre namens des
Klägers die Appellation in rubrizierter Angelegenheit."
B.c Im Appellationsverfahren vor dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Zivil- und Strafrecht, bestritt der Beschwerdeführer die
Rechtsgültigkeit der Appellationserklärung. Das Kantonsgericht verwarf jedoch
diesen Einwand und betrachtete die Appellation als innert Frist gültig
erklärt. Am 4. April 2006 hob das Kantonsgericht das Urteil des
Bezirksgerichtspräsidenten Liestal vom 31. Mai 2005 in Gutheissung der
Appellation auf und hiess die Klage gut. Anders als der
Bezirksgerichtspräsident gab das Kantonsgericht der Verrechnungseinrede des
Beschwerdeführers nicht statt.

C.
Der Beschwerdeführer beantragt mit staatsrechtlicher Beschwerde, das Urteil
des Kantonsgerichts vom 4. April 2006 aufzuheben. Eventualiter sei die
Angelegenheit zur erneuten Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde und Bestätigung
des angefochtenen Urteils. Das Kantonsgericht beantragt ebenfalls, die
Beschwerde abzuweisen.

D.
Mit Präsidialverfügung vom 12. Juli 2006 wurde das Gesuch des
Beschwerdeführers um Erteilung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 9 BV. Das Kantonsgericht
habe die §§ 215 und 216 ZPO/BL in unhaltbarer Weise ausgelegt und angewendet,
indem es eine gültige Appellationserklärung annahm.

1.1 Nach § 215 ZPO/BL ist das Rechtsmittel ungültig und das Urteil
rechtskräftig, wenn die für die Erklärung eines Rechtsmittels geltenden
Vorschriften nicht eingehalten sind. § 216 Abs. 1 ZPO/BL bestimmt, dass die
Appellation innert der gesetzlichen Frist bei der Kanzlei des Gerichts,
welches das Urteil gefällt hat, mündlich oder schriftlich zu erklären ist und
innert der gleichen Frist der vom erstinstanzlichen Richter festgesetzte
Kostenvorschuss bezahlt werden muss.

§ 216 ZPO/BL präzisiert weder, wie die Appellationserklärung inhaltlich
auszusehen hat, noch enthält er Regeln über die Auslegung der
Appellationserklärung. Somit geht es weniger um die Frage einer willkürlichen
Anwendung der §§ 215 und 216 ZPO/BL als vielmehr um diejenige einer
willkürlichen Auslegung der Prozesserklärung der damaligen Rechtsvertreterin
des Beschwerdegegners vom 3. Juni 2005.

1.2 Nach der Rechtsprechung genügt als Appellationserklärung jede
fristgerecht gegen ein appellables Urteil gerichtete Erklärung, die mit
hinlänglicher Deutlichkeit erkennen lässt, dass der Erklärende eine
Überprüfung des Urteils wünscht und nicht nur seinen Unwillen über dieses zum
Ausdruck bringt (BGE 93 I 209 E. 1 S. 211; Weibel/Rutz, Gerichtspraxis zur
basellandschaftlichen Zivilprozessordnung, 4. Aufl., Liestal 1986, S. 242).

Wie das Bundesgericht mehrfach entschieden hat, ist es überspitzt
formalistisch, eine Prozesserklärung buchstabengetreu auszulegen, ohne nach
dem Sinn zu fragen, der ihr vernünftigerweise beizumessen ist (BGE 113 Ia 94
E. 2 S. 96 f. mit Hinweisen). Prozesserklärungen sind unter Berücksichtigung
von Treu und Glauben auszulegen (BGE 105 II 149 E. 2a S. 152; Vogel/Spühler,
Grundriss des Zivilprozessrechts, 8. Aufl., Bern 2006, Kap. 1 N. 79 f. und
Kap. 7 N. 8), d.h. sie müssen so ausgelegt werden, wie sie der Empfänger nach
den gesamten Umständen in guten Treuen verstehen durfte und musste
(Vertrauensgrundsatz; BGE 132 III 24 E. 4 S. 28; 129 III 675 E. 2.3 S. 680;
Urteil 1A.80/2002 vom 18. Juni 2002, E. 3.1).

Der Vertrauensgrundsatz ist bundesrechtlicher Natur und seine Verletzung ist
in berufungsfähigen Streitigkeiten mit Berufung zu rügen (Art. 84 Abs. 2 OG;
BGE 132 III 24 E. 4 S. 27 f.). Die Auslegung von Parteierklärungen im
kantonalen Verfahren untersteht jedoch grundsätzlich dem kantonalen Recht.
Soweit mangels einschlägiger kantonaler Bestimmungen die Grundsätze des
eidgenössischen Obligationenrechts herangezogen werden, erfolgt ihre
Anwendung nicht als Bundesrecht, sondern als subsidiäres kantonales Recht
(BGE 116 Ia 56 E. 3a S. 57). Vorliegend kann daher geprüft werden, ob das
Kantonsgericht bei der Auslegung der Erklärung vom 3. Juni 2005 in Willkür
verfallen ist.

Dabei ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung Willkür im Sinne
von Art. 9 BV nicht schon dann vorliegt, wenn eine andere Lösung ebenfalls
vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht hebt einen
kantonalen Entscheid nur auf, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt zudem nur vor, wenn nicht
bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar
ist (BGE 132 III 209 E. 2.1; 131 I 57 E. 2; 129 I 8 E. 2.1 mit Hinweisen).

1.3 Das Kantonsgericht hielt fest, dass die Eingabe der Rechtsvertreterin des
Beschwerdegegners vom 3. Juni 2005 rechtzeitig innert der dreitägigen
Appellationsfrist erfolgte. Die Eingabe sei jedoch in mehrfacher Hinsicht
unklar. Zum einen sei schon deren Titel "Zusätzliche Beweismittel und
Noveneingabe" missverständlich bzw. falsch. Zum andern sei das Schreiben auch
inhaltlich zweideutig. So erkläre die Rechtsvertreterin im ersten Satz, dass
sie mit ihrer Eingabe die Appellationsfrist wahre, wogegen sie im zweiten
Satz feststelle, dass der Kläger die Appellationserklärung nicht abgeben
könne, da ihm die Höhe des zu leistenden Kostenvorschusses nicht bekannt sei.
Nachdem die Vorinstanz mit Verfügung vom 7. Juni 2005 die Rechtsvertreterin
zur Klarstellung darüber aufgefordert habe, ob das Schreiben vom 3. Juni 2005
als Appellation zu verstehen sei, habe diese namens des Klägers die
Appellation erklärt. Zwar spreche die Rechtsvertreterin in ihrem ersten
Schreiben ausdrücklich davon, dass der Kläger die Appellation nicht erklären
könne und versäume es auch im zweiten Schreiben klarzustellen, dass die erste
Eingabe als Appellationserklärung zu verstehen sei. Jedoch habe sie mit ihrem
ersten Schreiben eindeutig ihren Willen bekundet, die Appellationsfrist zu
wahren. Daraus sei unzweideutig erkennbar, dass sie gegen das
erstinstanzliche Urteil habe appellieren wollen, was im Lichte der
Rechtsprechung genüge.

1.4 Unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkürprüfung lässt sich diese
Auslegung halten. Das Kantonsgericht anerkennt zwar die Unklarheiten und
Ungereimtheiten im Vorgehen der Rechtsvertreterin, misst aber ihrer
ausdrücklichen Erklärung im Schreiben vom 3. Juni 2005, die Appellationsfrist
wahren zu wollen, die entscheidende Bedeutung bei. Dies ist durchaus
nachvollziehbar, denn die Erklärung des Willens, die Appellationsfrist zu
wahren, umfasst implizit auch die Erklärung, appellieren zu wollen. Sonst
macht die Fristwahrung keinen Sinn. Darauf durfte das Kantonsgericht
ausschlaggebend abstellen und die nachfolgende Ausführung, der Kläger könne
die Appellationserklärung nicht abgeben, weil er den zu leistenden
Kostenvorschuss noch nicht kenne, in den Hintergrund bzw. in blossen Kontext
mit dem Kostenvorschuss rücken. Es ist daher noch vertretbar, jedenfalls
nicht geradezu willkürlich, wenn das Kantonsgericht schloss, die Eingabe vom
3. Juni 2005 sei als Appellationserklärung zu verstehen.
Insbesondere wurde die Appellation nicht unter der Bedingung erklärt, dass
der Kostenvorschuss bekannt gegeben werde. § 216 Abs. 1 ZPO/BL verlangt, dass
innert der Appellationsfrist auch der vom erstinstanzlichen Richter
festgesetzte Kostenvorschuss zu bezahlen ist. Diese Voraussetzung meinte die
Rechtsvertreterin offensichtlich nicht einhalten zu können, da ihr die Höhe
des Kostenvorschusses noch nicht bekannt gegeben worden war. Im Umstand, dass
sie (in Verkennung der Kostenlosigkeit des Verfahrens) um Bekanntgabe des zu
leistenden Kostenvorschusses bat, liegt keine bedingte Erklärung der
Appellation.

2.
Aus dem Dargelegten ergibt sich demnach, dass die staatsrechtliche Beschwerde
abzuweisen ist. Kosten sind keine zu erheben (Art. 343 Abs. 3 OR). Hingegen
hat der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG; BGE 115 II 30 E. 5c S. 42;
vgl. auch BGE 124 II 409 E. 12 S. 436). Der Anwalt des Beschwerdegegners
reichte eine Kostennote über Fr. 2'979.20 (inkl. Auslagen und MWST) ein. Bei
Streitigkeiten mit einem Streitwert von rund Fr. 23'000.-- wird indessen
praxisgemäss eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- (inkl. Auslagen und
MWST) zugesprochen, was auch im vorliegenden Fall, in dem es lediglich um die
Frage der Rechtsgültigkeit der Appellation geht, gerechtfertigt ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Zivil- und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Juli 2006

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: