Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.600/2006
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{T 0/2}
1P.600/2006 /ggs

Urteil vom 21. Dezember 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Störi.

1. A.________,
2.B.________ AG,
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Barbara Strehle,

gegen

C.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Laszlo Georg
Séchy,
Statthalteramt des Bezirkes Bülach, Bahnhofstrasse 3, Postfach, 8180 Bülach,
Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Hirschengraben 13, Postfach,
8023 Zürich.

Strafverfahren,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 3. Juli 2006.
Sachverhalt:

A.
Das Statthalteramt Bülach verurteilte C.________ am 14. Juli 2005 wegen
Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen im Sinne von Art. 292 StGB zu einer
Busse von 300 Franken. Es hielt für erwiesen, dass er gegen eine im
summarischen Verfahren ergangene Verfügung des Einzelrichters des
Bezirksgerichts Bülach vom 20. Dezember 2001 bzw. 18. Oktober 2002 verstossen
habe, indem er Prof. D.________ per   E-Mail mitgeteilt habe: "Sie alle
wurden auf die genau gleiche Art hineingelegt mit dem Ziel, riesige
Lizenzgebühren zu kassieren ohne eine entsprechende Gegenleistung oder
funktionierendes Know-how."

Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts Bülach sprach C.________ am 2.
Dezember 2005 frei und hob die Strafverfügung des Statthalteramtes auf.

Die Geschädigten, A.________ und die B.________ AG, fochten diesen Entscheid
beim Obergericht des Kantons Zürich an. Dessen I. Strafkammer trat am 3. Juli
2006 auf die Berufung nicht ein (Dispositiv-Ziff. 1), auferlegte die
Verfahrenskosten den Appellanten je zur Hälfte (Dispositiv-Ziff. 3) und
verpflichtete sie, C.________ eine Prozessentschädigung von 1'076 Franken zu
bezahlen (Dispositiv-Ziff. 4).

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 18. September 2006 wegen Verletzung von
Art. 9 und Art. 29 Abs. 1 und 2 BV beantragen A.________ und die B.________
AG, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an dieses zurückzuweisen. Eventualiter
seien die Dispositiv-Ziffern 3 und 4 aufzuheben und die Sache zur Neuregelung
der Kosten- und Entschädigungsfolgen ans Obergericht zurückzuweisen.

Das Statthalteramt Bülach und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.

C. ________ beantragt, das Gesuch um aufschiebende Wirkung abzuweisen und
verzichtet im Übrigen, unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid, auf
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Bei der angefochtenen Verfügung handelt es sich um einen kantonal
letztinstanzlichen Endentscheid, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG).
Die Beschwerdeführer sind durch das Nichteintreten auf ihre Berufung und die
Verurteilung zur Bezahlung von Gerichtskosten und einer Entschädigung an die
Gegenpartei in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit
beschwerdebefugt (Art. 88 OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben
zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
Das Obergericht hat den Beschwerdeführern im angefochtenen Entscheid die
Legitimation zur Berufung abgesprochen. Es hat erwogen (E. 2.2 bis 2.5 S. 3
ff.), nach § 395 Abs. 1 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich
vom 4. Mai 1919 (StPO) seien die Geschädigten zur Ergreifung von
Rechtsmitteln befugt, sofern ihnen durch die der gerichtlichen Beurteilung
unterstellte Handlung unmittelbar ein Schaden zugefügt worden sei oder zu
erwachsen gedroht habe. Im Regelfall handle es sich um diejenigen Personen,
deren individuelle Rechtsgüter durch die verletzte Strafnorm unmittelbar in
Mitleidenschaft gezogen worden seien. Bezwecke eine Strafnorm hingegen primär
den Schutz öffentlicher Interessen, so gelte auch derjenige als Geschädigter,
dessen private Interessen durch die strafbare Handlung unmittelbar
(mit)beeinträchtigt würden, weil diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge
der tatbestandsmässigen Handlung sei.

Wie sich bereits aus dem Wortlaut des fünfzehnten Titels des
Strafgesetzbuches ergebe, gehöre Art. 292 StGB zu den Tatbeständen, welche
als Rechtsgut die öffentliche Gewalt und damit öffentliche Interessen
schützten. Die Besonderheit des Tatbestands liege darin, dass es sich bei
dieser Norm um eine Blankettstrafdrohung handle, die nichts über den Inhalt
der ihr zugrunde liegenden hoheitlichen Anordnung aussage, welcher der Täter
keine Folge geleistet habe. Sie habe zum einen als Mittel des
Verwaltungszwangs vollstreckungsrechtlichen Charakter, diene zum anderen aber
auch repressiven Zwecken, indem sie begangenes Unrecht - den Ungehorsam -
sanktioniere. Es herrsche in der Lehre Uneinigkeit, ob das Schutzobjekt von
Art. 292 StGB die Verfügung sei, welche die Strafandrohung enthalte, oder der
Rechtssatz, welcher der Verfügung zugrunde liege. Da die Bestimmung indessen
in erster Linie der Durchsetzung hoheitlicher Anordnungen diene, sei das
Unrecht der Widerhandlung unmittelbar in der Tatsache des Ungehorsams zu
sehen und nur mittelbar in der Zuwiderhandlung gegen den Rechtssatz, auf
welchem die Verfügung beruhe. Die Individualinteressen der Privaten würden
damit von Art. 292 StGB nur mittelbar geschützt, auch wenn dieser Schutz
grosse Bedeutung haben könne. Die Beschwerdeführer seien daher als
Geschädigte nur mittelbar betroffen und damit nicht berufungslegitimiert.

3.
3.1 Die Beschwerdeführer kritisieren die obergerichtliche Auslegung von § 395
Abs. 1 Ziff. 2 StPO nicht, wonach die Geschädigten zur Ergreifung von
Rechtsmitteln nur befugt sind, sofern ihnen durch die der gerichtlichen
Beurteilung unterstellte Handlung unmittelbar ein Schaden zugefügt wurde oder
zu erwachsen drohte. Sie werfen dem Obergericht indessen vor, sie auf Grund
einer unhaltbaren Auslegung von Art. 292 StGB als nur mittelbar Geschädigte
eingestuft zu haben. Es sei aus diesem Grund zu Unrecht nicht auf ihre
Berufung eingetreten und habe dadurch eine formelle Rechtsverweigerung
begangen. Ob eine solche vorliegt, prüft das Bundesgericht frei (BGE 126 I
166 E. 3a; 121 I 177 E. 2b/aa; 120 II 425 E. 2a; 119 Ia 4 E. 2a), die von den
Beschwerdeführern erhobene Willkürrüge ist daher gegenstandslos.

3.2 Gegen Art. 292 StGB verstösst, wer einem vom zuständigen Richter unter
Hinweis auf die Strafdrohung erlassenen Ge- oder Verbot nicht Folge leistet.
Die tatbestandsmässige Handlung liegt in der Missachtung der behördlichen
Anordnung, was sich bereits aus der systematischen Einordnung der Norm im
fünfzehnten Titel des Strafgesetzbuchs "Strafbare Handlungen gegen die
öffentliche Gewalt" ergibt. Schutzobjekt der Bestimmung sind damit
unmittelbar die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der
staatlichen Autorität. Dies selbstverständlich nicht als Selbstzweck, sondern
hier zum besonderen Schutz einer von den Beschwerdeführern in eigenem
Interesse erstrittenen superprovisorischen Verfügung, deren Missachtung mit
strafrechtlichen Sanktionen bedroht wird. Die vom Obergericht beispielshaft
angeführten Strafnormen - Art. 285 StGB (Gewalt und Drohung gegen Behörden
und Beamte) und Art. 307 Abs. 1 StGB (Falsches Zeugnis. Falsches Gutachten.
Falsche Übersetzung) - schützen nach dessen Rechtsprechung nebst öffentlichen
unmittelbar auch private Interessen, weshalb der Beamte und die privaten
Prozessparteien als Geschädigte Rechtsmittel ergreifen können. Dies muss
indessen auch im vorliegenden Fall gelten, in welchem das Missachten des
richterlichen Befehls, das grundsätzlich lediglich zivilrechtliche
Verantwortlichkeiten begründen würde, durch den Hinweis auf Art. 292 StGB mit
einer strafrechtlichen Sanktion bedroht wird. Auch wenn sich die Tathandlung
dogmatisch aufteilen lässt in einen Verstoss gegen das richterliche Verbot
und einen solchen gegen die amtliche Verfügung, so handelt es sich doch um
ein und dieselbe Handlung. Was strafbar ist, ergibt sich, da Art. 292 StGB
eine Blankettstrafnorm darstellt, nicht aus dem Strafgesetz selber, sondern
aus der jeweiligen Verfügung (Günter Stratenwerth, BT II, 5. Aufl. S. 290).
Wie die Interessen der betroffenen Partei an einer unverfälschten Beweislage
untrennbar mit dem tatbestandsmässigen Verhalten des Täters verknüpft sind
(angef. Urteil S. 4/5 mit Hinweisen), ist dies auch bei der Partei der Fall,
die die strafbewehrte amtliche Verfügung erwirkt hat. Bei dieser Sachlage ist
es sachlich unhaltbar, dem Geschädigten die Rechtsmittellegitimation
abzusprechen mit dem Argument, Art. 292 StGB schütze seine Interessen nur
mittelbar. Das Obergericht hat somit eine formelle Rechtsverweigerung
begangen, indem es den Beschwerdeführern die Rechtsmittellegitimation
abgesprochen hat und aus diesem Grund auf die Berufung nicht eingetreten ist,
die Rüge ist begründet.

4.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens
trägt der Beschwerdegegner dessen Kosten (Art. 156 OG) und hat ausserdem die
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu
entschädigen (Art. 159 OG). Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um
aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene
Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 3. Juli 2006 aufgehoben.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführern eine Parteientschädigung von
Fr. 1'800.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Statthalteramt des Bezirkes Bülach und
dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Dezember 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: