Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.594/2006
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{T 0/2}
1P.594/2006 /scd

Urteil vom 8. November 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Theodor Mion,

gegen

a.o. Generalprokurator des Kantons Bern,
Hodlerstrasse 7, 3001 Bern,
Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Hochschulstrasse 17, Postfach
7475, 3001 Bern.

Nachträglicher Strafvollzug,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 3. August 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern beschloss am 3. August
2006, fünf von X.________ verwirkte Freiheitsstrafen von insgesamt 16 Monaten
und 21 Tagen nachträglich zu vollziehen und setzte den nach Anrechnung des
Massnahmevollzugs noch zu verbüssenden Strafrest auf 8 Monate Gefängnis,
abzüglich 63 Tage Untersuchungshaft, fest.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 14. September 2006 wegen willkürlicher
Beweiswürdigung beantragt X.________, diesen Obergerichtsentscheid aufzuheben
und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Er
ersucht, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Am 2. Oktober 2006 reichte X.________ unaufgefordert eine Beschwerdeergänzung
ein, worin er geltend macht, in letzter Zeit grosse Therapiefortschritte
gemacht zu haben. Dr. Y.________ bestätigt und belegt mit Analyseergebnissen
vom 22. und vom 25. September 2006, dass X.________ in letzter Zeit keine
illegalen Drogen mehr konsumierte. Z.________ bestätigt, dass dieser sich bei
ihr einer Feldenkrais-Therapie unterziehen wolle; erster Behandlungstermin
sei der 28. September 2006. Sie halte X.________ für nicht
hafterstehungsfähig.

In seiner Vernehmlassung beantragt das Obergericht sinngemäss, die Beschwerde
abzuweisen.

C.
Mit Verfügung vom 6. Oktober 2006 erkannte der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen kantonal
letztinstanzlichen Endentscheid, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte zulässig ist (Art. 84 Abs. 1 lit.
a, Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist befugt, sich gegen die
Anordnung des Strafvollzugs zur Wehr zu setzen (Art. 88 OG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde unter Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c) einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht willkürliche Tatsachenfeststellung
und Beweiswürdigung vor.

Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid
von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt
es nicht, wenn sich der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung
als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im
Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S.
88, je mit Hinweisen).

3.
3.1 Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid erwogen, die Abteilung
Straf- und Massnahmevollzug der Polizei- und Militärdirektion habe am 4.
November 2004 rechtskräftig entschieden, der Vollzug der ambulanten Massnahme
in Form der Weiterführung der bereits laufenden Behandlung bei Dr. A.________
sei als gescheitert einzustellen. Gegenstand des Verfahrens sei einmal mehr,
im Sinne von Art. 43 Ziff. 3 StGB zu entscheiden, ob die in ihrem Vollzug
aufgeschobenen Freiheitsstrafen noch vollstreckt werden sollen oder ob eine
andere sichernde Massnahme Platz greifen soll. Nach einer ausführlichen
Darstellung des bisherigen Verlaufs des Massnahmevollzugs aus Sicht
verschiedener Beteiligter (angefochtener Entscheid S. 4 ff.), worauf
verwiesen wird, kommt das Obergericht zum Schluss, die Einweisung des
Beschwerdeführers in eine Heilanstalt sei - auch wegen dessen fehlender
Motivation - nicht angezeigt. Bei der Beurteilung, ob erneut eine ambulante
Massnahme in Form einer Behandlung durch Dr. Y.________ angeordnet werden
könne, hat es zwar anerkannt, dass sich der Beschwerdeführer seit dem 16.
Januar 2003 keine weiteren Delikte mehr habe zu Schulden kommen lassen, er
angeblich auf den Beikonsum von (illegalen) Drogen neben dem verschriebenen
Methadon verzichte und er sich nach der gescheiterten Beziehung zu Dr.
A.________ erfolgreich um einen neuen Arzt - Dr. Y.________ - bemüht habe. Es
bezweifelte indessen, dass der Beschwerdeführer in der Lage sei, die einmal
mehr bekundeten guten Vorsätze nachhaltig zu verwirklichen, zumal Dr.
Y.________ in seinem Zeugnis vom 6. Februar 2006 ausdrücklich festgehalten
habe, dass der Patient eine erneute ambulante Massnahme im Sinne des StGB
ablehne, und in seinem letzten Zeugnis vom 7. Juli 2006 die Erfahrungen mit
dem Beschwerdeführer bloss als "limitiert hoffnungsvoll" bezeichne. Diese
Zweifel seien umso grösser, als die Abteilung Straf- und Massnahmevollzug der
Polizei- und Militärdirektion in ihrer Verfügung vom 4. November 2005
durchaus nachvollziehbar ausgeführt habe, sie komme in einer
Gesamtbeurteilung zum Schluss, der Beschwerdeführer könne mit der gezeigten
Einstellung das Ziel der ambulanten Massnahme nicht erreichen. Zudem sei das
Arztzeugnis von Dr. Y.________ gelinde gesagt überaus
vorsichtig-zurückhaltend ausgefallen; es könne jedenfalls keine Rede davon
sein, die Therapie habe mit dem Arztwechsel von Dr. A.________ zu Dr.
Y.________ einen neuen Schwung erhalten. Insgesamt abwägend entfalle damit
die Möglichkeit, nochmals bzw. erneut eine ambulante Massnahme anzuordnen,
die vage Hoffnung auf ein Gelingen könne ein solches Vorgehen nicht
rechtfertigen.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht drücke auf S. 17 erhebliche
Zweifel an der Einstellung des Beschwerdeführers aus und werfe ihm
eigenbrötlerisches Verhalten vor, weil er unter anderem die Ärzte und
Rechtsvertreter gewechselt habe. Es könne ihm aber nicht angelastet werden,
dass er die Beziehung zu Dr. A.________ nach 10 Jahren abgebrochen habe, es
sei nicht ungewöhnlich, dass sich in dieser Zeit eine Beziehung zwischen Arzt
und Patient totlaufe. Der Vorwurf sei in Bezug auf die Rechtsvertreter
sachlich unhaltbar, zu Fürsprecher Renggli habe seit Jahren kein Kontakt mehr
bestanden, und die Wahl eines Arztes und Rechtsvertreters sei nun wirklich
Vertrauenssache.

Auf S. 18 bezweifle das Obergericht, dass der Beschwerdeführer gute Vorsätze
nachhaltig verwirklichen könne. Es nehme dabei Bezug auf die Verfügung der
Abteilung Straf- und Massnahmevollzug der Polizei- und Militärdirektion vom
9. November 1998, mit welcher die Fortsetzung des Programms Suprax 2
eingestellt worden sei. Die Verfügung sei 8 Jahre alt, es sei willkürlich,
diese veralteten Feststellungen dem angefochtenen Entscheid zugrunde zu
legen.

Schliesslich interpretiere das Obergericht die Arztberichte von Dr.
Y.________ als "vorsichtig-zurückhaltend". Dr. Y.________ sei kein
Schönredner, sondern habe in vernünftiger Weise einen realistischen Bericht
der ersten Therapieerfahrungen geben wollen; das Vorgaukeln utopischer
Behandlungserfolge sei ihm fremd. Wenn das Obergericht daraus aber einen
Misserfolg herauslese, sei dies eine schwerwiegende Fehlinterpretation; dies
lasse sich objektiv daran ablesen, dass der Beschwerdeführer nunmehr auf
Verschreibung von Dr. Y.________ eine Feldenkraistherapie beginnen wolle;
eine erste Vorbesprechung mit der Therapeutin habe bereits stattgefunden.

3.3 Die Einwände des Beschwerdeführers sind teils unzutreffend und beziehen
sich teils auf aus dem Zusammenhang gerissene einzelne Aspekte der
obergerichtlichen Beweiswürdigung und sind daher nicht geeignet für den
Nachweis, dass diese im Ergebnis willkürlich ist:

Es trifft keineswegs zu, dass das Obergericht allein gestützt auf eine acht
Jahre alte Verfügung der Abteilung Straf- und Massnahmevollzug der Polizei-
und Militärdirektion zum Schluss gekommen ist, der Beschwerdeführer sei
"eigenbrötlerisch" und nicht wirklich gewillt, an den ihm als ambulante
Massnahmen auferlegten Therapien ernsthaft und nachhaltig mitzuwirken. Es hat
diesen Schluss vielmehr in einer nachvollziehbaren Gesamtwürdigung des
bisherigen Therapieverhaltens des Beschwerdeführers gezogen und weist in
seiner Vernehmlassung namentlich auf ein Schreiben von Dr. A.________ vom 26.
Mai 2005 hin, worin dieser feststellte, dass seine Beziehung zum
Beschwerdeführer kaum als eine therapeutische bezeichnet werden könne, da der
Beschwerdeführer die vereinbarten Termine nur sehr unregelmässig und kaum je
pünktlich wahrgenommen habe. Dass das Obergericht auf Grund einer bereits
früher gescheiterten Massnahme und dieses Arztberichts starke Zweifel daran
hat, dass der Beschwerdeführer nunmehr eine Therapie bei Dr. Y.________
erfolgreich durchstehen kann und will, ist alles andere als willkürlich,
zumal dieser selber nach der ohne weiteres haltbaren Interpretation seiner
Darlegungen durch das Obergericht zumindest gewisse Bedenken hat. Dass der
Beschwerdeführer nunmehr eine Feldenkraistherapie machen will und bereits
eine Vorbesprechung mit einer Therapeutin hatte, war nicht Gegenstand des
vorinstanzlichen Verfahrens und ist damit - wie der Beschwerdeführer zu Recht
selber darlegt - ein in der staatsrechtlichen Beschwerde unzulässiges Novum.
Der Umstand wäre zudem nicht geeignet, die Beurteilung des Obergerichts in
Frage zu stellen: dieses hat nie bezweifelt, dass der Beschwerdeführer -
jedenfalls um einen drohenden Strafvollzug zu vermeiden - eine Therapie
beginnen, sondern nur, dass er sie auch (erfolgreich) durchstehen würde.
Diese Einschätzung des Obergerichts ist ohne weiteres haltbar.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten. Er hat zwar ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches indessen
abzuweisen ist, da die Beschwede aussichtslos war (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem a.o. Generalprokurator  und dem
Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: