Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.5/2006
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1P.5/2006 /gij

Urteil vom 10. März 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc R. Bercovitz,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Silvan Jampen,
Untersuchungsrichter 5 des Untersuchungsrichteramtes I Berner Jura-Seeland,
Amthaus, Spitalstrasse 14, 2501 Biel,
Staatsanwaltschaft I Berner Jura-Seeland, Neuengasse 8, 2502 Biel,
Obergericht des Kantons Bern, Anklagekammer, Hochschulstrasse 17, Postfach
7475, 3001 Bern.

Strafverfahren; Nichteintretensbeschluss; Berechtigung am Verfahren
teilzunehmen,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern vom 28. November 2005.
Sachverhalt:

A.
Y. ________ erstattete am 30. November 2004 gegen X.________ Strafanzeige
wegen Tätlichkeit, Beschimpfung und Drohung. X.________ wurde am 29. Dezember
2004 auf der Bezirkswache zur Sache befragt. Gemäss Befragungsprotokoll
machte er unter anderem folgende Aussage: Er habe Y.________ am 29. November
2004 per Zufall in seinen PW einsteigen sehen. Als er zum PW habe hingehen
wollen, sei Y.________ zügig auf ihn zugefahren. Kurz vor seinen Beinen habe
Y.________ angehalten. Er sei erschrocken und habe Y.________ gefragt, ob er
ihn umbringen wolle. Daraufhin sei Y.________ losgefahren, und er habe nur
noch auf die Motorhaube des PWs springen können. Er habe sich an den
Scheibenwischern festgehalten und gedacht, Y.________ halte gleich wieder an.
Dieser sei jedoch die Auffahrt hinaufgefahren und habe erst nach 60 bis 80
Metern angehalten. Darauf sei er von der Motorhaube hinunter gestiegen und
zum Haus zurückgekehrt. Verletzungen habe er sich bei diesem Vorfall nicht
zugezogen.

Gestützt auf diese Aussage wurde Y.________ am 18. Januar 2005 auf der
Bezirkswache zum Vorgefallenen befragt. Dabei wurde ihm mitgeteilt, dass
gegen ihn eine von Amtes wegen erhobene Strafanzeige wegen Gefährdung des
Lebens (Art. 129 StGB) vorliegt. Y.________ bestritt die
Sachverhaltsdarstellung von X.________.

Auf Antrag des Untersuchungsrichters 5 des Untersuchungsrichteramtes I Berner
Jura-Seeland und Zustimmung des Prokurators 3 der Staatsanwaltschaft I Berner
Jura-Seeland vom 1. Juli 2005 wurde beschlossen, auf die gegen Y.________
gerichtete Strafanzeige wegen Gefährdung des Lebens nicht einzutreten. Als
Begründung gab der Untersuchungsrichter an, dass für X.________ während der
Fahrt auf der Motorhaube keine unmittelbare Lebensgefahr im Sinne von Art.
129 StGB bestanden habe. Y.________ sei im Schritttempo gefahren, und
X.________ habe sich an den Scheibenwischern festhalten und somit nicht von
der Motorhaube herunter rutschen können.

Gegen den Nichteintretensbeschluss rekurrierte X.________ bei der
Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern, welche das Rechtsmittel mit
Beschluss vom 28. November 2005 abwies.

B.
X.________ hat gegen den Beschluss der Anklagekammer staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung des Gehörsanspruchs (Art. 29 Abs. 2 BV) und
willkürlicher Sachverhaltsermittlung (Art. 9 BV) erhoben. Er beantragt, es
sei "in Aufhebung des angefochtenen Urteils der Vorinstanz vom 28. November
2005 sowie des Nichteintretensbeschlusses des Untersuchungsrichteramtes I
Berner Jura-Seeland [...] die Untersuchungsbehörde anzuweisen, die
Strafverfolgung gegen den Beschwerdegegner zu eröffnen."

C.
Die Anklagekammer beantragt die Beschwerdeabweisung. Die Staatsanwaltschaft
und Y.________ als privater Beschwerdegegner (nachfolgend: Beschwerdegegner)
beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Der
Untersuchungsrichter hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers gemäss Art. 2 Abs. 1 OHG ist
zu verneinen, da die behauptete psychische Beeinträchtigung mangels
hinreichender Schwere nicht das legitime Bedürfnis begründet, die
Hilfsangebote und Schutzrechte des Opferhilfegesetzes in Anspruch zu nehmen
(vgl. BGE 128 I 218 E. 1.2 S. 220). Die Legitimation des Beschwerdeführers
zur staatsrechtlichen Beschwerde kann demzufolge nicht auf Art. 8 OHG
gestützt werden.

1.2 Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare
Handlung Geschädigte nicht legitimiert, gegen die Einstellung des
Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil staatsrechtliche
Beschwerde zu erheben (BGE 128 I 218 E. 1.1 S. 219 f.).

Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst kann der
Geschädigte indessen mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung von
Verfahrensgarantien geltend machen, deren Missachtung eine formelle
Rechtsverweigerung darstellt. Das nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich
geschützte Interesse ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in
der Sache, sondern aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Eine
solche besteht dann, wenn dem Beschwerdeführer - wie in casu - im kantonalen
Verfahren Parteistellung zukommt. In diesem Fall kann der Beschwerdeführer
die Verletzung jener Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen
Verfahrensrecht oder unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung zustehen (BGE
114 Ia 307 E. 3c S. 312 f.).

Vorliegend ist der Beschwerdeführer dem Gesagten zufolge legitimiert, eine
Verletzung des Gehörsanspruchs (Art. 29 Abs. 2 BV), nicht aber des
Willkürverbots bei der Sachverhaltsermittlung (Art. 9 BV) zu rügen. Die
Beurteilung des letzteren Punktes kann von der Prüfung der Sache nicht
getrennt werden. Auf eine solche hat der in der Sache selbst nicht
legitimierte Beschwerdeführer aber keinen Anspruch. Auf die Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 9 BV ist daher nicht einzutreten.

1.3 Gegen Einstellungsbeschlüsse und andere Nichtanhandnahmeentscheide
letzter Instanzen (vgl. BGE 119 IV 92 E. 1b S. 95) kann eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen erhoben werden, wenn geltend gemacht
wird, dass der angefochtene Entscheid eidgenössisches Recht verletzt (Art.
268 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 269 Abs. 1 BStP). Insoweit ist die
staatsrechtliche Beschwerde ausgeschlossen (Art. 84 Abs. 2 OG). Soweit der
Beschwerdeführer beanstandet, Art. 129 StGB sei falsch angewendet worden, ist
auf die Beschwerde wiederum nicht einzutreten.

1.4 Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen können mit
staatsrechtlicher Beschwerde keine neuen rechtlichen Argumente und keine
neuen Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden (BGE 129 I 49 E. 3 S.
57, mit Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer sich auf Personen als Zeugen
des Vorfalls vom 29. November 2004 beruft, die er im kantonalen Verfahren
nicht bereits genannt hat, ist er ebenfalls nicht zu hören.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht als Gehörsverletzung geltend, einzig anlässlich
der polizeilichen Befragung zur gegen ihn gerichteten Strafanzeige
Gelegenheit gehabt zu haben, den Vorfall vom 29. November 2004 zu schildern.
Die Strafuntersuchung gegen den Beschwerdegegner sei eingestellt worden,
obwohl sich der Beschwerdeführer im gegen den Beschwerdegegner geführten
Verfahren nie explizit habe äussern, zu den widersprüchlichen Aussagen des
Beschwerdegegners, auf welche die kantonalen Instanzen über weite Strecken
abgestellt hätten, Stellung nehmen und Beweisanträge vorbringen können.

2.2 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliesst das Recht des Betroffenen,
sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zu
äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen,
mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung
wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum
Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu
beeinflussen (BGE 124 I 241 E. 2 S. 242, mit Hinweisen). Eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs kann geheilt werden, wenn der Betroffene die Möglichkeit
erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den
Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann (BGE 124 V 180 E. 4a S.
183, mit Hinweisen). Die Heilung des Verfahrensmangels ist ausgeschlossen,
wenn es sich um eine besonders schwerwiegende Verletzung der Parteirechte
handelt (BGE 126 I 68 E. 2 S. 72, mit Hinweisen).

2.3 Die Anklagekammer kann im Rekursverfahren die Entscheide der unteren
Instanz sowohl hinsichtlich Tatbestands- als auch Rechtsfragen in vollem
Umfang überprüfen (Thomas Maurer, Das bernische Strafverfahren, 2. Aufl.,
Bern 2003, S. 504). Der beanstandete Verfahrensmangel wiegt nicht schwer. Die
Voraussetzungen für dessen Heilung sind somit grundsätzlich erfüllt.

In der Rekursschrift vom 15. Juli 2005 äusserte sich der Beschwerdeführer
ausführlich zum beanzeigten Vorfall und zu den Widersprüchen zwischen seinen
und den Aussagen des Beschwerdegegners. Als Beweise seiner Schilderungen
legte er der Rekursschrift einen Kartenausschnitt und zwei Photographien bei.
Zudem beantragte er die Befragung seiner Ehefrau als Zeugin und eine
förmliche Einvernahme seiner selbst als Privatkläger.

Im angefochtenen Beschluss setzte sich die Anklagekammer mit dem in der
Rekursschrift geschilderten Sachverhalt eingehend auseinander und begründete,
weshalb es dem Kartenausschnitt und den Photographien keine beweismässige
Bedeutung attestierte. Sie kam zum Schluss, dass nichts gegen die
Sachverhaltsdarstellung spreche, wie sie im Nichteintretensbeschluss
wiedergegeben sei, die Befragung der Ehefrau als Zeugin keinen Sinn mache und
auf weitere Beweisabnahmen insgesamt verzichtet werden könne.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich ohne weiteres, dass sich der
Beschwerdeführer anlässlich des Rekursverfahrens zum inkriminierten
Sachverhalt und den Widersprüchen in seinen und den Aussagen des
Beschwerdegegners äussern sowie Beweisanträge stellen konnte, die
Rekursinstanz sich mit seinen Äusserungen und Beweisanträgen auseinander
setzte und in antizipierter Beweiswürdigung eine weitere Beweisabnahme als
unnötig erachtete. Dem Gehörsanspruch des Beschwerdeführers ist damit
hinreichend Genüge getan.

3.
Nach dem Gesagten ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde
offensichtlich unbegründet und damit abzuweisen ist, soweit darauf
eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang hat der
Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG) und den
privaten Beschwerdegegner angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Der Beschwerdeführer hat den privaten Beschwerdegegner für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Untersuchungsrichter 5 des
Untersuchungsrichteramtes I Berner Jura-Seeland, der Staatsanwaltschaft I
Berner Jura-Seeland und dem Obergericht des Kantons Bern, Anklagekammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. März 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: