Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2A.257/2006
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{T 0/2}
2A.257/2006/vje

Urteil vom 1. September 2006
II. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Hatzinger.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Robert Frauchiger,

gegen

Migrationsamt des Kantons Aargau,
Postfach, 5001 Aarau,
Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau, Postfach, 5001 Aarau.

Aufhebung der Ausweisung und Wiedererwägungsgesuch um Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Rekursgerichts im
Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 24. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Das Bundesgericht bestätigte mit Urteil 2A.448/2002 vom 6. Februar 2003 die
Ausweisung von X.________ (geb. 1968, aus dem Kosovo) aufgrund dessen
Verurteilung zu einer dreieinvierteljährigen Zuchthausstrafe wegen
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Am 20. März 2003 reichte
dieser mit seiner Ehefrau Y.________ beim Migrationsamt des Kantons Aargau
ein Gesuch um Wiedererwägung der Ausweisung ein. Der Gesuchsteller sei
ernsthaft psychisch erkrankt und seine Ehefrau erwarte ein zweites Kind. Das
Migrationsamt trat am 21. März 2003 auf das Gesuch nicht ein; eine Einsprache
wies es am 8. Mai 2003 ab. Die gegen den Einspracheentscheid geführte
Beschwerde hiess das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau am 6.
Juni 2003 gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Angelegenheit
zur Sachverhaltsergänzung sowie Neubeurteilung an das Migrationsamt zurück.
Gestützt auf diverse Abklärungen wies dieses die Einsprache am 3. Oktober
2003 erneut ab, im Wesentlichen mit der Begründung, X.________ könne im
Kosovo adäquat medizinisch behandelt werden. Eine zweite Beschwerde hiess das
Rekursgericht am 7. Mai 2004 wiederum gut, hob den Einspracheentscheid vom 3.
Oktober 2003 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung bzw. erneuten
Sachverhaltsergänzung an das Migrationsamt zurück. Dieses habe insbesondere
ein neues Arztzeugnis einzuholen und die Behandelbarkeit von X.________ im
Kosovo abzuklären. Aufgrund weiterer Abklärungen, namentlich auch eines
psychiatrischen Gutachtens, wies das Migrationsamt die Einsprache am 14. März
2005 wiederum ab.

B.
Gegen diesen Einspracheentscheid gelangten X.________ und Y.________ an das
kantonale Rekursgericht im Ausländerrecht, welches die Beschwerde am 24. März
2006 abwies.

C.
X.________ hat mit seiner Ehefrau am 11. Mai 2006 gegen dieses Urteil des
Rekursgerichts Verwaltungsgerichtsbeschwerde, eventuell staatsrechtliche
Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht mit den Anträgen, den angefochtenen
Entscheid aufzuheben und das Migrationsamt anzuweisen, die
Ausweisungsverfügung vom 9. März 2001 wiederzuerwägen; zudem sei eine
Schlussverhandlung nach Art. 112 OG durchzuführen und die unentgeltliche
Rechtspflege bzw. Rechtsverbeiständung zu gewähren.
Antragsgemäss hat der Abteilungspräsident am 16. Juni 2006 der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Das Rekursgericht und das Bundesamt für Migration beantragen, die Beschwerde
abzuweisen. Nach Auffassung des Migrationsamts ist das angefochtene Urteil zu
bestätigen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gegen fremdenpolizeiliche Ausweisungsverfügungen steht nach Art. 97 ff.
OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen. Ein Ausschlussgrund im Sinne der
Art. 99 bis 102 OG liegt nicht vor; insbesondere fällt die Ausweisung nicht
unter die in Art. 100 Abs. 1 lit. b OG aufgeführten Verfügungen, sofern sie -
wie vorliegend - gestützt auf Art. 10 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931
über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) erging.

Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch darum, ob die kantonale Behörde auf
das Gesuch des Beschwerdeführers um Wiedererwägung seiner Ausweisung hätte
eintreten müssen; Gegenstand bildet damit einzig die Frage, ob der
Beschwerdeführer einen Anspruch darauf hat, dass über die Ausweisung nochmals
entschieden wird. Dies wird an sich nach dem kantonalen Verfahrensrecht
beurteilt. Da in der Sache indes Bundesverwaltungsrecht massgebend ist,
dessen richtige Anwendung durch eine bundes(verfassungs)rechtswidrige
Handhabung des kantonalen Verfahrensrechts vereitelt werden könnte, ist der
Entscheid des Rekursgerichts, mit dem das Nichteintreten auf das
Wiedererwägungsgesuch geschützt wird, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
anfechtbar (BGE 127 II 264 E. 1a S. 267; Urteile 2A.476/ 2005 vom 9. Mai
2006; 2A.8/2004 vom 9. Januar 2004, E. 2.2.1; 2A.383/2001 vom 23. November
2001, E. 1b/bb); für eine staatsrechtliche Beschwerde bleibt damit kein Raum
(Art. 84 Abs. 2 OG).

1.2 Der Beschwerdeführer verlangt die Durchführung einer "Schlussverhandlung"
nach Art. 112 OG. Danach kann der Präsident eine mündliche Parteiverhandlung
anordnen, worauf aber kein Anspruch besteht. Das Bundesgericht ist im
Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an den von einer richterlichen
Behörde als Vorinstanz festgestellten Sachverhalt grundsätzlich gebunden
(vgl. Art. 105 Abs. 2 OG). Eine Parteiverhandlung kommt daher regelmässig nur
in Frage, wenn das Bundesgericht ausnahmsweise den Sachverhalt ergänzt
(Urteil 2A.448/2002 vom 6. Februar 2003, E. 1.3); das trifft hier nicht zu.
Das Bundesgericht kann auf dem Weg der Aktenzirkulation entscheiden, wenn
sich Einstimmigkeit ergibt und kein Richter mündliche Beratung verlangt (Art.
36b OG). Es besteht kein Anlass, über die vorliegende Angelegenheit an einer
öffentlichen Sitzung zu befinden.

2.
2.1 Eine kantonale Behörde muss sich mit einem Wiedererwägungsgesuch dann
förmlich befassen und allenfalls auf eine rechtskräftige Verfügung
zurückkommen, wenn das kantonale Recht dies vorsieht und die entsprechenden
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind oder wenn unmittelbar aus der
Bundesverfassung fliessende Grundsätze dies gebieten. Ob das
Wiedererwägungsgesuch von den kantonalen Behörden materiell zu beurteilen
ist, hängt davon ab, ob sich der Sachverhalt seit Beurteilung des ersten
Gesuchs derart wesentlich geändert hat, dass ein anderes Ergebnis in Betracht
fallen könnte (BGE 120 Ib 42 E. 2b S. 46 f.; Urteile 2A.476/2005 vom 9. Mai
2006, E. 2; 2A.8/2004 vom 9. Januar 2004 E. 2.2.2; 2A.383/2001 vom 23.
November 2001, E. 2e).

2.2 Im Wiedererwägungsverfahren stand die Frage im Vordergrund, ob sich der
psychische Gesundheitszustand des Beschwerdeführers nach der
Ausweisungsverfügung verschlechtert habe, was das Migrationsamt und im ersten
Rechtsgang auch das Rekursgericht bejahte; zudem fragte sich, ob
gegebenenfalls das Leiden im Heimatland des Beschwerdeführers adäquat
behandelt werden könne. Das Rekursgericht stellte in der Folge aber fest, der
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers habe sich im Laufe des zweiten
Halbjahres 2004 verbessert; er sei seit März 2005 wieder voll arbeits- und
vermittlungsfähig gewesen. Unter diesen Umständen könne nicht davon
gesprochen werden, dass sich nach dem ursprünglichen Ausweisungsentscheid
eine neue Tatsache ergeben habe, die es rechtfertige, die Angelegenheit einer
erneuten Überprüfung zu unterziehen. Damit erübrigten sich auch weitere
Abklärungen, ob der Beschwerdeführer im Kosovo adäquat behandelt werden
könne.

2.3 Der Beschwerdeführer macht unter anderem geltend, ihm sei mit dieser
Begründung das rechtliche Gehör verweigert worden.

2.3.1 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches
Gehör. Dieses dient der Sachaufklärung und stellt ein
persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar,
der in die Rechtstellung einer Person eingreift. Dazu gehört insbesondere das
Recht, sich vor Erlass eines solchen Entscheides zur Sache zu äussern,
erhebliche Beweise einzubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit
erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher
Beweise mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn
dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 132 II 257 E. 4.2
S. 267).

2.3.2 Zwar findet sich eine Kopie der Verfügung des kantonalen Amtes für
Wirtschaft und Arbeit (AWA) vom 8. März 2005, in welcher die
Vermittlungsfähigkeit des Beschwerdeführers bejaht wurde, bei den Akten des
Migrationsamtes, wo sie am folgenden Tag einging. Dem Beschwerdeführer wurde
aber keine Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Das Migrationsamt
entschied bereits am 14. März 2005 über die Einsprache, ohne die Verfügung
des AWA zu erwähnen oder die Verschlechterung des psychischen Zustands des
Beschwerdeführers in Frage zu stellen. Unter diesen Umständen hatte der
Beschwerdeführer, dem die Verfügung im Verfahren bezüglich
Arbeitslosenversicherung zugestellt worden war, keinen Anlass, sich in seinem
Rekurs im fremdenpolizeilichen Verfahren dazu zu äussern; er musste nicht
damit rechnen, dass das Rekursgericht seinen Entscheid auf eine gänzlich
andere, im Verfahren bisher nicht relevierte Begründung stützen würde. Das
Arztzeugnis des Psychiaters des Beschwerdeführers vom 2. März 2005, das ihm
eine hundertprozentige Arbeitsfähigkeit ab dem 1. März 2005 attestiert und
worauf sich die Verfügung des AWA bezieht, liegt nicht bei den Akten. Sodann
konnte sich der Beschwerdeführer auch nicht zur telefonischen Nachfrage des
Rekursgerichts vom 10. März 2006 beim AWA äussern; diese hatte ergeben, dass
der Beschwerdeführer vom 1. März bis 12. Dezember 2005 die ihm zustehenden
Taggelder der Arbeitslosenversicherung bezogen und sich in der Zeit nicht
krank gemeldet hatte. Die Rüge der Verweigerung des rechtlichen Gehörs ist
demnach begründet.

2.4 Dieser Mangel, der sich auf den zentralen Teil der Begründung der
Vorinstanz bezieht, rechtfertigt, die Beschwerde gutzuheissen und den
angefochtenen Entscheid aufzuheben; die Voraussetzungen für eine Heilung des
Mangels sind hier nicht erfüllt (vgl. BGE I 193/04 vom 14. Juli 2006, E. 5.1;
126 V 130 E. 2b S. 132). Das Rekursgericht wird dem Beschwerdeführer
Gelegenheit geben müssen, zu den betreffenden Aktenstücken Stellung zu
nehmen; in der Folge wird es neu darüber zu entscheiden haben, ob allein aus
dem Umstand, dass der Beschwerdeführer unter dem Aspekt der
Arbeitslosenversicherung heute offenbar vermittlungsfähig ist, bereits
geschlossen werden kann, seine im Gutachten vom 14. Oktober 2004
diagnostizierte psychische Erkrankung, welche auf die Furcht vor der
drohenden Ausweisung zurückzuführen war, bestehe nicht mehr. Gegebenenfalls
wird das Rekursgericht auch zur bisher offen gelassenen Frage Stellung zu
nehmen haben, ob im Heimatland des Beschwerdeführers adäquate
Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Die Sache ist zu neuem Entscheid im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

3.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 2
OG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren indes eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 OG). Mit dem
vorliegenden Urteil ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege bzw.
Rechtsverbeiständung als gegenstandslos abzuschreiben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 24. März 2006
aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an das
Rekursgericht zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- auszurichten.

4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege bzw. Rechtsverbeiständung wird als
gegenstandslos abgeschrieben.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Migrationsamt und dem
Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau sowie dem Bundesamt für
Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. September 2006

Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: