Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.846/2006
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{T 0/2}
1P.846/2006 /fun

Urteil vom 15. Januar 2007

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Hug,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach 1233,
8026 Zürich,
Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Pfäffikon, Hörnlistrasse 55, 8330
Pfäffikon.

Haftentlassung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirks Pfäffikon vom 19. Dezember
2006.

Sachverhalt:

A.
Gegen X.________ besteht der dringende Tatverdacht der versuchten
vorsätzlichen Tötung, indem er durch Schiessen mit einer Pistole in Kauf
genommen habe, Menschen tödlich zu verletzen. Gemäss dem aktuellen
Untersuchungsstand wird dem Beschuldigten vorgeworfen, am 5. Juni 2006, um
circa 19.45 Uhr, auf dem Gelände des Schulhauses E._______ an der
F.________-Strasse in G.________ im Anschluss an eine verbale, aber auch
tätliche Auseindersetzung mit seiner ehemaligen Freundin, A.________, sowie
weiteren Familienangehörigen der Geschädigten zusammen mit C.________ zu
D.________ gefahren zu sein, wobei der Beschuldigte gewusst habe, dass
D.________ bei sich zu Hause eine Pistole mit Munition aufbewahrt habe. Von
D.________ habe er eine Faustfeuerwaffe der Marke SIG, Kaliber 9mm, erhalten
und sei zusammen mit C.________ zum Schulhaus E.________ zurückgekehrt. Dort
habe er zunächst aus dem fahrenden Fahrzeug Schüsse in die Luft abgegeben,
sei dann aus dem Auto gestiegen und habe mehrere Schüsse gezielt in Richtung
verschiedener flüchtender Personen (mindestens zwei) abgegeben, wobei er
davon ausgegangen sei, dass es sich dabei um Familienangehörige seiner
Ex-Freundin gehandelt habe, habe er doch zumindest deren Bruder, B.________
erkannt, als dieser davon gerannt sei. Mit diesen gezielten Schüssen habe der
Beschuldigte in Kauf genommen, die flüchtenden Personen, insbesondere
B.________, den er tatsächlich erkannt haben will, tödlich zu verletzen.

X. ________ befindet sich seit dem 9. Juni 2006 wegen Kollusions-,
Wiederholungs- und Ausführungsgefahr in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom
19. Dezember 2006 wies der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Pfäffikon
das Haftentlassungsgesuch mit der Begründung ab, es bestehe eine
qualifizierte Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Ziff. 4 des Gesetzes des
Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess
(Strafprozessordnung; StPO/ZH) als auch Ausführungsgefahr (§ 58 Abs. 2
StPO/ZH). Ob darüber hinaus mit Kollusionsgefahr zu rechnen ist, liess der
Einzelrichter offen.

B.
X.________ hat gegen die Verfügung des Einzelrichters staatsrechtliche
Beschwerde erhoben. Er beantragt seine sofortige Entlassung aus der
Untersuchungshaft. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für das
Verfahren vor Bundesgericht.

C.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich beantragt Beschwerdeabweisung.
Der Einzelrichter hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Da das angefochtene Urteil vor dem Inkraftreten des Bundesgesetzes über
das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110)
am 1. Januar 2007 erging, richtet sich das Beschwerdeverfahren nach dem
bisherigen Recht (Art. 97 ff. OG; Art. 132 Abs. 1 BGG, e contrario).

1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die angefochtene Verfügung des
Einzelrichters verletze sein Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2,
Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK).

1.3 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24, mit Hinweisen).

1.4 Gemäss § 58 Abs. 1 StPO/ZH darf Untersuchungshaft nur angeordnet werden,
wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt
wird und ausserdem auf Grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet
werden muss, er werde
1.sich der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe durch Flucht
entziehen;
2.Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu
verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise
gefährden;
3.nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen verübt
hat, erneut solche Straftaten begehen;
4.ein Verbrechen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB), einen
qualifizierten Raub (Art. 140 Ziff. 2-4 StGB), eine qualifizierte Erpressung
(Art. 156 Ziff. 4 StGB), ein Verbrechen gegen die Freiheit (Art. 183 ff.
StGB) oder gegen die sexuelle Integrität (Art. 187 ff. StGB), ein
gemeingefährliches Verbrechen (Art. 221 ff. StGB), ein Verbrechen gegen die
öffentliche Gesundheit (Art. 231 ff. StGB) oder gegen den öffentlichen
Verkehr (Art. 237 ff. StGB) begehen, sofern das Verfahren ein gleichartiges
Verbrechen oder Vergehen betrifft.
Nach § 58 Abs. 2 StPO/ZH ist die Anordnung der Untersuchungshaft ausserdem
zulässig, wenn sich der dringende Tatverdacht auf ein in strafbarer Weise
versuchtes oder vorbereitetes Verbrechen bezieht und auf Grund bestimmter
Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde die
Tat ausführen.

1.5 Der Einzelrichter bejahte den dringenden Tatverdacht der versuchten
vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) mit der Begründung, der Beschwerdeführer
habe zugegebenermassen mit einer Pistole auf mehrere Personen geschossen, die
vor ihm weggerannt seien. Wer in solcher Art und Weise mit einer Pistole
schiesse, insbesondere Menschen "nachschiesse", ohne genau daneben zu zielen,
nehme schlicht in Kauf, dass jemand tödliche Verletzungen erleide. Der
Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Ausführungen des Einzelrichters nicht
rechtsgenüglich (vgl. Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) auseinander, sondern lässt
die Frage des Vorliegens eines dringenden Tatverdachts der versuchten
vorsätzlichen Tötung letztendlich offen. Auf seine diesbezüglichen Vorbringen
ist daher nicht weiter einzugehen.

1.6 Der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1
Ziff. 4 StPO/ZH ist anwendbar, wenn nur eine Anlasstat vorliegt, jedoch für
die Zukunft schwere Delikte zu erwarten sind. Der Haftgrund knüpft primär
vorausschauend daran an, dass zu befürchten ist, der Täter werde - wenn in
Freiheit belassen oder dahin entlassen - eines der im entsprechenden
Deliktskatalog aufgeführten gefährlichen Gewaltdelikte, wie insbesondere ein
solches gegen Leib und Leben, begehen. Vorausgesetzt ist, dass sich das
laufende Strafverfahren auf ein "gleichartiges Verbrechen oder Vergehen"
bezieht (vgl. Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 2004, S.
248 N. 701c; Manfred Küng/Claude Hauri/Thomas Brunner, Handkommentar zur
Zürcher Strafprozessordnung, Bern 2005, S. 206 ff. N. 14). Ob die Begehung
eines der im Deliktskatalog von § 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH aufgeführten
Verbrechen ernsthaft befürchtet werden muss, beurteilt sich gestützt auf die
gesamten Umstände, namentlich unter Berücksichtigung der Persönlichkeit, des
Verhaltens und des Vorlebens des Verdächtigen sowie anhand seiner konkreten
Lebenssituation (Andreas Donatsch/Ulrich Weder/Cornelia Hürlimann, Die
Revision des Zürcher Strafverfahrensrechts vom 27. Januar 2003, Zürich 2005,
S. 25/26).

1.7 Vorweg ist festzuhalten, dass der Einzelrichter entgegen der Behauptung
des Beschwerdeführers das bei den Akten liegende psychiatrische Gutachten vom
27. August 2006 bei der Beurteilung einer allfälligen Wiederholungsgefahr
heranzog. Dies ergibt sich aus Erwägung 4 (Seite 4) der angefochtenen
Verfügung, wo auf die im Gutachten attestierte Gewaltbereitschaft des
Beschwerdeführers hingewiesen wird. Unter verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten ist nicht zu beanstanden, wenn der Einzelrichter dem
Gutachten nicht in jeder Hinsicht folgt, sofern er seine abweichenden
Schlussfolgerungen auf triftige Gründe stützt (vgl. BGE 132 II 257 E. 4.4.1
S. 269).

Zur Begründung der qualifizierten Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs.
1 Ziff. 4 StPO/ZH führte der Einzelrichter Folgendes aus: Der
Beschwerdeführer habe in der Hafteinvernahme mehrmals angedroht, seine
Ex-Freundin und deren Familie umzubringen, sobald er aus der
Untersuchungshaft entlassen sei. Unter Verweis auf das psychiatrische
Gutachten vom 27. August 2006 führte der Einzelrichter aus, es sei
offensichtlich, dass der Beschwerdeführer eine geringe Frustrationstoleranz
und eine niedrige Hemmschwelle habe und Probleme mit Gewalt zu lösen suche.
Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer Kokain konsumiere, welches allgemein
zu psychischer und motorischer Erregung, Enthemmung, Euphorie, erhöhter
Risikobereitschaft, Antriebssteigerung, Aggressionen, Verfolgungswahn,
Stimmungs- und Wahrnehmungsveränderungen, verbunden mit Erschöpfung und
Reizbarkeit bei nachlassender Wirkung, führe. Gestützt auf die genannten
Umstände sowie auf weitere strafrechtlich relevante Vorfälle zwischen ihm und
seiner Ex-Freundin bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer seine
Ex-Freundin und deren Familienangehörige verletzen oder gar töten könnte,
wenn er ihnen in Freiheit begegnen würde.

1.8 Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, und es ist aufgrund der Haftakten
auch nicht ersichtlich, was geeignet wäre, die Prognose über die
qualifizierte Wiederholungsgefahr als günstiger erscheinen zu lassen. Die
Straftat, deren der Beschwerdeführer verdächtigt wird, offenbart ein grosses
Gewaltpotenzial. Es trifft keineswegs zu, dass das psychiatrische Gutachten
von einer gänzlichen Ungefährlichkeit des Beschwerdeführers ausgeht. Immerhin
geht der Gutachter davon aus, dass bei direkten Begegnungen des
Beschwerdeführers mit seiner Ex-Freundin die Gefahr erneuter Drohungen und
tätlicher Übergriffe als hoch einzustufen sei. Besonders negativ fällt ins
Gewicht, dass der Beschwerdeführer unmittelbar vor der zur Beurteilung
anstehenden Straftat Kokain konsumierte. Dieser Umstand, welcher zeigt, dass
der Beschwerdeführer insbesondere unter Kokaineinfluss äusserst aggressiv und
unberechenbar werden kann, war dem Psychiater bei der Beurteilung der
Gefährlichkeit nicht bekannt. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dem
Gutachter den kurze Zeit vor dem Vorfall am 5. Juni 2006 erfolgten
Kokainkonsum verschwiegen zu haben. Bei der Situation, die zum Vorfall vom 5.
Juni 2006 führte, handelt es sich nicht um eine solche, deren Wiederholung
gänzlich ausgeschlossen werden kann. Der Beschwerdeführer ist überdies mit 21
Jahren noch sehr jung und scheint in persönlicher Hinsicht kaum gefestigt zu
sein. Daran vermag auch sein Argument, die bisher erstandene
Untersuchungshaft sei ihm eine Lehre für die Zukunft, nichts zu ändern. Beim
gefährdeten Rechtsgut geht es ausserdem um Leib und Leben und damit um das
höchste überhaupt. Insoweit sind an die Annahme von Wiederholungsgefahr
weniger hohe Anforderungen zu stellen als bei anderen Rechtsgütern (vgl. BGE
123 I 268 E. 2e S. 271).

Unter diesen Umständen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass
der Haftrichter die qualifizierte Wiederholungsgefahr bejahte. Der
Beschwerdeführer macht nicht geltend, und es ist auch nicht ersichtlich, dass
der Zweck der Untersuchungshaft mit milderen Massnahmen erreicht werden
könnte. Ob weitere Haftgründe (Ausführungs- und Kollusionsgefahr) bestehen,
kann offen bleiben.

2.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist
dementsprechend abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer stellt
ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren. Die gesetzlichen Voraussetzungen für deren Gewährung sind erfüllt
(vgl. Art. 152 OG). Namentlich erschien die Beschwerde nicht von vornherein
aussichtlos, und auch die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist gemäss den
Akten gegeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Dr. Markus Hug wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich und dem Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Pfäffikon
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Januar 2007

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: