Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.710/2006
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2A.710/2006 /fco

Urteil vom 23. Mai 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Wurzburger, Müller,
Bundesrichterin Yersin,
Ersatzrichter Locher,
Gerichtsschreiber Fux.

X. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Arnold Weber,

gegen

Kantonales Steueramt St. Gallen,
Davidstrasse 41, 9001 St. Gallen,
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Spisergasse 41, 9001 St. Gallen.

Revision der Steuerjahre 2001 - 2003
(Staats- und Gemeindesteuern),

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 19. Oktober 2006.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wohnt mit ihren beiden minderjährigen Kindern (geboren 1990 und
1991), die unter ihrer Obhut stehen, in Bad Ragaz. Dort übt sie eine
Teilzeitbeschäftigung als kaufmännische Angestellte aus. Für die
Steuerperiode 2001 wurde sie am 17. Juni 2002, für die Steuerperiode 2002 am
16. Februar 2004 und für die Steuerperiode 2003 am 26. April 2004 jeweils zum
Tarif für Alleinstehende veranlagt. Diese Veranlagungen blieben unangefochten
und erwuchsen in Rechtskraft.

B.
Mit Urteil vom 6. Juli 2004 erkannte das Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen, die Regelung von Art. 50 Abs. 3 des kantonalen Steuergesetzes vom 9.
April 1998 (StG/SG), wonach das Vollsplitting nur den gemeinsam
steuerpflichtigen Ehegatten gewährt werde, widerspreche Art. 11 Abs. 1 des
Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten
Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14). Gestützt darauf erliess
das Kantonale Steueramt mit Kreisschreiben vom 13. Juli 2004 an die
Gemeindesteuerämter einen Veranlagungsstopp für Einelternfamilien. Eine vom
Kantonalen Steueramt gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts erhobene
Beschwerde wurde vom Bundesgericht mit Urteil vom 26. Oktober 2005 abgewiesen
(BGE 131 II 697).

Am 22. November 2005 erliess die Regierung des Kantons St. Gallen die
Verordnung über die Änderung des Steuergesetzes. Sie strich den pauschalen
Einelternabzug gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c StG/SG und sah das Vollsplitting
von Art. 50 Abs. 3 StG/SG auch für alleinstehende steuerpflichtige Personen
vor, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben
und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten. Übergangsrechtlich sollte
diese neue Regelung für alle am 29. November 2005 noch nicht rechtskräftigen
Veranlagungen ab Steuerperiode 2001 gelten.

C.
X.________ ersuchte am 28. Februar 2006 das Steueramt Bad Ragaz, die
definitiven Veranlagungen für die Staats- und Gemeindesteuern 2001 bis 2003
zu revidieren und ihr das Vollsplitting zu gewähren. Das Kantonale Steueramt
trat auf das Revisionsbegehren mit Entscheid vom 7. März 2006 nicht ein.
Auf Rekurs hin bestätigte die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St.
Gallen am 15. Juni 2006 das Nichteintreten auf das Revisionsgesuch für die
Veranlagung 2001 und wies dasjenige für die Veranlagung 2002 ab. Das
Revisionsbegehren für die Veranlagung 2003 hiess sie jedoch gut, weil im Jahr
2003 eine grosse Zahl von Einelternfamilien nach der Neuregelung veranlagt
worden sei und es dem Gleichheitsgebot widerspräche, wenn der Rekurrentin die
Revision verweigert würde.

Gegen den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission erhob X.________
Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen. Sie beantragte,
der Entscheid der Verwaltungsrekurskommission sei aufzuheben, soweit für 2001
das Nichteintreten bestätigt und für 2002 die Revision abgewiesen wurde. Das
Kantonale Steueramt erhob ebenfalls Beschwerde und beantragte, der
Rekursentscheid sei aufzuheben, soweit er die Revision für das Steuerjahr
2003 bejahe.

Mit Urteil vom 19. Oktober 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen die Beschwerde von X.________ ab, hiess diejenige des Kantonalen
Steueramtes gut und hob den Rekursentscheid insoweit auf.

D.
X.________ hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts am 24. November 2006
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben. Die
Beschwerdeführerin beantragt, das angefochtene Urteil vom 19. Oktober 2006
sei aufzuheben und die Streitsache sei zur Vornahme der Revision für die
Steuerjahre 2001, 2002 und 2003 und zur Gewährung des Vollsplittings an die
Vorinstanz bzw. an das Kantonale Steueramt zurückzuweisen.

E.
Das Kantonale Steueramt und das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen
sowie die Eidgenössische Steuerverwaltung beantragen, die Beschwerde
abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts erging am 19. Oktober 2006.
Auf das vorliegende Verfahren findet somit noch das bis Ende 2006 geltende
Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) Anwendung (vgl. Art. 132 Abs. 1 des am 1. Januar 2007
in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht,
BGG; SR 173.110).

2.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, welches
Rechtsmittel zulässig und in welchem Umfang darauf einzutreten ist (BGE 132 I
140 E. 1.1 S. 142, mit Hinweisen).

2.1 Der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
betrifft die Revision der Einschätzungen der Beschwerdeführerin für die
Kantons- und Gemeindesteuern 2001 bis 2003. Er unterliegt damit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht (Art. 73 Abs. 1 des
Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten
Steuern der Kantone und Gemeinden, StHG; SR 642.14; vgl. BGE 130 II 202 E. 1
S. 204, mit Hinweisen). Auf die form- und fristgerecht eingereichte
Beschwerde der gemäss Art. 73 Abs. 2 StHG bzw. Art. 103 lit. a OG
legitimierten Beschwerdeführerin ist grundsätzlich einzutreten.

Erweist sich die Beschwerde als begründet, so hebt das Bundesgericht den
Entscheid auf und weist die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurück (Art. 73 Abs. 3 StHG). Deshalb ist der Antrag, die Streitsache sei zur
Vornahme der Revision unter Gewährung des Vollsplittings an die Vorinstanz
bzw. an das Kantonale Steueramt zurückzuweisen, in der vorgetragenen Form
ungültig. Insoweit kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden (vgl. BGE
131 II 710 E. 1.1 in fine).

2.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde können die Verletzung von
Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens,
sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gerügt werden (Art. 104 lit. a und lit. b OG). Hat - wie hier -
als Vorinstanz eine richterliche Behörde entschieden, ist das Bundesgericht
allerdings an deren Sachverhaltsfeststellung gebunden, wenn der Sachverhalt
nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung
wesentlicher Verfahrensvorschriften ermittelt wurde (Art. 105 Abs. 2 OG).
Offensichtlich unrichtig ist eine Sachverhaltsermittlung nicht schon dann,
wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern
1983, S. 286, mit Hinweisen).

2.3 Das Bundesgericht wendet im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren
das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 114 Abs. 1 OG nicht an
die Begründung der Parteibegehren gebunden und kann deshalb die Beschwerde
auch aus andern als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen
(BGE 132 II 47 E. 1.3 S. 50, mit Hinweisen).

Bei Verwaltungsgerichtsbeschwerden nach Art. 73 StHG prüft das Bundesgericht
frei, ob das kantonale Recht und dessen Anwendung durch die kantonalen
Instanzen mit den Vorgaben des Steuerharmonisierungsgesetzes übereinstimmen.
Soweit das Steuerharmonisierungsgesetz dem kantonalen Gesetzgeber einen
Gestaltungsspielraum einräumt, richtet sich die Prüfungsbefugnis des
Bundesgerichts auch im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach den für
die staatsrechtliche Beschwerde geltenden Grundsätzen (BGE 131 II 710 E. 1.2
S. 713, mit Hinweisen).

3.
Umstritten ist, ob die Vorinstanzen die Revision der Steuerveranlagungen der
Jahre 2001, 2002 und 2003 hätten vornehmen bzw. zulassen müssen.

3.1 Eine rechtskräftige Verfügung oder ein rechtskräftiger Entscheid kann
gemäss Art. 197 Abs. 1 StG/SG auf Antrag oder von Amtes wegen zugunsten des
Steuerpflichtigen unter anderem revidiert werden, wenn: "erhebliche Tatsachen
oder entscheidende Beweismittel entdeckt werden" (lit. a); "die erkennende
Behörde erhebliche Tatsachen oder entscheidende Beweismittel, die ihr bekannt
waren oder bekannt sein mussten, ausser acht gelassen oder in anderer Weise
wesentliche Verfahrensgrundsätze verletzt hat" (lit. b); "ein Verbrechen oder
Vergehen die Verfügung oder den Entscheid beeinflusst hat" (lit. c). Die
Revision ist ausgeschlossen, wenn der Antragsteller als Revisionsgrund
vorbringt, was er bei der ihm zumutbaren Sorgfalt schon im ordentlichen
Verfahren hätte geltend machen können (Art. 197 al. 2 StG/SG).
Die entsprechende Regelung in Art. 51 Abs. 1 und Abs. 2 StHG stimmt mit der
zitierten kantonalen (fast wörtlich) überein (vgl. auch den gleich lautenden
Art. 147 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte
Bundessteuer [DBG; SR 642.11]).

Wo die bundessteuergesetzliche und die harmonisierungsrechtliche Regelung
vollkommen übereinstimmen, drängt sich deren identische Auslegung auf. Dies
im Interesse der vertikalen Steuerharmonisierung, die verlangt, dass
Rechtsfragen im kantonalen und im eidgenössischen Recht der direkten Steuern
nach Möglichkeit gleich beurteilt werden. So wird mit dem Erlass des
Steuerharmonisierungsgesetzes auch der Zweck verfolgt, die Rechtsanwendung zu
vereinfachen (zur Publikation bestimmtes Urteil 2A.644/2006 vom 14. Februar
2007, E. 3.2; BGE 130 II 65 E. 5.2 S. 73 f., je mit Hinweisen).

3.2 Die Beschwerdeführerin behauptet zu Recht nicht, das erwähnte
bundesgerichtliche Urteil (BGE 131 II 697) stelle einen Revisionsgrund dar.
Die Revision gemäss Art. 51 StHG und Art. 197 StG/SG (bzw. Art. 147 DBG)
bezweckt nämlich die Berichtigung prozessualer Mängel oder tatsächlicher
Unrichtigkeiten und nicht die Durchsetzung eines anderen Rechtsstandpunkts.
Eine neue rechtliche Würdigung eines Sachverhalts, eine neue Rechtsprechung
oder auch die Änderung einer bestehenden Rechtsprechung bilden keinen
Revisionsgrund (statt vieler: Urteil 2P.18/2005 vom 14. Februar 2005, E. 3,
mit Hinweisen; vgl. betreffend Art. 147 DBG auch: Urteil 2P.273/2006 und
2A.617/2006 vom 17. April 2007, E. 3.3).
3.3 Die Beschwerdeführerin verlangt aber sinngemäss, die fehlerhaften
Veranlagungen seien zu korrigieren, weil sie zu einem schockierenden Ergebnis
führten, das dem Gerechtigkeitsempfinden widerspreche, somit gegen die
Rechtsgleichheit verstosse.

Für das Recht der direkten Bundessteuer hat es das Bundesgericht in ständiger
Rechtsprechung im Interesse der Rechtssicherheit bisher stets abgelehnt, aus
andern als den in Art. 147 Abs. 1 DBG genannten Gründen rechtskräftige
Veranlagungen zu korrigieren (Urteil 2P.273/2006 und 2A.617/2006 vom
17. April 2007, E. 4.1; Urteil 2P.34/2006 und 2A.52/2006 vom 16. Juni 2006,
E. 3.4; Urteil 2A.566/2005 vom 27. September 2005, E. 3; ASA 70, 755 E. 7b S.
762 f.; ASA 67, 391 E. 3e S. 398 f., je mit Hinweisen).

Diese Praxis gilt ebenfalls für Art. 51 StHG (Urteil 2P.273/2006 und
2A.617/2006 vom 17. April 2007, E. 6.1; Urteil 2P.198/2003 und 2A.346/2003
vom 12. Dezember 2003, E. 5.1, in: StR 60/2005, 45). Der vorliegende Fall
gibt keinen Anlass, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, zumal die
Belastungsrelationen, die sich aus der Anwendung des unrevidierten Rechts
ergeben, als sachgemässer erscheinen als diejenigen aufgrund des im Anschluss
an BGE 131 II 697 geänderten Rechts. Von einem schockierenden Ergebnis kann
jedenfalls nicht die Rede sein.

3.4 Die Beschwerdeführerin wendet schliesslich ein, die umstrittenen
Veranlagungen beruhten auf nichtigen Verfügungen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Verfügung nichtig, d.h.
absolut unwirksam, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn
er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und zudem die Annahme
der Nichtigkeit die Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährdet (statt vieler:
Urteil 2P.112/2003 vom 29. August 2003, E. 2.4.1, mit Hinweisen).

Es trifft zu, dass die fraglichen Steuern auf einer harmonisierungswidrigen
Grundlage erhoben wurden (BGE 131 II 697). Von nichtigen Verfügungen im
umschriebenen Sinn kann jedoch bei der gegebenen Sachlage offensichtlich
nicht gesprochen werden. Im Übrigen sind rechtsfehlerhafte Verfügungen, die
auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg angefochten werden können, grundsätzlich
nicht nichtig. Denn es würde die Rechtssicherheit ernsthaft gefährden und
Sinn und Zweck des (Steuer-)Verfahrens vereiteln, wenn die formelle
Rechtskraft einer (mangelhaften) Verfügung im Nachhinein jederzeit in Frage
gestellt werden könnte. So müssten etwa im vorliegenden Fall Tausende von
allenfalls formell rechtskräftigen Veranlagungen nachträglich von Amtes wegen
korrigiert werden.

4.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich dem Gesagten zufolge als
unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Kosten des
Verfahrens vor Bundesgericht zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 153 und 153a OG). Eine Parteientschädigung ist nicht geschuldet (Art.
159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen sowie der Eidgenössischen Steuerverwaltung schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. Mai 2007

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: