Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.7/2006
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006


1P.7/2006 /ggs

Urteil vom 27. Januar 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Fredy Fässler,

gegen

Verhöramt des Kantons Appenzell A.Rh., Rathaus, 9043 Trogen,
Kantonsgerichts-Präsidium von Appenzell A.Rh., Fünfeckpalast, Postfach 162,
9043 Trogen.

Haftentlassung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts-Präsidiums von Appenzell A.Rh. vom 15. Dezember 2005.

Sachverhalt:

A.
Das Verhöramt von Appenzell Ausserrhoden führt gegen gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen eines Tötungsdeliktes. Dem Angeschuldigten wird
vorgeworfen, er habe am 28. Februar 2005 in Herisau eine Person erschossen.
Mit Verfügung des Verhöramtes vom 22. März 2005 wurde er in Untersuchungshaft
versetzt. Die Haft wurde unterdessen mehrmals haftrichterlich geprüft und
verlängert. Ein Haftentlassungsgesuch des Inhaftierten vom 28. November 2005
wies das Kantonsgerichts-Präsidium (Einzelrichterin) von Appenzell
Ausserrhoden mit Entscheid vom 15. Dezember 2005 ab.

B.
Gegen diesen Entscheid gelangte X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde
vom 5. Januar 2006 an das Bundesgericht. Er beantragt neben seiner sofortigen
Haftentlassung die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Das Verhöramt
liess sich am 13. Januar 2006 im abschlägigen Sinne zur Beschwerde vernehmen,
während das Kantonsgerichts-Präsidium auf eine Stellungnahme verzichtet hat.
Der Beschwerdeführer replizierte am 25. Januar 2006.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen
Entscheides seine sofortige Haftentlassung. Dieses Begehren ist in Abweichung
vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde
zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die
von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive Anordnung
hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f.; 124 I 327 E. 4a S.
332; 115 Ia 293 E. 1a S. 296 f., je mit Hinweisen).

2.
Nach appenzell-ausserrhodischem Strafprozessrecht kann Untersuchungshaft
angeordnet und aufrecht erhalten werden, wenn der Angeschuldigte eines
Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und bestimmte
Anhaltspunkte für das Bestehen eines besonderen Haftgrundes (namentlich
Flucht-, Verdunkelungs- oder Fortsetzungsgefahr) gegeben sind (Art. 98 Abs. 1
StPO/AR).
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht der Beteiligung an
einem Tötungsdelikt nicht. Wie er selbst darlegt, hat er am 12. April 2005
gestanden, das Opfer erschossen zu haben. Er wendet sich jedoch gegen die
Annahme der besonderen Haftgründe der Flucht- bzw. der Fortsetzungsgefahr.
Ausserdem rügt er, bei der Begründung der Fluchtgefahr habe die Haftrichterin
das rechtliche Gehör verletzt.

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er wohne mit seiner Ehefrau und zwei
kleinen Kindern seit Jahren in der Schweiz. Seine Frau und die Kinder
besässen die schweizerische Staatsbürgerschaft. Alle nahen Verwandten seiner
Ehefrau lebten ebenfalls hier. Daher sei "davon auszugehen, dass er die
Schweiz keinesfalls verlassen" werde. Aber selbst wenn von einer "mässigen
Fluchtgefahr" ausgegangen werden könnte, wäre dieser - nach Ansicht des
Beschwerdeführers - mit Ersatzmassnahmen für Haft (Pass- und Schriftensperre,
Kaution) ausreichend zu begegnen. Es sei "davon auszugehen", dass die
"Verlängerung der Untersuchungshaft" seitens der kantonalen Behörden "aus
politischen Gründen" erfolgte. Dies sei willkürlich und verstosse gegen das
Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit.

3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme
von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der
Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug
der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe
darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für
sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten
Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten
Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I
60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). So ist es zulässig,
die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche
Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches
mitzuberücksichtigen. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das
den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw.
stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht
ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.).

Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige
Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je
mit Hinweisen).

3.2 Zwar bringt der Beschwerdeführer vor, er sei mit einer Schweizerin
verheiratet und lebe mit ihr und zwei gemeinsamen Kindern in der Schweiz.
Dennoch bestehen im vorliegenden Fall ausreichend konkrete Anhaltspunkte für
Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer ist ausländischer Staatsangehöriger
(Kosovare) mit fremdenpolizeilicher Bewilligung "B". Er bestreitet nicht,
dass er sich erst seit 2002 in der Schweiz aufhält und dass (mit Ausnahme
eines in Deutschland wohnhaften Bruders) alle seine Verwandten im Kosovo
wohnen. Nach eigenen Angaben stammt seine (inzwischen in der Schweiz
eingebürgerte) Ehefrau ursprünglich aus Mazedonien. Die Heirat sei in
Serbien-Montenegro bzw. in der Provinz Kosovo erfolgt. Die Brüder seiner
Ehefrau (die im Rahmen der vorliegenden Strafuntersuchung festgenommen worden
seien) stammten ebenfalls aus Mazedonien. Das Gesagte lässt auf eine enge
soziale (insbesondere familiäre) Vernetzung des Beschwerdeführers mit
Personen schliessen, die im ehemaligen Jugoslawien leben. Darüber hinaus ist
der Beschwerdeführer eines schweren Verbrechens (Tötungsdelikt) dringend
verdächtig. Im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung droht ihm eine
empfindliche Freiheitsstrafe, welche als erheblicher Fluchtanreiz einzustufen
ist.

3.3 An dieser Sachlage ändert auch das Vorbringen nichts, in einem früheren
Entscheid habe die Einzelrichterin "lediglich den besonderen Haftgrund der
Fortsetzungsgefahr als gegeben betrachtet". Wie sich aus den Akten ergibt,
hat die Haftrichterin schon in ihrem Entscheid vom 3. August 2005 neben
Fortsetzungsgefahr auch das Bestehen von Fluchtgefahr bejaht. Sie schätzte
das Fluchtrisiko jedoch als "mässig" ein, weshalb sie damals die Auffassung
vertrat, dass der Fluchtneigung (allein) auch mit Ersatzmassnahmen für Haft
noch ausreichend hätte begegnet werden können. Dass die kantonalen Behörden
das Ausmass der Fluchtgefahr im Verlaufe der Strafuntersuchung jeweils neu
prüfen, ist sachgerecht und verfassungskonform. Wie oben dargelegt, bestehen
im jetzigen Verfahrensstadium ausreichend konkrete Anhaltspunkte für ein
erhebliches Fluchtrisiko. Die Ansicht der kantonalen Behörden, die
Fluchtneigung könne im vorliegenden Fall mit blossen Ersatzmassnahmen nicht
genügend gebannt werden, hält vor der Verfassung stand.

3.4 Nach dem Gesagten kann offen bleiben, ob neben Fluchtgefahr auch noch
zusätzlich die separaten besonderen Haftgründe der Fortsetzungs- oder der
Kollusionsgefahr gegeben wären.

4.
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, die Haftrichterin habe bei der
Begründung des besonderen Haftgrundes der Fluchtgefahr seinen Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt. "Die Begründung der Einzelrichterin, wonach ihr
erst nach Stellung des Gesuchs um Haftentlassung" im "November 2005
zugetragen worden sei, dass die Frau des Beschwerdeführers ursprünglich aus
Mazedonien stamme", sei "in keiner Weise nachvollziehbar". Darin liege ein
"erheblicher Mangel". Ausserdem habe er, der Beschwerdeführer, aufgrund der
Prozessgeschichte nicht damit rechnen müssen, dass die Haftrichterin den
besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr heranziehen würde. Insofern sei auch
sein Anspruch auf Replik "faktisch" missachtet worden.

4.1 Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs erscheint unbegründet. Im
angefochtenen Entscheid (Seiten 3-4) werden die wesentlichen Gründe
dargelegt, die für die Annahme von Fluchtgefahr und für die Untauglichkeit
blosser Ersatzmassnahmen sprechen. Die betreffenden Erwägungen halten vor dem
Anspruch auf rechtliches Gehör stand. Es ist nicht ersichtlich und wird vom
Beschwerdeführer nicht dargelegt, inwiefern die Begründung des angefochtenen
Entscheides es ihm geradezu verunmöglicht hätte, seine prozessualen Rechte
wirksam zu wahren (vgl. BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.; 124 II 146 E. 2a S.
149; 123 I 31 E. 2c S. 34; 122 IV 8 E. 2c S. 14 f., je mit Hinweisen). Dass
die Haftrichterin das Ausmass der festgestellten Fluchtgefahr am 15. Dezember
2005 offenbar höher einschätzte als in ihrem früheren Entscheid vom 3. August
2005, ist - wie bereits dargelegt - nicht zu beanstanden und verstösst auch
nicht gegen den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör. Die vom
Beschwerdeführer ausführlich erörterte Frage, wann die Haftrichterin gewusst
habe oder hätte wissen können, dass seine Ehefrau "ursprünglich aus
Mazedonien stamme", erweist sich in diesem Zusammenhang als irrelevant.

4.2 Nicht zu folgen ist auch dem Einwand, der Beschwerdeführer habe "davon
ausgehen" dürfen, "dass die Fluchtgefahr beim vorliegenden
Haftentlassungsverfahren nicht mehr von Belang" sei. Weil der Haftgrund der
Fluchtgefahr "nie mehr zur Diskussion" gestanden habe, sei der prozessuale
Anspruch des Inhaftierten auf Anhörung bzw. Replik "faktisch ausgeschlossen"
worden. Sowohl in seinem Haftentlassungsgesuch vom 28. November 2005 als auch
in der Beschwerdeschrift übersieht der Beschwerdeführer, dass das Bestehen
von Fluchtgefahr im haftrichterlichen Entscheid vom 3. August 2005 nicht
apriori (oder gar für alle nachfolgenden Haftprüfungen verbindlich) verneint
worden war. Vielmehr hatte die Haftrichterin von einem "mässigen"
Fluchtrisiko gesprochen, dem (nach ihrer damaligen Beurteilung) noch mit
Ersatzmassnahmen hätte begegnet werden können. Hinzu kommt, dass der
Beschwerdeführer durchaus damit rechnen musste, dass der bereits im August
2005 diskutierte Haftgrund der Fluchtgefahr einige Monate später (und im
Rahmen der fortschreitenden Untersuchung) unter neuem Licht beurteilt werden
könnte. Er erhielt auch Gelegenheit, sich im kantonalen Verfahren zu den
Haftgründen und zur Stellungnahme des Verhöramtes zu äussern. Eine Verletzung
des Anspruches auf Replik ist in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich.

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Die
Beschwerde kann noch knapp als nicht zum Vornherein aussichtslos eingestuft
werden. Da auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt erscheinen
(und insbesondere die finanzielle Bedürftigkeit des Gesuchstellers sich aus
den Akten ergibt), kann dem Ersuchen stattgegeben werden (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Fredy Fässler wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
ernannt und für das Verfahren vor Bundesgericht aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem Verhöramt und dem
Kantonsgerichts-Präsidium von Appenzell A.Rh. schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Januar 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: