Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.736/2006
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{T 0/2}
1P.736/2006 /fun

Urteil vom 30. November 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Haag.

X. ________, Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.

Strafverfahren; dringliche vorsorgliche Massnahme,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer, vom 29. September 2006.

Sachverhalt:

A.
Der Amtsstatthalter von Sursee führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung,
zunächst wegen des Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, der mehrfachen
Urkundenfälschung, der sexuellen Nötigung, Schändung, Pornografie und
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Inzwischen wurde die
Strafuntersuchung wegen Verdachts der Veruntreuung, des gewerbs- und
bandenmässigen Diebstahls, der Sachbeschädigung, Förderung der Prostitution,
Freiheitsberaubung, Entführung, Nötigung, Widerhandlungen gegen das ANAG und
das Waffengesetz, Gefährdung des Lebens und des Bruchs amtlicher
Beschlagnahme ausgeweitet.

X. ________ befand sich bereits vom 9. Juli 2003 bis 23. Dezember 2003 in
Untersuchungshaft. Er wurde am 16. März 2006 erneut festgenommen und mit
Verfügung des Amtsstatthalters von Sursee vom 17. März 2006 in
Untersuchungshaft versetzt. Seither wurden mehrere Haftentlassungsgesuche
abgewiesen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1P.590/2006 vom 2. Oktober 2006).

B.
Mit Entscheid vom 5. September 2006 ordnete der Amtsstatthalter gestützt auf
ein Gutachten der Luzerner Psychiatrie vom 10. August 2006 in Anwendung von §
89bis Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Luzern vom 3. Juni 1957
(StPO) in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB die (vorsorgliche)
stationäre Behandlung des Angeschuldigten in einer geeigneten Anstalt gemäss
den Ausführungen im Gutachten an. Am 6. September 2006 erteilte die
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern die Zustimmung im Sinne von § 89bis
Abs. 3 StPO.

Einen Rekurs gegen die angeordnete vorsorgliche Massnahme wies das
Obergericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 29. September 2006 ab.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. November 2006 beantragt X.________
unter anderem, der obergerichtliche Entscheid vom 29. September 2006 sei
aufzuheben und er sei sofort aus der Haft bzw. vorsorglichen Massnahme zu
entlassen. Eventuell sei eine mildere Massnahme und eine Neubegutachtung
anzuordnen. Weiter ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Beiordnung
des amtlichen Verteidigers als Rechtsvertreter.
Das Obergericht beantragt, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werden könne. In gleichem Sinn hat sich die
Staatsanwaltschaft geäussert. Mit Eingabe vom 20. November 2006 hat der
Beschwerdeführer repliziert.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die umstrittene Anordnung einer vorsorglichen stationären Behandlung
stützt sich auf § 89bis Abs. 1 der Luzerner Strafprozessordnung in Verbindung
mit Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Es handelt sich um eine gestützt auf
kantonales Recht verfügte Massnahme, und es ist zu prüfen, ob die in der
Strafprozessordnung genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Gegen den
angefochtenen Entscheid steht somit kein anderes Rechtsmittel als die
staatsrechtliche Beschwerde offen.

1.2 Das Begehren um Entlassung aus dem Freiheitsentzug ist in Abweichung vom
Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig,
da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft oder
stationären Massnahme die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit
der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive
Anordnung hergestellt werden kann (vgl. BGE 129 I 129 E. 1.2.1; 124 I 327 E.
4b/aa).

1.3 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG hat der Beschwerdeführer die wesentlichen
Tatsachen zu nennen und darzulegen, welche verfassungsmässigen Rechte bzw.
welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid
verletzt sind. Das Rügeprinzip besagt, dass das Bundesgericht nur klar und
detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen prüft (BGE 131 I 377
E. 4.3 S. 385). Auf die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist unter dem
Vorbehalt rechtsgenügend begründeter Rügen einzutreten.

2.
2.1 Die umstrittene vorsorgliche Massnahme schränkt die in Art. 10 Abs. 2 BV
garantierte persönliche Freiheit des Beschwerdeführers ein. Ein Eingriff in
dieses Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage
beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf
er den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im
vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender
Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung muss
sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV im
Gesetz selbst vorgesehen sein.
Gemäss § 89bis Abs. 1 der Luzerner Strafprozessordnung kann eine vorsorgliche
Massnahme im Sinne des Art. 43 StGB angeordnet werden, wenn eine ärztliche
Untersuchung ergibt, dass der Angeschuldigte psychisch krank ("geistig
abnorm") ist und dringend einer besonderen Behandlung bedarf, sofern er eines
mit der Geisteskrankheit zusammenhängenden Verbrechens oder Vergehens
beschuldigt wird. In Anbetracht der Schwere der zur Diskussion stehenden
freiheitsbeschränkenden Massnahme prüft das Bundesgericht die Anwendung des
kantonalen Rechts frei. Soweit Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen
der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht
grundsätzlich nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen
Behörden willkürlich sind (BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24 mit Hinweisen).

2.2 Umstritten ist in der vorliegenden Angelegenheit, ob die Voraussetzungen
für die Anordnung der vorsorglichen Massnahme erfüllt sind. Der
Beschwerdeführer hält eine ambulante Massnahme für angemessen und verlangte
im kantonalen Verfahren eventualiter die Einholung eines Zweitgutachtens.

Das Obergericht stützt sich im angefochtenen Entscheid im Wesentlichen auf
das Gutachten der Luzerner Psychiatrie vom 10. August 2006. Danach leidet der
Beschwerdeführer an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) und einer gemischten Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und
narzisstischen Anteilen. Diese Diagnose einer seelischen Störung wird vom
Beschwerdeführer grundsätzlich nicht - jedenfalls nicht in einer Art. 90 Abs.
1 lit. b OG genügenden Weise - in Frage gestellt. Auch die dringende
Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung ist unbestritten. Streitpunkt
ist einzig, ob eine stationäre Massnahme oder eine ambulante Therapie
angezeigt ist.

Nach dem ausführlichen Gutachten der Luzerner Psychiatrie vom 10. August 2006
besteht beim Beschwerdeführer eine hohe Rückfallgefahr und eine
störungsbedingte Unzuverlässigkeit, aufgrund welcher nicht zu erwarten ist,
dass eine ambulante Therapie zur erfolgreichen Behandlung des
Beschwerdeführers ausreichen könnte. Die Gutachter erachten auch einen
weiteren Aufenthalt in einer Strafanstalt als unzweckmässig, empfehlen
hingegen eine Einweisung in die Massnahmenvollzugsanstalt St. Johansen in Le
Landeron. Die Ausführungen der Experten in ihrem Gutachten sowie des
Obergerichts im angefochtenen Entscheid sind nachvollziehbar und legen die
Einweisung in die genannte Anstalt nahe. Es trifft nicht zu, dass die
Massnahme nur wegen einer statistisch hohen Rückfallgefahr angeordnet wurde.
Vielmehr erfordern zusätzliche störungsbedingte Umstände beim
Beschwerdeführer die umstrittene stationäre Heilbehandlung. Das Obergericht
führt zu Recht aus, dass die Massnahme unter verschiedenen Gesichtspunkten
auch im Interesse des Beschwerdeführers liegt. Sie kann unter den gegebenen
Umständen auch unter Berücksichtigung der Vorbringen des Beschwerdeführers
keinesfalls als unverhältnismässig bezeichnet werden. Ein Zweitgutachten
erscheint unter den gegebenen Umständen nicht erforderlich. Im Übrigen wird
über die Weiterführung der Massnahme - wie das Obergericht richtig darlegt -
im Rahmen des Hauptverfahrens der Strafrichter zu befinden haben.

2.3 Es ergibt sich somit, dass die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen
ist, soweit darauf eingetreten werden kann. Mit dem vorliegenden Entscheid
wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

3.
Der Beschwerdeführer beantragt unentgeltliche Rechtspflege und die Beigabe
des amtlichen Verteidigers als Rechtsvertreter. Dem Gesuch kann insoweit
entsprochen werden, als auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr verzichtet
wird. Hingegen erscheint der Beizug des amtlichen Verteidigers angesichts der
eindeutigen Sach- und Rechtslage im vorliegenden staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren nicht nötig (Art. 152 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. November 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: