Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.9/2006
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006


1P.9/2006 /ggs

Urteil vom 7. März 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Perrig,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Felix Truffer,
Regionale Staatsanwaltschaft Oberwallis, Gebreitenweg 2, Postfach, 3930 Visp,
Kantonsgericht Wallis, Strafgerichtshof I, Justizgebäude, 1950 Sitten 2.

Art. 9 BV (Strafverfahren; Beweiswürdigung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
des Kantonsgerichts Wallis, Strafgerichtshof I,
vom 1. Dezember 2005.
Sachverhalt:

A.
In der Nacht vom 26./27. Februar 2003 kam es in der Bar des Hotel-Restaurants
A.________ in B.________ zu einem Streit zwischen X.________ (geb. 1965) und
Y.________. Dabei versetzte X.________ Y.________ einen Kopfstoss (sog.
Schwedenkuss) und einen Faustschlag, beide ins Gesicht, sowie einen
Fusstritt. Dieser erlitt eine Platzwunde an der Stirne, die genäht werden
musste, Schürf- und Kratzwunden, ein Schädelhirntrauma und Kontusionen.
Später ereignete sich in der C.________strasse der hier streitige Vorfall.
Y.________ sagte aus, X.________ habe ihn mit einem Jeep überfahren wollen;
dieser macht geltend, es habe sich um ein blosses Überholmanöver gehandelt.

B.
Am 10. November 2004 verurteilte das Bezirksgericht Leuk und Westlich-Raron
X.________ für den geschilderten Vorfall auf der Strasse wegen Gefährdung des
Lebens. Ferner sprach es ihn der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung,
des Konsums von Betäubungsmitteln und der Widerhandlung gegen das
Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer (ANAG) schuldig. Es bestrafte ihn mit neun Monaten Gefängnis, einer
Busse von Fr. 1'000.--, fünf Jahren Landesverweisung und verpflichtete ihn zu
einer Schadenersatzzahlung an Y.________ von Fr. 3'891.75.

C.
Das Kantonsgericht des Kantons Wallis wies am 1. Dezember 2005 die Berufung
des Verurteilten ab.

D.
Dagegen führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Kantonsgerichts bezüglich der Verurteilung wegen Gefährdung des
Lebens aufzuheben.

In der Vernehmlassung schliesst die Staatsanwaltschaft Oberwallis auf
Abweisung der Beschwerde. Das Kantonsgericht hat auf eine Stellungnahme
verzichtet; Y.________ hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Entscheid in seinen
rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG). Er macht die
Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG).
Dazu ist er befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt
sind, ist auf die Beschwerde einzutreten, unter Vorbehalt der nachfolgenden
Erwägungen.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Beweiswürdigung und eine
Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo".

2.1 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde die
wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten,
welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie
durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene
und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf ungenügend begründete Rügen und
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130
I 258 E. 1.3 S. 262).

2.2 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen
Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Nach der Praxis des Bundesgerichts
liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene kantonale
Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz
krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn
nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist; dass
eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint,
genügt nicht (BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f.).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Kantonsgericht habe seine Aussagen
willkürlich gewürdigt. Entgegen dem angefochtenen Urteil habe er nicht
ausgesagt, mit Beschleunigung auf Y.________ (im Folgenden: Beschwerdegegner)
zugefahren zu sein.

Das Kantonsgericht hält fest, der Beschwerdeführer habe gemäss eigenen
Angaben sein Fahrzeug beschleunigt, statt den Beschwerdegegner in langsamer
Fahrt zu überholen, obwohl er gesehen habe, wie der Beschwerdegegner mitten
auf der rechten Fahrspur der Strasse ging.

Der Beschwerdeführer belegt seine Bestreitung mit seinen Aussagen vom 12.
März 2003 vor der Kantonspolizei, wonach er den Beschwerdegegner auf der
linken Fahrspur überholt habe. Er übersieht die im Urteil des Kantonsgerichts
(S. 12) zitierte Stelle, wonach er anlässlich der gleichen Einvernahme
ausgesagt hat, mit schätzungsweise 50 bis 60 km/h am Beschwerdegegner
vorbeigefahren zu sein und bewusst beschleunigt zu haben
(Einvernahmeprotokoll Kantonspolizei vom 12. März 2003, Seite 3). An anderer
Stelle sagte er aus, er habe sein Fahrzeug leicht beschleunigt
(Einvernahmeprotokoll Kantonspolizei vom 19. März 2003, Seite 2) bzw. "etwas
Gas gegeben" (Einvernahmeprotokoll Untersuchungsrichter vom 25. März 2003,
Seite 5).

Die Darstellung des Kantonsgerichts, wonach der Beschwerdeführer nach eigenen
Angaben sein Fahrzeug beschleunigt habe, trifft zu. Die Willkürrüge geht
deshalb fehl.

3.2 Der Beschwerdeführer führt aus, das angefochtene Urteil verletze das
Willkürverbot, weil es für die Darstellung der Tatabfolge auf die Aussagen
des Beschwerdegegners abstelle. Es sei unmöglich, dass sich der
Beschwerdegegner auf der Strasse umgedreht und den Beschwerdeführer erkannt
habe. Daher habe er nicht feststellen können, dass er sich in Lebensgefahr
befand.

Gemäss der Staatsanwaltschaft war der Beschwerdegegner nach dem Streit zu
D.________ unterwegs, als sich der Beschwerdeführer mit einem Jeep Wrangler
von hinten näherte. Weil der Motor aufheulte, der Lenker das Fahrzeug
beschleunigte und - nach Wahrnehmung des Beschwerdegegners - direkt auf ihn
zufuhr, hechtete der Beschwerdegegner auf das Schneebord am rechten
Strassenrand (Überweisungs- und Zulassungsbeschluss vom 26. Juni 2003, Seite
5).

Das Kantonsgericht erachtet diese Tatabfolge mit Aussagen des
Beschwerdegegners, indirekter Zeugen und Spuren im Schnee als erstellt
(angefochtenes Urteil, Seite 16 f.). Aufgrund der Würdigung der Indizien,
insbesondere des vorausgegangenen Streits in der Bar, der Geschwindigkeit und
Beschleunigung des Fahrzeugs (E. 3.1) und der Blutspuren und Abdrücke im
Schnee (sogleich E. 3.3), beurteilt es die Aussagen des Beschwerdegegners als
glaubwürdig. Es sieht diese Ansicht dadurch bestätigt, dass der
Beschwerdegegner innert zwei Stunden nach dem Vorfall das Geschehene vier
Personen inhaltlich gleich geschildert hat.

Der Beschwerdeführer zeigt nicht, inwiefern diese Auffassung willkürlich
wäre. Es ist auch nicht ersichtlich, wieso der Beschwerdegegner das Fahrzeug
und die dadurch drohende Lebensgefahr zu nächtlicher Stunde nicht hätte
bemerken und ihm ausweichen sollen. Auf die Rüge ist nicht einzutreten.

3.3 Der Beschwerdeführer bezweifelt, dass der Beschwerdegegner einen
Hechtsprung in den Schnee am Strassenrand gemacht habe. Vielmehr sei er ohne
sich umzudrehen zur Seite getreten, als er das Motorengeräusch gehört habe.

Das Kantonsgericht hält in Würdigung einer Fotografie der betreffenden Stelle
am Strassenrand und der Aussage des Polizeibeamten der Spurensicherung fest,
dass dort im Schnee sowohl Blutspuren als auch der Abdruck eines Körpers
erkennbar waren. Dies erkläre sich damit, dass der Beschwerdegegner
bäuchlings im Schnee gelegen und im Gesicht stark geblutet habe
(angefochtenes Urteil, Seite 17).

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Aussage, wonach der Beschwerdegegner
keinen "Hechtsprung", sondern bloss ein "Hüpferchen" gemacht habe. Dieses
Vorbringen ist eine unzulässige appellatorische Kritik (E. 2.1). Das
Kantonsgericht hat im angefochtenen Urteil seine abweichenden Aussagen
gewürdigt und überzeugend dargelegt, dass aufgrund der Indizien von einem
Hechtsprung auszugehen ist. Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf und es ist
nicht ersichtlich, weshalb dies willkürlich wäre. Auf sein Vorbringen ist
nicht einzutreten.

3.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, E.________ sei als Auskunftsperson
nicht glaubwürdig. Das Kantonsgericht habe ihren Aussagen willkürlich zu
grosses Gewicht beigemessen.

Gemäss den nicht bestrittenen Ausführungen des Kantonsgerichts kannten sich
E.________ und der Beschwerdeführer damals seit sieben Jahren. Er bezahlte
ihr den Lebensunterhalt (angefochtenes Urteil Seite 9). Nach dem Vorfall auf
der C.________strasse fuhr er zu seinem Chalet in F.________, wo er
E.________ darüber berichtete (angefochtenes Urteil, S. 12).

Nach dem Gesagten (E. 2.2) ist das Willkürverbot nur dann verletzt, wenn
nicht nur die Begründung, sondern auch das Ergebnis des angefochtenen
Entscheids unhaltbar ist. Der Beschwerdeführer müsste darlegen, dass und
weshalb eine geringere Gewichtung der Aussagen von E.________ zu einem
anderen Ergebnis führen würde. Dies unterlässt er jedoch. Eine Verletzung des
Willkürverbots ist auch nicht ersichtlich: Ihre Aussage ist ein Beweiselement
unter verschiedenen (angefochtenes Urteil Seite 22) und sie kann als
indirekte Zeugin bloss darüber aussagen, was ihr der Beschwerdeführer im
Anschluss an den Vorfall erzählt hat. Auf die Willkürrüge ist nicht
einzutreten.

4.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der Unschuldsvermutung.

4.1 Als Beweiswürdigungsregel besagt der aus der Unschuldsvermutung (Art. 32
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK) abgeleitete Grundsatz "in dubio pro reo",
dass sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen
Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel
bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist
verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln
müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend,
weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden
kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln,
d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der
Frage, ob angesichts des willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht
zu unterdrückende Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der
Sachrichter vom für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte
überzeugt erklären dürfen, greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung
ein, da der Sachrichter diese in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips
zuverlässiger beantworten kann (Urteil 1P.428/2003 vom 8. April 2004, E. 4.2;
BGE 127 I 38 E. 2a S. 41).

4.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, es bestünden erhebliche, nicht zu
unterdrückende Zweifel an der Version des Beschwerdegegners, wonach sich
dieser zuerst umgedreht und dann einen Hechtsprung gemacht habe.

Das Kantonsgericht hat als Beweisergebnis festgehalten, dass der
Beschwerdeführer, nachdem er den Beschwerdegegner erkannt hatte, ungebremst
auf ihn zufuhr und sein Fahrzeug beschleunigte. Dieser Schluss ist nicht
willkürlich (E. 3). Ausgehend von diesem Beweisergebnis und mit der gebotenen
Zurückhaltung betrachtet, hat das Kantonsgericht nicht gegen den Grundsatz
"in dubio pro reo" verstossen, indem es erhebliche und nicht zu
unterdrückende Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers verneint hat. Die
Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung ist unbegründet.

5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Bei diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens (Art.
156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Regionalen Staatsanwaltschaft Oberwallis
und dem Kantonsgericht Wallis, Strafgerichtshof I, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. März 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: