Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.621/2006
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{T 0/2}
1P.621/2006 /fun

Urteil vom 12. März 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Katja Ammann,

gegen

Bezirksamt Muri, Seetalstrasse 8, Postfach 55,
5630 Muri, vertreten durch Urs Hoppler, Bezirksamtmann, Kirchbühlstrasse 1,
5630 Muri,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Strafprozess, Beschlagnahme, Entsiegelung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, vom 17. August 2006.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksamt Muri führt gegen X.________ (geb. 1974) eine Strafuntersuchung
wegen Ausnützung einer Notlage sowie wegen sexueller Belästigung.

Mit Rechtshilfehausdurchsuchungsbefehl vom 15. Mai 2006 beauftragte das
Bezirksamt die Kantonspolizei Zürich, die Räumlichkeiten von X.________ nach
pornografischem Material speziell mit Kinderaufnahmen und weiteren
Beweismitteln im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Ausnützung einer Notlage
zu durchsuchen und diese sicherzustellen.

Am 22. Mai 2006 vollzog die Kantonspolizei Zürich die Hausdurchsuchung und
stellte ein Mobiltelefon, einen Personal Computer, einen Laptop und 29
Datenträger sicher.

B.
Am 6. Juni 2006 erhob X.________ beim Bezirksamt Einsprache und beantragte
die Versiegelung der beschlagnahmten Gegenstände.

Das Entsiegelungsbegehren des Bezirksamts vom 19. Juli 2006 hiess das
Obergericht des Kantons Aargau zunächst mit Verfügung vom 20. Juli 2006 gut,
hob diese aber im Anschluss an ein Wiedererwägungsgesuch von X.________ am
24. Juli 2006 auf.

Nachdem X.________ zum Entsiegelungsbegehren am 16. August 2006 Stellung
genommen hatte, hiess das Obergericht mit Verfügung vom 17. August 2006 das
Entsiegelungsbegehren erneut gut und bewilligte die Durchsuchung der
beschlagnahmten Gegenstände.

C.
Dagegen führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die
Verfügung des Obergerichts vom 17. August 2006 aufzuheben.

Mit Präsidialverfügung vom 17. Oktober 2006 hat das Bundesgericht der
Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.

D.
In der Vernehmlassung beantragt das Obergericht die Abweisung der Beschwerde.
Das Bezirksamt hat sich nicht vernehmen lassen. Am 28. November 2006 hat
X.________ eine Replik eingereicht.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Weil die angefochtene
Verfügung früher erging, richtet sich das bundesgerichtliche
Beschwerdeverfahren nach altem Recht (Art. 132 Abs. 1 BGG). Anwendbar ist
namentlich das Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG).

1.2 Die angefochtene, kantonal letztinstanzliche Präsidialverfügung des
Obergerichts schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht
ab. Als Zwischenentscheid ist sie gemäss Art. 87 Abs. 2 OG - mit den hier
nicht einschlägigen Ausnahmen gemäss Abs. 1 - nur dann beschwerdefähig, wenn
sie einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann. Dies wird bei
der Beschlagnahme (BGE 128 I 129 E. 1), nicht jedoch in allen Fällen der
Entsiegelung angenommen (vgl. Urteile 1P.357/2003 vom 9. Juli 2003,
1P.501/2002 vom 17. Dezember 2002, 1P.752/2003 vom 20. April 2004, jeweils E.
1.1, und 1P.133/2004 vom 13. August 2004, E. 1). Im kantonalen Verfahren
werden Beschlagnahme und Entsiegelung gemeinsam behandelt, weshalb die
Beschwerde gegen den Zwischenentscheid zulässig ist.

1.3 Mit dem Vorbehalt von Erwägung 6.2 betreffend Entschädigung für das
kantonalen Verfahren (Antrag Ziff. 3) ist auf die staatsrechtliche Beschwerde
grundsätzlich einzutreten.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit
(Art. 10 Abs. 2 BV) und auf Privatsphäre (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK), der
Eigentumsgarantie (Art. 26 BV), der Unschuldsvermutung (Art. 32 BV), des
Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) und eine willkürliche
Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts betreffend die Durchsuchung von
Papieren (§ 90 StPO/AG). Im Wesentlichen begründet er die Rügen damit, es
fehle an einem vorbestehenden, hinreichenden, objektiv begründeten und
konkreten Tatverdacht für die Zwangsmassnahme. Das Strafverfahren werde
formell nur wegen Ausnützung einer Notlage und sexueller Belästigung, nicht
aber wegen sexueller Handlungen mit einem Kind oder Pornografie geführt. Die
kantonalen Behörden hätten den Verdacht, der Beschwerdeführer besitze
verbotene Pornografie, konstruiert und bezweckten, mit der Zwangsmassnahme an
noch nicht vorhandene Beweise zu kommen. Es handle sich somit um eine
unzulässige Beweisausforschung.

3.
Der Beschwerdeführer soll in der Zeit von ca. Ende Januar 2006 bis Ende März
2006 unter dem Namen "A.________" eine Beziehung mit Y.________ (geb. 1989)
unterhalten haben, in der es wiederholt zu sexuellen Handlungen gekommen sei.
Y.________ war damals 16 1/2 Jahre alt und wohnte im Kinderheim Z.________.
Der Beschwerdeführer soll ihm Geld gegeben haben (Bargeld oder Aufladen des
Prepay-Guthabens des Mobiltelefons). Welche Rolle das Geld in der Beziehung
zwischen dem Beschwerdeführer und Y.________ gespielt hat, ist umstritten
(Entsiegelungsgesuch des Bezirksamts Muri vom 19. Juli 2006).

Nach der angefochtenen Verfügung (Ziff. 7.2) beziehen sich die bisherigen
Ermittlungen insbesondere der sexuellen Kontakte des Beschwerdeführers mit
Y.________ im Wesentlichen auf den Straftatbestand der Ausnützung der
Notlage. Aufgrund seines Verhaltens bestünden aber Anhaltspunkte dafür, dass
der Beschwerdeführer anderweitige Kontakte zu allenfalls minderjährigen
Jugendlichen geknüpft haben und entsprechendes Ton- und Bildmaterial auf
seinen Informatikmitteln gespeichert sein könnte. Der Beschwerdeführer habe
ausdrücklich angegeben, dass der auf seinen Gerätschaften pornografisches
Material gespeichert habe und dass ihn junge Männer mehr anziehen als
gleichaltrige oder ältere. Daraus ergebe sich ein genügender Tatverdacht der
Verletzung anderer Straftatbestände des Sexualstrafrechts, insbesondere der
Pornografie. Aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers könne von einer
unzulässigen Beweisausforschung keine Rede sein und die Durchsuchung der
Informatikmittel erweise sich als verhältnismässig.

Weiter führt das Obergericht aus (angefochtene Verfügung, Ziff. 7.3), es
liege der Verdacht der Ausnützung der Notlage, der sexuellen Handlungen mit
Kindern und der Pornografie vor. Die Durchsuchung des Mobiltelefons sei zur
Überprüfung der Behauptung des Beschwerdeführers unumgänglich, wonach er
genauestens darauf achte, keine Kontakte mit jungen Männern unter 16 Jahren
einzugehen.

4.
4.1 Mit der Beschlagnahme und Durchsuchung der Geräte und Datenträger sind
insbesondere die persönliche Freiheit, die Privatsphäre und die
Eigentumsgarantie betroffen. Es ist bekannt, dass auf Computern und ähnlichen
Geräten heute oft persönliche, sensible Informationen gespeichert werden, die
nicht für die Augen Dritter bestimmt sind. Es ist daher darauf zu achten,
dass solche Geräte nicht grundlos beschlagnahmt und durchsucht werden. Bei
einer anfänglichen Verdachtslage mit einzelnen Hinweisen kann daher die
Beurteilung, ob eine Zwangsmassnahme zulässig ist, Schwierigkeiten bereiten.

Im vorliegenden Fall verfügte die Strafverfolgungsbehörde über den konkreten
Hinweis, dass der Beschwerdeführer mit einem 16-jährigen Jugendlichen eine
sexuelle Beziehung führte, einen Decknamen benutzte und ihm Geldzahlungen
leistete. Dies hat bei der Behörde zum einen den Verdacht geweckt, der
Beschwerdeführer könnte sich des Ausnützens einer Notlage, das heisst der
Beeinträchtigung der freien sexuellen Selbstbestimmung des Jugendlichen,
strafbar gemacht haben, und zum anderen, er könnte verbotene Pornografie
besitzen. Als Grund für Beschlagnahme und Entsiegelung wird der zweitgenannte
Verdacht angeführt. Der Beschwerdeführer fühlt sich offenbar zu Jugendlichen
hingezogen, die deutlich jünger sind als er, und der kantonalen Behörde sind
der betroffene Jugendliche und dessen Aussagen bekannt. Bei dieser Sachlage
ist der Verdacht des Besitzes verbotener Pornografie, namentlich mit
Kinderaufnahmen, verfassungsrechtlich haltbar. Der Umstand, dass das
Schutzalter des Jugendlichen geringfügig überschritten ist, lässt den
Anfangsverdacht nicht verfassungswidrig erscheinen.

4.2 Es ist zu betonen, dass es sich um einen Hinweis handelt, der im Verlauf
der weiteren Untersuchung zu prüfen ist. Der Beschwerdeführer steht bis zu
einer (allfälligen) rechtskräftigen Verurteilung unter dem Schutz der
Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV). Dies gilt es zu beachten, denn gerade
Verdächtigungen im Zusammenhang mit Kinderpornografie können für einen
Betroffenen schwer zu ertragen sein. Gleichwohl lässt sich nicht von einem
konstruierten Sachverhalt oder von fehlenden Hinweisen sprechen. Der
Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer beruht auf einem sachlichen Grund; das
öffentliche Interesse an der Klärung der Verdachtslage mittels der gesetzlich
vorgesehenen Zwangsmassnahme (§ 85 und 90 StPO/AG) überwiegt das private
Interesse an der Geheimhaltung der gespeicherten Inhalte.

4.3 Bei der Hausdurchsuchung gab der Beschwerdeführer an, dass er auf seinem
Computer und dem Notebook pornografisches Material gespeichert habe, worunter
aber mit Sicherheit keine Kinderpornografie vorhanden sei. In der
anschliessenden Einvernahme sagte er, dass ihn junge männliche Personen mehr
ansprechen als gleichaltrige oder ältere. Er erkundige sich stets genau über
das Alter seiner Sexualpartner und überprüfe dies soweit möglich (Rapport der
Kantonspolizei Aargau vom 4. Juli 2006, S. 4, 7). Dem Beschwerdeführer ist
insoweit zuzustimmen, als die Aussagen - isoliert betrachtet - im Sinne eines
erlaubten Verhaltens verstanden werden können. Allerdings schliesst dies die
abweichende Deutung des Obergerichts bei einer Betrachtung der gesamten
Umstände nicht aus. Der Tatverdacht bleibt somit bestehen. Die
Strafverfolgungsbehörde wird die Mehrdeutigkeit der Sachlage zu
berücksichtigen und nach belastenden wie auch entlastenden Gesichtspunkten zu
ermitteln haben.

4.4 Dass die Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer formell nicht wegen
des Verdachts der Pornografie eröffnet wurde, ist aus verfassungsrechtlicher
Sicht nicht zu beanstanden. Für die Zulässigkeit der Beschlagnahme ist
erheblich, ob ein Tatverdacht besteht, nicht, ob deswegen formell ein
Strafverfahren eröffnet worden ist.

Die Rügen sind unbegründet.

5.
5.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Diskriminierungsverbots
(Art. 8 Abs. 2 BV). Er betätige sich homosexuell in einer Lebensform der
Ausübung von gleichgeschlechtlichen Kontakten mit jüngeren Männern. Bei
heterosexuellen und mit gleichaltrigen Partnerinnen oder Partnern
verkehrenden Männern werde niemand auf die Idee kommen, einen Besitz
verbotener Pornografie zu konstruieren, wenn diese ausführten, sie hätten
pornografisches Material auf ihrem Computer gespeichert. Indem die Behörden
ohne rechtsgenüglichen Anlass von der Homosexualität einen Verdacht der
Verletzung der sexuellen Integrität von Kindern konstruierten, seien sie in
eine verfassungswidrige Diskriminierung verfallen.

5.2 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand, namentlich nicht wegen der
Lebensform, diskriminiert werden. Mit dem Begriff der Lebensform sollen
gemäss der Darstellung in der Lehre vor allem Menschen mit homosexueller
Orientierung geschützt werden (René Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen
Verfassungsrechts, Basel 2003, Rz. 1726 f.; Markus Schefer, Grundrechte in
der Schweiz, Ergänzungsband, Bern 2005, S. 256). Das Strafverfahren gegen den
Beschwerdeführer wird nicht wegen seiner Homosexualität, sondern wegen einer
sexuellen Beziehung mit einem 16-jährigen Jugendlichen geführt, dessen
sexuelle Selbstbestimmung beeinträchtigt sein könnte. In diesem Zusammenhang
steht der Pornografieverdacht. Es ist offensichtlich, dass strafbare
Handlungen durch das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV nicht
geschützt werden. Daher kann es offen bleiben, ob der verfassungsrechtliche
Begriff der Lebensform sexuelle Kontakte mit deutlich jüngeren Partnern
einschliesst. Da Beschlagnahme und Entsiegelung wegen eines begründeten
strafrechtlichen Verdachts und nicht wegen der Lebensform des
Beschwerdeführers bewilligt wurden, ist sein Vorbringen unbegründet.

6.
6.1 Wie sich zusammenfassend ergibt, konnte das Obergericht die Entsiegelung
ohne Verletzung verfassungsmässiger Rechte bewilligen. Die Beschwerde ist
deshalb unbegründet und abzuweisen. Bei diesem Ausgang trägt der
Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 156 Abs.
1 OG).

6.2 Der Beschwerdeführer beantragt, er sei für die Umtriebe im Verfahren vor
dem Bezirksamt und dem Obergericht angemessen zu entschädigen. Der Antrag ist
aus doppeltem Grund unzulässig. Zum einen kann der Beschwerdeführer wegen der
kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde grundsätzlich nur die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht jedoch die (reformatorische)
Neuverlegung der kantonalen Verfahrenskosten verlangen (BGE 131 I 137 E. 1.2;
124 I 327 E. 4, mit Hinweisen). Zum anderen müsste der Beschwerdeführer
darlegen, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und
inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind (Art. 90
Abs. 1 lit. b OG). Dieser Begründungspflicht kommt er nicht nach, denn er
rügt im Zusammenhang mit dem kantonalen Kostenentscheid keine
Verfassungsverletzung. Die Beschwerde ist insoweit appellatorisch; es kann
darauf nicht eingetreten werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Muri und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. März 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: