Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.794/2006
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{T 0/2}
1P.794/2006 /fco

Urteil vom 27. März 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

X. ________,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, Obere Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 8, 9, 29, 32 BV, Art. 6 EMRK (Strafverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 20. Oktober
2006.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksamt Lenzburg sprach X.________ mit Strafbefehl vom 25. Februar
2005 der mehrfachen Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (SVG; SR.
741.01) schuldig; es bestrafte ihn mit 42 Tagen Gefängnis und einer Busse von
Fr. 2'500.--.
Dem Strafbefehl liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Das Bezirksamt warf
X.________ vor, er habe am 13. Oktober 2004 in Seon einer Aufforderung der
Kantonspolizei Aargau, das von ihm gelenkte Auto anzuhalten, nicht Folge
geleistet. Vor der (vereitelten) Kontrolle habe er die signalisierte
Höchstgeschwindigkeit missachtet. Rund eineinhalb Stunden nach dem Vorfall
habe die Polizei an seinem Wohnort vorgesprochen und den Beschuldigten in
erheblich alkoholisiertem Zustand angetroffen. Da dieser mit einer
Abstinenz-Auflage im Führerausweis belegt sei, habe er bei einer
Polizeikontrolle mit der Überprüfung dieser Auflage rechnen müssen. Mit der
Flucht und dem anschliessenden Alkoholkonsum habe er die Vornahme einer
Blutprobe vereitelt. Es sei anzunehmen, dass er bereits im Anhaltezeitpunkt
alkoholisiert gewesen sei, so dass er gegen die Auflage im Führerausweis
verstossen habe. Ausserdem habe er das vorgeschriebene Abgas-Wartungsdokument
nicht mit sich geführt. Diesen Umstand hatte der Angeschuldigte als Grund
angegeben, weshalb er sich der Kontrolle entzogen hatte.

B.
Der Präsident des Bezirksgerichts Lenzburg bestätigte den Schuldspruch des
Bezirksamts mit Urteil vom 18. Oktober 2005, setzte aber das Strafmass auf 14
Tage Gefängnis und eine Busse von Fr. 1'000.-- herab. Ausserdem gewährte er
dem Angeklagten den bedingten Strafvollzug für die ausgesprochene
Freiheitsstrafe.
Die hiergegen erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 3. Kammer, am 20. Oktober 2006 teilweise gut und fällte eine
Strafe von 12 Tagen Gefängnis, unter Gewährung des bedingten Vollzugs, und
Busse von Fr. 800.-- aus. Im Rahmen dieses Urteils sprach das Obergericht den
Angeklagten vom Vorwurf der Missachtung einer mit dem Führerausweis
verbundenen Auflage frei, schützte jedoch den Schuldspruch bezüglich der
Vereitelung einer Blutprobe. Mit Blick auf die Schuldsprüche der Missachtung
der signalisierten Höchstgeschwindigkeit, der Nichtbeachtung eines
polizeilichen Haltezeichens sowie des Nichtmitführens des
Abgas-Wartungsdokuments hielt das Obergericht fest, sie seien unangefochten
in Rechtskraft erwachsen.

C.
Gegen das Urteil des Obergerichts führt X.________ staatsrechtliche
Beschwerde. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Weiter
verlangt er einen Freispruch und die Überbindung aller Verfahrenskosten,
einschliesslich der Anwaltskosten im kantonalen Verfahren, an den Staat.
Geltend gemacht wird eine Verletzung von Art. 8, 9, 29 und 32 BV bzw. Art. 6
EMRK.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und das Obergericht erklären
Verzicht auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG) in Kraft getreten. Da der angefochtene Entscheid vorher
ergangen ist, richtet sich das Verfahren in Anwendung von Art. 132 Abs. 1 BGG
noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom
16. Dezember 1943 (OG).

1.1 Gegen den angefochtenen, kantonal letztinstanzlichen Entscheid steht zur
Rüge der behaupteten Verfassungsverletzungen einzig die staatsrechtliche
Beschwerde zur Verfügung. Der Beschwerdeführer ist als Beschuldigter durch
das angefochtene Urteil persönlich betroffen und zur staatsrechtlichen
Beschwerde legitimiert. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
erfüllt sind, kann auf die Beschwerde grundsätzlich eingetreten werden.

1.2 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Begründung der staatsrechtlichen
Beschwerde die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung
darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze
und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Das
Bundesgericht prüft in diesem Verfahren nur klar und detailliert erhobene
und, soweit möglich, belegte Rügen. Ferner muss die Beschwerdebegründung nach
ständiger Rechtsprechung in der Beschwerdeschrift selbst enthalten sein. Ein
genereller Verweis auf Eingaben im kantonalen Verfahren, wie ihn die
vorliegende Beschwerdeschrift enthält, ist unbeachtlich (vgl. BGE 130 I 258
E. 1.3 S. 261 f.; 129 I 113 E. 2.1 S. 120, je mit Hinweisen).

1.3 Soweit der Beschwerdeführer neben der Aufhebung des angefochtenen
Entscheids verlangt, das Bundesgericht habe ihn bei einer Gutheissung der
Beschwerde von Schuld und Strafe freizusprechen, verkennt er die
kassatorische Natur der staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 129 I 129 E. 1.2.1
S. 131 f.; 124 I 327 E. 4 S. 332 ff., je mit Hinweisen). Nicht anders verhält
es sich mit dem Begehren, das Bundesgericht habe die kantonalen Verfahrens-
und Parteikosten neu zu verlegen. Auf diese Anträge kann nicht eingetreten
werden.
Im Übrigen sind in diesem Zusammenhang folgende weitere Anmerkungen
anzubringen. Der Beschwerdeführer stellt mit seinen Verfassungsrügen einzig
den Schuldspruch bezüglich der Vereitelung einer Blutprobe zur Diskussion. Zu
den übrigen Schuldsprüchen fehlen rechtsgenügliche Rügen (E. 1.2). Die Frage
eines allfälligen Führerausweisentzuges liegt hier nicht im Streit; auf die
diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerdeschrift kann nicht eingegangen
werden.

2.
Zunächst beanstandet der Beschwerdeführer, dass das Obergericht zwei von ihm
bezeichnete Entlastungszeugen nicht einvernommen habe. Dadurch seien sein
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und das Willkürverbot
(Art. 9 BV) verletzt worden. Es kann offen bleiben, ob diese beiden Rügen
hinreichend begründet sind (E. 1.2); sie würden ohnehin nicht durchdringen.

2.1 Nach der Rechtsprechung ist das Recht, Entlastungszeugen zu laden und zu
befragen, relativer Natur. Der Richter hat insoweit nur solche
Beweisbegehren, Zeugenladungen und Fragen zu berücksichtigen und zuzulassen,
die nach seiner Würdigung rechts- und entscheiderheblich sind (BGE 129 I 151
E. 3.1 S. 154 mit Hinweis).

2.2 Das Obergericht erwog, eine Einvernahme der vom Beschwerdeführer
benannten Zeugen sei entbehrlich. Er habe im Berufungsverfahren ausgeführt,
diese könnten bestätigen, dass er vor der betreffenden Fahrt keinen Alkohol
getrunken habe. Dieser Punkt sei aber nicht rechtserheblich. Der
Beschwerdeführer werde hinsichtlich des Vorwurfs der Missachtung der mit dem
Führerausweis verbundenen Abstinenz-Auflage von Schuld und Strafe
freigesprochen. In Bezug auf den Schuldspruch der Vereitelung einer Blutprobe
spiele es - gerade wegen dieser Auflage im Ausweis - keine Rolle, ob der
Beschwerdeführer anlässlich der Fahrt tatsächlich alkoholisiert gewesen sei.

2.3 Der Beschwerdeführer geht selbst davon aus, dass es vorliegend darauf
ankommt, ob er im Tatzeitpunkt mit einer Alkoholkontrolle bzw. einer
Blutprobe rechnete. Im Mittelpunkt seiner Vorbringen im bundesgerichtlichen
Verfahren steht die Frage, ob die Abstinenz-Auflage galt und ob sie für die
Polizisten aus dem Ausweis ersichtlich war. Darauf ist im Folgenden
einzugehen (E. 3). Es ist weder dargetan noch ersichtlich, inwiefern eine
Einvernahme der beiden Zeugen den Beschwerdeführer in dieser Hinsicht
entlasten könnte. Der Verzicht auf die Einvernahme der fraglichen Zeugen hält
damit vor der Verfassung stand.

3.
3.1 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht
dem Sachrichter ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der
Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen,
auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht, wenn sich der
angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist;
eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f. mit Hinweisen).
Aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Unschuldsvermutung wird die Rechtsregel "in dubio pro reo" abgeleitet (BGE
127 I 38 E. 2a S. 40 f. mit Hinweisen, auch zum Folgenden). Als
Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz, dass sich der Strafrichter nicht
von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt überzeugt erklären
darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende
Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat.

3.2 Im bundesgerichtlichen Verfahren behauptet der Beschwerdeführer - wie vor
Obergericht -, in seinem Führerausweis sei keine Abstinenz-Auflage bzw. diese
sei dort nicht ersichtlich. Das Obergericht stellte demgegenüber auf das
gegenteilige Eingeständnis des Beschwerdeführers anlässlich seiner
Befragungen durch die Kantonspolizei und den Bezirksgerichtspräsidenten ab.
Zudem äusserte es folgende Überlegung zum Einwand, der Beschwerdeführer habe
nicht mit einer Blutprobe rechnen müssen, weil die Auflage seit längerem
nicht mehr aktuell gewesen sei bzw. zur Tatzeit Unsicherheit bestanden habe,
ob die Auflage im Führerausweis noch bestehe. Das Obergericht erwog, diese
spätere Version sei mit Blick auf die Aussagen einen Tag nach dem Vorfall
wenig glaubwürdig. Im Übrigen würde dies nichts daran ändern, dass der
Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jeder Verkehrskontrolle mit
einer Überprüfung der Einhaltung der Auflage rechnen musste, solange über die
Gültigkeit der Auflage noch Unklarheit herrschte.

3.3 In einer Befragung bei der Kantonspolizei, die rund zwei Monate nach dem
Tatzeitpunkt stattfand, sagte der Beschwerdeführer aus, er habe zwei
Führerausweis-Dokumente. Die Auflage sei im alten Ausweis vermerkt; der neue
Ausweis sei ohne Auflage. Es ist nicht ganz klar, ob der Beschwerdeführer mit
seinen Ausführungen im bundesgerichtlichen Verfahren dartun will, er hätte
bei der vereitelten Polizeikontrolle das auflagefreie, neue Dokument
vorweisen können. Die Schlussfolgerung, dass die Polizisten diesen Ausweis
auf der Strasse mutmasslich nicht weiter überprüft und diesfalls auch keine
Blutprobe durchgeführt hätten, ist spekulativ und vermag die Feststellungen
im angefochtenen Entscheid nicht ernsthaft in Frage zu stellen.
Soweit der Beschwerdeführer allgemein bestreiten will, dass die Auflage im
Tatzeitpunkt noch bestanden habe, bringt er keine stichhaltigen Argumente
gegen die differenzierte Begründung im angefochtenen Entscheid vor. Vielmehr
ist es nachvollziehbar, wenn das Obergericht erwogen hat, der
Beschwerdeführer habe solange gewärtigen müssen, dass die Beachtung der
Abstinenz-Auflage bei jeder Polizeikontrolle überprüft würde, bis diese klar
aufgehoben war.

3.4 Die übrigen Einwände des Beschwerdeführers zur gerichtlichen
Feststellung, dass er mit einer Blutprobe rechnen musste, erweisen sich von
vornherein als unbeachtlich. So hilft es dem Beschwerdeführer nichts, wenn er
darauf hoffte, er könne sich der Polizeikontrolle erfolgreich durch Flucht
entziehen. Das Obergericht hat auch die Persönlichkeit des Beschwerdeführers
nicht widersprüchlich gewürdigt, indem es ihm bezüglich seiner Flucht eine
Überreaktion zubilligte und gleichzeitig bei ihm die vernunftgemässe Einsicht
voraussetzte, dass die Einhaltung der Abstinenz-Auflage bei jeder
Polizeikontrolle überprüft würde.

3.5 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Vorbringen des
Beschwerdeführers nicht geeignet sind, die Beweiswürdigung des Obergerichts
als willkürlich erscheinen zu lassen oder offensichtlich erhebliche und
schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld des
Beschwerdeführers zu begründen. Verletzungen des Willkürverbots oder der
Unschuldsvermutung lassen sich nicht ausmachen.

4.
Unter dem Gesichtswinkel des Gleichbehandlungsgebots ist es nicht zu
beanstanden, wenn die Polizei den Einsatz von Alkoholkontrollen bei
Autolenkern mit und ohne Abstinenz-Auflage unterschiedlich handhabt. Das
Obergericht hat, wie mehrfach erwähnt, angenommen, der Beschwerdeführer habe
wegen dieser Auflage jederzeit mit einer entsprechenden Überprüfung rechnen
müssen. Dass es mit dieser Würdigung bei ihm einen strengeren Massstab als
bei anderen Personen anlegt, bei denen diese Auflage ebenfalls angeordnet
worden ist, zeigt der Beschwerdeführer nicht konkret auf. Der angefochtene
Entscheid verstösst folglich nicht gegen das Gebot der Rechtsgleichheit (Art.
8 Abs. 1 BV).

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten
ist. Bei diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art.
156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 27. März 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: