Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4P.142/2006
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{T 0/2}
4P.142/2006 /ech

Urteil vom 25. September 2006

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Favre,
Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiberin Sommer.

A. ________ AG,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christoph J. Joller,

gegen

B.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Martin Thomann,
Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz, Postfach,
6002 Luzern.

Art. 9 BV (Zivilprozess; Willkür),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, I. Kammer als
Appellationsinstanz, vom 30. März 2006.

Sachverhalt:

A.
B. ________ (Beschwerdegegner) arbeitete seit 17. August 1992 bei der
A.________ AG (Beschwerdeführerin). Die Beschwerdeführerin kündigte ihm am 7.
Juni 2004 fristlos wegen wiederholter sexueller Belästigung von
Mitarbeiterinnen und Ehepartnerinnen von Mitarbeitern.
Im Januar 2004 hat die Beschwerdeführerin von einem Vorfall sexueller
Belästigung, begangen durch den Beschwerdegegner Ende 2003 an einer
Mitarbeiterin, Kenntnis erhalten. Dieser Vorfall wurde im Januar 2004
zwischen den Parteien als erledigt abgeschlossen. Die Beschwerdeführerin
stellte zum damaligen Zeitpunkt eine weitere Zusammenarbeit mit dem
Beschwerdegegner nicht in Frage.
Am 24. Mai 2004 orientierte C.________, Sekretärin in der Zweigniederlassung
X.________, den damaligen Vorgesetzten des Beschwerdegegners, D.________,
über zwei weitere Vorfälle sexueller Belästigung, die sich der
Beschwerdegegner anlässlich eines Betriebsfests im Jahr 2002 zu Schulden habe
kommen lassen. Am gleichen Tag, eventuell einen Tag später, hat D.________
die Informationen telefonisch an den Direktor des Personalwesens, E.________,
weitergeleitet. Dieser hat in der ersten Juniwoche bzw. am 6. Juni 2004 mit
C.________ und allen betroffenen Personen Gespräche geführt, in denen die
Vorfälle bestätigt wurden. Am 7. Juni 2004 wurde der Beschwerdegegner zur
Rede gestellt. Er hat die Vorwürfe nicht bestritten, worauf ihm unverzüglich
die fristlose Kündigung erklärt wurde.

B.
Der Beschwerdegegner belangte die Beschwerdeführerin am 19. November 2004 vor
dem Amtsgericht Luzern-Land auf Bezahlung eines richterlich zu bestimmenden,
jedoch Fr. 75'000.-- übersteigenden Betrags, zuzüglich 5 % Zins seit 20.
September 2004. Am 6. September 2005 sprach das Amtsgericht dem
Beschwerdegegner Fr. 65'043.75 nebst 5 % Zins seit 20. September 2004 zu, da
es die fristlose Kündigung als ungerechtfertigt betrachtete.
Gegen dieses Urteil gelangte die Beschwerdeführerin an das Obergericht des
Kantons Luzern. Sie beantragte im Wesentlichen, die Klage abzuweisen. Der
Beschwerdegegner reichte Anschlussappellation ein und verlangte in der
Hauptsache, die Beschwerdeführerin zur Bezahlung von Fr. 75'043.75 nebst 5 %
Zins seit 20. September 2004 zu verpflichten.
Das Obergericht verurteilte die Beschwerdeführerin am 30. März 2006, dem
Beschwerdegegner Fr. 65'043.75 nebst 5 % Zins seit 20. September 2004 zu
bezahlen. Anderslautende und weitergehende Begehren wies es ab.

C.
Die Beschwerdeführerin beantragt, das Urteil des Obergerichts vom 30. März
2006 wegen willkürlicher Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts
aufzuheben.
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht
beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Parallel zur staatsrechtlichen Beschwerde hat die Beschwerdeführerin in
gleicher Sache eidgenössische Berufung eingelegt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht hat vorliegend offen gelassen, ob ein wichtiger Grund, der
für die Begründung einer fristlosen Entlassung ausreicht, gegeben wäre. Es
hielt dafür, dass die fristlose Kündigung ohnehin verspätet ausgesprochen
worden sei und die Beschwerdeführerin somit ihr Recht auf fristlose Auflösung
des Arbeitsverhältnisses verwirkt habe. Die Beschwerdeführerin habe zu lange
gewartet, bis sie den von C.________ zu Tage geförderten Verfehlungen des
Beschwerdegegners nachgegangen sei. Es sei ihr daher subjektiv zumutbar
gewesen, die ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Die Abklärungen der
Beschwerdeführerin hätten kaum Zeit in Anspruch genommen. Innert äusserst
kurzer Frist habe sie gesicherte Kenntnisse über das Fehlverhalten des
Beschwerdegegners anlässlich des Betriebsfests im Jahr 2002 erhalten. Eine
(weitere) Überlegungszeit sei nicht erforderlich gewesen, da dem
Beschwerdeführer die fristlose Entlassung gleich anlässlich der Konfrontation
vom 7. Juni 2004 eröffnet worden sei. Es sei kein zentraler Grund
ersichtlich, weshalb die Beschwerdeführerin mit ihren Abklärungen bis in die
erste Juniwoche bzw. bis zum 6. Juni 2004 zugewartet habe.

2.
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, das Obergericht habe willkürlich
festgestellt, dass sie innert äusserst kurzer Frist gesicherte Kenntnisse
über das Fehlverhalten des Beschwerdegegners erhalten habe. Dies stehe mit
der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch und sei offensichtlich
unzutreffend. Die Erlangung gesicherter Kenntnisse habe einer vertieften
Abklärung bedurft. Anlässlich des Telefongesprächs zwischen C.________ und
D.________ habe sie erste Hinweise auf (weiteres) Fehlverhalten des
Beschwerdegegners erhalten. Mit diesen Informationen habe sie jedoch noch
keineswegs gesicherte Kenntnisse besessen. Weitere Abklärungen seien daher
notwendig gewesen, die in Form von Einzelgesprächen vorgenommen worden seien.
Die Abklärungen seien unverzüglich an die Hand genommen und zeitverzugslos
durchgeführt worden. Diese Mitarbeitergespräche hätten den Verdacht erhärtet,
worauf kurzfristig eine Konfrontation mit dem Beschwerdeführer in Gegenwart
eines Zeugen angesetzt worden sei. Anlässlich dieser Konfrontation habe der
Beschwerdegegner die Vorwürfe zumindest implizit zugegeben. Erst an diesem
Tag habe sie demnach definitive Kenntnis vom wichtigen Grund erhalten.
Diese Rüge beruht auf einem unzutreffenden Verständnis des angefochtenen
Urteils und stösst daher ins Leere. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass das
Obergericht nicht feststellte, sie habe bereits mit den Informationen
anlässlich des Telefonats mit C.________ gesicherte Kenntnisse über das
Fehlverhalten des Beschwerdeführers erlangt. Das Obergericht führte vielmehr
aus, dass die Abklärungen, mit denen die Beschwerdeführerin erst in der
ersten Juniwoche bzw. am 6. Juni 2004 begonnen habe, nicht lange gedauert
hätten, da der Beschwerdeführer bereits am 7. Juni 2004 mit den Vorwürfen
konfrontiert werden konnte und er diese nicht bestritt. Mit seiner
Feststellung, die Beschwerdeführerin habe innert äusserst kurzer Frist
gesicherte Kenntnisse über das Fehlverhalten des Beschwerdegegners erhalten,
hat das Obergericht - richtig verstanden - lediglich festgehalten, die
Beschwerdeführerin habe bereits kurz nach Beginn der Abklärungen gesicherte
Kenntnisse erlangt. Inwiefern es insoweit in Willkür gefallen sein soll,
zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf und ist in keiner Weise ersichtlich.
Im Übrigen hat das Obergericht seine Folgerung, die Beschwerdeführerin habe
das Recht zur fristlosen Vertragsauflösung verwirkt, allein auf den Vorwurf
gestützt, die Beschwerdeführerin habe zu lange zugewartet, bis sie den gegen
den Beschwerdegegner erhobenen Vorwürfen nachgegangen sei. Inwiefern es sich
dabei auf die gerügte Tatsachenfeststellung gestützt haben soll, so dass der
angefochtene Entscheid, sollte diese willkürlich sein, auch im Ergebnis
unhaltbar wäre, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf (Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG) und ist auch nicht ersichtlich. Schliesslich liegt zudem in ihrer blossen
Behauptung, die Abklärungen seien unverzüglich an die Hand genommen und
zeitverzugslos durchgeführt worden, keine rechtsgenüglich begründete
Willkürrüge (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 26 E. 2.1, 258 E. 1.3; 129 I
113 E. 2 S. 120).
Nach dem Dargelegten ist insoweit auf die Beschwerde nicht einzutreten.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt in einem zweiten Punkt, es sei offensichtlich
willkürlich, dass das Obergericht festgestellt habe, ein zentraler Grund sei
nicht ersichtlich, weshalb die Beschwerdeführerin mit ihren Abklärungen bis
in die erste Juniwoche bzw. bis zum 6. Juni 2004 zugewartet habe.
Insbesondere bringt sie vor, das Obergericht verfalle schlicht in Willkür,
wenn es keinen zentralen Grund sehen wolle, weshalb die Termine erst in der
ersten Juniwoche stattgefunden hätten. Die schwerwiegenden Vorwürfe würden
einen heiklen Bereich betreffen und eine vertiefte, seriöse Abklärung mit
Koordination und Wahrnehmung der notwendigen Termine erfordern. Es dürfe
nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um
eine Grossfirma handle, bei welcher die administrativen Wege länger seien als
beispielsweise bei einer KMU.
Das Obergericht hat nicht beweismässig festgestellt, dass überhaupt kein
Grund dafür vorliege, dass die Beschwerdeführerin mit ihren Abklärungen bis
in die erste Juniwoche bzw. bis am 6. Juni 2004 zugewartet hat. Dies wohl
schon deshalb, weil sich immer irgendwelche Gründe anführen liessen, weshalb
eine gebotene Handlung nicht sofort vorgenommen wurde. Die Frage, ob
irgendwelche Gründe vorliegen, ist denn auch nicht bedeutend für den
Entscheid, ob die Abklärungen rechtzeitig vorgenommen wurden und demnach die
fristlose Kündigung nicht als verwirkt zu betrachten wäre. Vielmehr müsste
ein wesentlicher Grund vorliegen. Dementsprechend hat das Obergericht denn
auch festgestellt, es sei kein zentraler Grund für das Zuwarten ersichtlich.
Ob ein zentraler, mithin ein wesentlicher Grund vorliegt, der es
rechtfertigt, dass die Beschwerdeführerin mit ihren Abklärungen zugewartet
hat, stellt indes eine Rechtsfrage dar, die dem Bundesgericht in der
vorliegenden berufungsfähigen Streitsache mit Berufung zu unterbreiten ist
(Art. 43 OG). Die subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde steht dazu nicht
offen (Art. 84 Abs. 2 OG; BGE 129 I 173 E. 1.1 S. 174; 120 II 384 E. 4a).
Daher ist auf die vorliegende Rüge nicht einzutreten.

4.
Zusammenfassend ergibt sich demnach, dass auf die staatsrechtliche Beschwerde
nicht eingetreten werden kann.
In arbeitsrechtlichen Streitigkeiten ist das Verfahren bis zu einem
Streitwert von Fr. 30'000.-- kostenlos (Art. 343 Abs. 3 OR). Da diese Grenze
im vorliegenden Fall überschritten wird, ist die Bestimmung nicht anwendbar.
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Verfahrenskosten zu tragen und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 4'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, I.
Kammer als Appellationsinstanz, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. September 2006

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: