Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.657/2006
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{T 0/2}
1P.657/2006 /ggs

Urteil vom 12. April 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiberin Gerber.

AX.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Hess,

gegen

BX.________,
C.________,
Beschwerdegegnerinnen,
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.

Strafverfahren,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer,
vom 5. September 2006.
Sachverhalt:

A.
Am Abend des 2. September 2001 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen
BX.________ und ihrem Ehemann AX.________. Bei diesem Streit griff
AX.________ seine Ehefrau handgreiflich an, indem er sie am Hals würgte.

B.
Am 26. Oktober 2005 sprach das Kriminalgericht des Kantons Luzern AX.________
der Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB und der Drohung nach Art. 180
StGB schuldig und verurteilte ihn zu 3 Jahren Zuchthaus.

C.
Gegen dieses Urteil erhob AX.________ Appellation mit dem Antrag, er sei vom
Vorwurf der Gefährdung des Lebens freizusprechen. Die Staatsanwaltschaft des
Kantons Luzern erhob Anschlussappellation mit dem Ziel einer Verurteilung des
Angeklagten wegen unvollendeten Tötungsversuchs. Am 5. September 2006 sprach
das Obergericht des Kantons Luzern AX.________ erneut der Gefährdung des
Lebens (Art. 129 StGB) und der Drohung (Art. 180 StGB) schuldig und bestrafte
ihn mit 2 Jahren und 10 Monaten Zuchthaus.

D.
Gegen das obergerichtliche Urteil hat AX.________ am 15. Januar 2007
staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem beantragt er die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

E.
Das Obergericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft schliesst auf Abweisung der
Beschwerde. BX.________ hat sich nicht vernehmen lassen.

F.
In seiner Replik vom 5. März 2007 hält der Beschwerdeführer an seinen
Anträgen fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Da der angefochtene Entscheid vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über
das Bundesgericht (BGG; SR 173.110) am 1. Januar 2007 erging, finden auf das
Beschwerdeverfahren noch die Bestimmungen des OG und des BStP i.d.F. vor der
Änderung vom 17. Juni 2005 Anwendung (Art. 132 Abs. 1 BGG).

Das angefochtene Urteil ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, gegen
den die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte grundsätzlich offen steht (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG; Art. 269 Abs. 2
aBStP). Der Beschwerdeführer ist als Verurteilter zur staatsrechtlichen
Beschwerde legitimiert.

Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde ist daher - vorbehältlich
rechtsgenügend begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) - einzutreten,
soweit der Beschwerdeführer Willkür bei der Beweiswürdigung sowie eine
Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" rügt. Dagegen kann in diesem
Verfahren nicht geprüft werden, ob das Obergericht die Bestimmungen des
eidgenössischen Strafrechts, namentlich Art. 129 StGB, zutreffend ausgelegt
und angewendet hat (vgl. Art. 84 Abs. 2 OG i.V.m. Art. 269 Abs. 1 aBStP). Der
anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hält denn auch in seiner Replik
ausdrücklich fest, dass die rechtliche Würdigung nicht Gegenstand der
Beschwerde sei.

2.
Nach Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon
dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar
vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist,
zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss
die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist
(BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9 mit Hinweisen).

Als Beweiswürdigungsregel besagt der aus der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs.
1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK) abgeleitete Grundsatz "in dubio pro reo", dass
sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen
Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel
bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist
verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln
müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend,
weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden
kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln,
d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der
Frage, ob angesichts des willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht
zu unterdrückende Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der
Sachrichter vom für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte
überzeugt erklären dürfen, greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung
ein, da der Sachrichter diese in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips
zuverlässiger beantworten kann (Urteile 1P.428/2003 vom 8. April 2004 E. 4.2
und 1P.732/2004 vom 10. März 2005 E. 3.2).

3.
Das Obergericht ging davon aus, dass der Beschwerdeführer seine Ehefrau im
Verlauf der Auseinandersetzung stark gewürgt habe. Umstritten war die Dauer
des Würgens: Dieses hatte nach Aussage des Opfers "unendlich lange" gedauert,
während der Beschwerdeführer eine Dauer von 3 - 5 Sekunden eingeräumt hatte.
Das Obergericht liess die Frage ausdrücklich offen. Feststehe dagegen, dass
der Beschwerdeführer sehr stark zugepackt habe, so dass BX.________ gemäss
ihrer Darstellung kaum mehr atmen konnte und dabei Todesangst verspürte.

Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. D.________ (Institut für
Rechtsmedizin E.________) betrachtete es das Obergericht als hinreichend
gesichert, dass das massive Würgen des Angeklagten tödlich für das Opfer
hätte verlaufen können. Der Angriff gegen den Hals des Opfers sei geeignet
gewesen, einen reflektorischen Herzstillstand über eine Reizung des
Halsnervengeflechts zu erzeugen. Zwar habe Dr. D.________ diesen Erfolg als
selten bezeichnet; der massive Würgegriff des Beschwerdeführers hätte aber
das Funktionieren des Nervensystems des Opfers stark beeinträchtigen können,
dies neben der Herbeiführung des strangulationsbedingten Sauerstoffmangels.
Allgemein sei bekannt, dass schon bei einem leichten Würgen (nahe)
Lebensgefahr bestehen könne, da in der Halsgegend wichtige Arterien- und
Venenstränge verlaufen.

4.
Der Beschwerdeführer hält die Feststellung der Vorinstanz, wonach
Lebensgefahr bestanden habe, für willkürlich, da dies sowohl den
Feststellungen von Dr. F.________ wie auch den gutachterlichen Aussagen von
Dr. D.________ widerspreche.
Dr. F.________, der das Opfer am Tag nach dem Vorfall untersucht habe, habe
klar verneint, dass in irgendeiner Phase Lebensgefahr bestanden habe.

Dr. D.________ habe in seinem Ergänzungsgutachten vom 27. Mai 2003
ausgeführt, dass ein einmaliges kräftiges Zupacken von 3 - 5 Sekunden Dauer
am Hals nicht zu einer lebensgefährlichen Situation führe beim Opfer, ausser
dass durch Druck auf nervöse Strukturen am Hals ein reflexartiges Geschehen
zu einem Herzstillstand führen könne. Ein solches Geschehen sei aber sehr
selten und habe sich offensichtlich in vorliegender Sache nicht realisiert.

In seinem ersten Gutachten vom 8. Mai 2002 habe Dr. D.________ zwar eine
Gefährdung des Lebens bejaht; diese Ausführungen hätten sich aber auf ein
längerdauerndes kräftiges Würgen bezogen. Das Gericht habe jedoch die Dauer
des Würgens offengelassen, weshalb zugunsten des Beschwerdeführers davon
auszugehen sei, dass das Würgen nicht länger als 3 - 5 Sekunden gedauert
habe. Wenn das Obergericht das Ergebnis des Gutachters übernehme, so
übernehme es auch die Annahme, das Würgen habe viel länger gedauert als 3 - 5
Sekunden. Dies stehe im Widerspruch zu den Sachverhaltsfeststellungen des
Gerichts, in denen die Dauer des Würgens offengelassen werde; zudem sei auch
die Sachverhaltsannahme des Gutachters willkürlich:

Sie widerspreche den Feststellungen von Dr. F.________, wonach der
Beschwerdeführer seine Ehefrau offensichtlich nur kurzfristig gewürgt habe.
Dr. F.________ habe sich auf eigene Wahrnehmungen und auf ein persönliches
Gespräch mit dem Opfer stützen können. Überdies habe sich der Gutachter Dr.
D.________ auf unbewiesene und bestrittene Sachverhaltsangaben gestützt: Die
Todesangst, das Gefühl der fehlenden Luftzufuhr sowie die wochenlangen
Schluckbeschwerden seien Behauptungen des Opfers, die mit keinen weiteren
Indizien untermauert werden könnten. Der Gutachter habe auch nicht
ausschliessen können, dass ein kräftiges Zupacken während 3 - 5 Sekunden
ähnliche Befunde entstehen lassen könnte, wie bei BX.________ beobachten
worden seien. Er habe auch nicht mit Sicherheit ausschliessen können, dass
der Urinabgang beim Opfer während des Würgens, den er als Anzeichen
einsetzenden Sauerstoffmangels gewertet hatte, auch auf Angst, Überraschung
oder eine volle Blase zurückzuführen sein könnte.

5.
Das Obergericht liess die Frage der Dauer des Würgens ausdrücklich offen und
stellte in der Folge, zur Begründung der Gefährlichkeit des Übergriffs,
lediglich auf die Stärke des Würgegriffs ab ("dass der Angeklagte sehr stark
zupackte";"massiver Würgegriff"; "kräftige Würgehandlung"), die vom
Beschwerdeführer nicht bestritten wird. Insofern braucht im Folgenden nicht
geprüft zu werden, ob die Annahme, das Würgen habe lange angedauert,
willkürlich wäre.

6.
Aus den Erwägungen des Obergerichts geht hervor, dass es Strangulationen
generell als potentiell lebensgefährliche Handlungen einschätzt:
Strangulationshandlungen am Hals bzw. deren Folgen zeichneten sich
regelmässig dadurch aus, dass trotz äusserlich wenig eindrucksvoller Befunde
am Hals dennoch schwerste Folgen wie der Tod feststellbar seien und
andererseits Opfer mit eindrücklichen äusseren Befunden solche Handlungen
ohne Folgen überlebt hätten (E. 4.2 S. 17 des angefochtenen Entscheids). Das
Obergericht hielt fest, dass nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft
und Erfahrung ein Wissen um den genauen Pathomechanismus des letalen
Geschehens fehle; es stehe einzig fest, dass neben dem Aspekt des
strangulationsbedingten Sauerstoffmangels auch die Gefährdungsmöglichkeit auf
der Ebene der Nerven zu beachten sei, weshalb dieses spezifische Tatvorgehen
ab einer gewissen Intensität immer mit einer unmittelbaren Lebensgefahr für
das Opfer verbunden sei (E. 3.1 S. 10 mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall
sei von einer kräftigen Würgehandlung auszugehen. Der Angriff des Angeklagten
gegen den Hals des Opfers sei geeignet gewesen, einen reflektorischen
Herzstillstand über eine Reizung des Halsnervengeflechts herbeizuführen, auch
wenn dieser Erfolg von Dr. D.________ als selten bezeichnet werde. Zudem
hätte das Funktionieren des Nervensystems des Opfers stark beeinträchtigt
werden können. Das Obergericht ging deshalb von einer effektiven
Lebensgefährdung des Opfers aus (E. 4.2. S. 17/18).

6.1 Der Beschwerdeführer macht dagegen im Wesentlichen geltend, eine
lebensgefährliche Situation hätte nur entstehen können, wenn tatsächlich
Druck auf nervöse Strukturen am Hals ausgeübt worden sei; dies sei jedoch
vorliegend nicht geschehen. Nur bei einem solchen Druck aber könne es - in
sehr seltenen Fällen - zu einem Herzstillstand kommen.

Fest steht im vorliegenden Fall nur, dass der bei der Strangulation ausgeübte
Druck weder zu einer Beeinträchtigung der Nervenfunktionen noch zu einem
reflektorischen Herzstillstand geführt hat. Daraus kann aber nicht
geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer keinen Druck auf Nerven des
Opfers ausgeübt hat. Im Übrigen kommt es darauf, nach der oben dargelegten
Konzeption des Obergerichts, auch nicht an: Dieses stellte vielmehr darauf
ab, dass bei Strangulationen einer gewissen Intensität stets die Gefahr der
Beeinträchtigung von Nervenfunktionen bestehe, ohne dass dies vom Täter im
Moment des Würgens beeinflusst werden könnte, weshalb es vom Zufall abhänge,
ob ein tödlicher Erfolg eintritt oder nicht. Diese Annahme kann sich auf das
Gutachten des Sachverständigen Dr. D.________ stützen und wird auch vom
Beschwerdeführer nicht substantiiert bestritten.

6.2 Der Beschwerdeführer hält die Annahme einer unmittelbaren Lebensgefahr
auch deshalb für willkürlich, weil der reflektorische Herzstillstand über
eine Reizung des Halsnervengeflechts sehr selten vorkomme, und es deshalb
unhaltbar sei, die Verwirklichung dieser Gefahr als wahrscheinlich zu
bezeichnen.

Dies ist jedoch nicht eine Frage der Sachverhaltsfeststellung sondern der
rechtlichen Würdigung: Das Obergericht ging davon aus, dass der
Herzstillstand als Folge einer Strangulation selten sei (E. 4.2 S. 17), und
legte somit denselben Sachverhalt zugrunde, von dem auch der Beschwerdeführer
ausgeht. Ob die Gefahr eines reflektorischen Herzstillstands rechtlich als
unmittelbare Lebensgefahr i.S.v. Art. 129 StGB qualifiziert werden kann,
obwohl dieser Erfolg selten eintritt, ist eine Frage der Auslegung des
gesetzlichen Tatbestands, die nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde
ist (vgl. oben E. 1 a.E.).
6.3 Der Beschwerdeführer beruft sich schliesslich auf das Gutachten von Dr.
F.________, der eine Lebensgefahr aufgrund der kurzen Dauer der Strangulation
ausgeschlossen hatte. Diese Aussage durfte das Obergericht jedoch ohne
Willkür als zu undifferenziert betrachten, da sie sich offensichtlich nur auf
den strangulationsbedingten Sauerstoffmangel bezog und andere Gefahren,
insbesondere auf der Ebene der Nerven, nicht berücksichtigte.

6.4 Nach dem Gesagten kann die Beweiswürdigung und die
Sachverhaltsfeststellung des Obergerichts nicht als willkürlich betrachtet
werden. Auch eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" ist nicht
ersichtlich.

7.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist somit abzuweisen.

Der Beschwerdeführer hat um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
ersucht. Da die Voraussetzungen von Art. 152 OG vorliegen, ist diesem Gesuch
zu entsprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Beat Hess wird als amtlicher Vertreter des Beschwerdeführers
bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht
des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. April 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: