Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.590/2006
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{T 0/2}
1P.590/2006 /scd

Urteil vom 2. Oktober 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Hess,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.

Haftentlassung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer,
vom 28. Juli 2006.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (geb. 1966) befand sich vom 9. Juli 2003 bis 23. Dezember 2003 in
Untersuchungshaft.

Er wurde am 16. März 2006 erneut festgenommen und mit Verfügung des
Amtsstatthalters von Sursee vom 17. März 2006 in Untersuchungshaft versetzt,
zunächst wegen des Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, der mehrfachen
Urkundenfälschung, der sexuellen Nötigung, Schändung, Pornografie und
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Inzwischen wurde die
Strafuntersuchung wegen Verdachts der Veruntreuung, des gewerbs- und
bandenmässigen Diebstahls, der Sachbeschädigung, Förderung der Prostitution,
Freiheitsberaubung, Entführung, Nötigung, Widerhandlungen gegen das ANAG und
das Waffengesetz, Gefährdung des Lebens und des Bruchs amtlicher
Beschlagnahme ausgeweitet.

Mit Entscheid vom 31. März 2006 wies das Obergericht des Kantons Luzern den
Rekurs gegen die Haftverfügung des Amtsstatthalters ab.

B.
Am 7. Juli 2006 wies der Amtsstatthalter von Sursee ein Haftentlassungsgesuch
von X.________ ab. Einen dagegen gerichteten Rekurs wies das Obergericht mit
Entscheid vom 28. Juli 2006 ab. Dagegen führt X.________ staatsrechtliche
Beschwerde.

Inzwischen haben der Amtstatthalter von Sursee am 16. August 2006 und das
Obergericht am 31. August 2006 ein weiteres Haftentlassungsgesuch von
X.________ abgewiesen.

C.
Gegen den Entscheid des Obergerichts vom 28. Juli 2006 führt X.________ durch
seinen Anwalt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen
Entscheid aufzuheben. X.________ sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen,
evtl. sei die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt in der Vernehmlassung,
die Beschwerde abzuweisen, das Obergericht, nicht darauf einzutreten.
X.________ hat sich dazu in der Replik vom 25. September 2006 geäussert.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid über ein
Gesuch um Entlassung aus der Untersuchungshaft. In der Vernehmlassung
beantragt das Obergericht, auf die Beschwerde nicht einzutreten, da der
Beschwerdeführer sich nicht mehr in Untersuchungshaft, sondern in einer
vorsorglichen, dringlichen stationären Massnahme gemäss Art. 89bis Abs. 1
StPO/LU befinde. Die Daten der Verfügung und des Inkrafttretens der Massnahme
werden nicht angegeben. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe die
Massnahme beim Obergericht am 21. September 2006 mit Gesuch um aufschiebende
Wirkung angefochten.

Es stellt sich die Frage, ob die Untersuchungshaft beendet und die
staatsrechtliche Beschwerde damit gegenstandslos geworden ist. Dies kann
jedoch offen bleiben: Befindet sich der Beschwerdeführer noch in
Untersuchungshaft, so ist die Beschwerde gemäss den folgenden Erwägungen
abzuweisen.

1.2 Das Begehren um Haftentlassung ist in Abweichung vom Grundsatz der
kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle
einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung
geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids,
sondern erst durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 129 I
129 E. 1.2.1; 124 I 327 E. 4b/aa).

1.3 Da die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf das
rechtzeitig eingereichte Rechtsmittel grundsätzlich einzutreten.

2.
2.1 Die Untersuchungshaft schränkt die in Art. 10 Abs. 2 BV garantierte
persönliche Freiheit des Beschwerdeführers ein. Ein Eingriff in dieses
Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im
öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf er den
Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im
vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender
Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung muss
sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV im
Gesetz selbst vorgesehen sein.

2.2 Untersuchungshaft darf nach dem Luzerner Recht (§ 80 Abs. 2 StPO/LU)
angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens
dringend verdächtig ist und wenn ausserdem eine der folgenden Voraussetzungen
zutrifft: (1) begründeter Fluchtverdacht; er kann insbesondere gegeben sein
bei der Anschuldigung, ein schweres Verbrechen oder Vergehen begangen zu
haben; (2) mangelnder Ausweis über die Identität; (3) Umstände, die
befürchten lassen, dass der Angeschuldigte den Untersuchungszweck gefährden
werde (Kollusionsgefahr); (4) konkrete Hinweise für die Annahme, dass der
Angeschuldigte weitere strafbare Handlungen begehen werde
(Wiederholungsgefahr).

2.3 Das Obergericht begründet die Untersuchungshaft mit Kollusions- und
Wiederholungsgefahr.

3.
Hinsichtlich des dringenden Tatverdachtes bringt der Beschwerdeführer vor, es
treffe nicht zu, dass alle Verdächtigungen, die zur Verhaftung vom 16. März
2006 geführt hätten, neu seien.

3.1 Gemäss dem angefochtenen Entscheid (Ziff. 4.1) werden dem
Beschwerdeführer mehrere Straftaten vorgeworfen. Er steht unter dem Verdacht,
dass er sich nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft im Dezember
2003 erneut strafbar gemacht hat: Anlässlich der Hausdurchsuchung vom 16.
März 2006 hätten die Untersuchungsbehörden auf den Computern des
Beschwerdeführers zahlreiche Bild- und Filmdateien mit verbotener
Pornografie, Gewaltdarstellungen und sexuellen Handlungen mit Tieren
gefunden, die im Zeitraum bis 14. März 2006 abgespeichert worden seien. Zudem
hätten die jüngsten Aussagen von drei Zeugen zu neuen Erkenntnissen
betreffend Besitz und Abgabe von Morphium geführt. Namentlich soll der
Beschwerdeführer einem Mann Morphium abgegeben haben. Bei der
Hausdurchsuchung sei beim Beschwerdeführer Morphium bzw. Morphin gefunden
worden. Im Weiteren soll er einer Frau Drogen abgegeben, sie in einer Wohnung
eingesperrt, nackt fotografiert und der Prostitution zugeführt haben.

3.2 Zu diesen Vorwürfen äussert sich der Beschwerdeführer im Einzelnen nicht,
sondern beschränkt sich auf die Aussage, es lägen keine neuen, dringenden
Tatverdachte vor. Eine derart allgemein gehaltene Bestreitung ist angesichts
der geschilderten konkreten Vorhalte nicht genügend sustanziiert und vermag
der Pflicht, die staatsrechtliche Beschwerde zu begründen (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG), nicht zu genügen. Es ist somit nicht dargetan, dass und inwiefern
bezüglich des dringenden Tatverdachts verfassungsmässige Rechte verletzt
wären.

Auf das Vorbringen ist mangels genügender Begründung nicht einzutreten.

4.
Hinsichtlich des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr macht der
Beschwerdeführer geltend, aus den Akten gehe hervor, dass er seit langem
therapiewillig sei und dass Dr. A.________ eine psychotherapeutische
Behandlung vorgeschlagen habe. Dies spreche gegen eine Wiederholungsgefahr.

4.1 Das Obergericht (angefochtener Entscheid, Ziff. 4.2.2) begründet die
Wiederholungsgefahr mit Vorstrafen hauptsächlich wegen Vermögensdelikten und
Urkundenfälschung und mit dem Verdacht weiterer Straftaten nach der
Entlassung aus der Untersuchungshaft im Dezember 2003. Zudem stützt es sich
auf einen vorläufigen forensisch-psychiatrischen Bericht von Dr. B.________
und Dr. C.________ vom 23. Mai 2006 und auf die persönliche Situation des
Beschwerdeführers. Es müsse im Falle einer Entlassung erneut mit strafbaren
Handlungen ernsthaft gerechnet werden und es solle verhindert werden, dass
sich das Verfahren durch weitere Delikte erschwere und in die Länge ziehe.

4.2 Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers lässt die Tatsache, dass der
Psychotherapeut Dr. A.________ eine psychotherapeutische Behandlung
vorschlug, die Annahme der Wiederholungsgefahr nicht verfassungswidrig
erscheinen. Das Schreiben von Dr. A.________ datiert vom 28. April 2004, und
es ist daraus nicht ersichtlich, von welchen Straftaten der Therapeut
Kenntnis hatte. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen, und es werden
dem Beschwerdeführer zusätzliche Tatvorwürfe gemacht.
Die Annahme des Obergerichts, es bestehe Wiederholungsgefahr, ist nicht
verfassungswidrig. Da es sich auf einen vorläufigen
forensisch-psychiatrischen Bericht abstützen konnte, musste es sich nicht
weiter zum damals noch ausstehenden forensisch-psychiatrischen Gutachten vom
10. August 2006 äussern; die entsprechende Rüge des Beschwerdeführers geht
fehl. Der Beschwerdeführer reicht mit der Replik einen Auszug der Seiten 1,
45 und 46 des Gutachtens vom 10. August 2006 ein. Es ist nicht Aufgabe des
Bundesgerichts, diesen Auszug als erste Instanz zu würdigen; jedenfalls
vermag dieser Auszug die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft und
insbesondere die vom Obergericht angenommene Wiederholungsgefahr nicht in
Frage zu stellen.

4.3 Im Umfang der vorgebrachten zulässigen Rügen ist die Untersuchungshaft
wegen Wiederholungsgefahr (§ 80 Abs. 2 Ziff. 4 StPO/LU) verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden.

4.4 Nach Ansicht des Obergerichts liegt überdies Kollusionsgefahr vor. Der
Beschwerdeführer rügt diesbezüglich eine aktenwidrige Schlussfolgerung im
angefochtenen Entscheid. Für die Zulässigkeit der Untersuchungshaft reicht es
aber aus, wenn ein besonderer Haftgrund (hier: Wiederholungsgefahr) erfüllt
ist. Die Untersuchungshaft wäre also auch dann rechtmässig, wenn die
Kollusionsgefahr verneint würde. Das entsprechende Vorbringen muss demnach
nicht behandelt werden.

5.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Akteneinsichtsrechts. Er habe
erst kurz vor Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde vollständige
Einsicht in die Akten des Untersuchungsverfahrens erhalten. Vor Obergericht
sei es ihm verwehrt gewesen, allfällige entlastende Argumente vorzubringen,
die von der Untersuchungsbehörde durch die Aktenselektion dem Obergericht
nicht zur Kenntnis gebracht worden seien.

5.1 Gemäss dem angefochtenen Entscheid (Ziff. 3) und der Bekräftigung des
Obergerichts in der Vernehmlassung konnte der Verteidiger die Akten des
Rekursverfahrens beim Obergericht uneingeschränkt einsehen.

5.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat der Angeschuldigte im
Haftprüfungsverfahren ein Recht auf Einsicht in die wesentlichen Akten. Als
wesentlich sind jene Schriftstücke anzusehen, die für die Bestreitung der
Rechtmässigkeit der Haft im jeweiligen Zeitpunkt notwendig sind. Dazu gehören
nicht nur die Akten, welche die Anordnung bzw. die Fortdauer der
Untersuchungshaft rechtfertigen können, sondern auch solche, welche
entlastende Elemente enthalten (BGE 115 Ia 293 E. 5b S. 303 f.). Dem
Angeschuldigten ist im Haftprüfungsverfahren somit keine uneingeschränkte
Einsicht in die gesamten Prozessakten zu gewähren, sondern es sind ihm nur
diejenigen Dokumente zur Verfügung zu stellen, die im Zusammenhang mit der
fraglichen Untersuchungshaft von Bedeutung sind und eine wirkungsvolle
Verteidigung erst ermöglichen. Das Recht auf Akteneinsicht kann überdies
durch eine Reihe von Massnahmen wie z.B. das Streichen von Zeugennamen
eingeschränkt werden, soweit der Verfahrenszweck dies erfordert (BGE 115 Ia
293 E. 5c S. 304; Urteil 1P.184/1996 vom 12. April 1996, publiziert in:
Plädoyer 3/1996 S. 68 ff.).
5.3 Der Beschwerdeführer räumt selber ein, dass es hier um die genügende
Akteneinsicht im Haftrekursverfahren, nicht im Untersuchungsverfahren geht.
Im Haftverfahren wird nicht der strafrechtliche Schuldvorwurf, sondern das
Vorliegen eines Tatverdachts und eines Haftgrundes geprüft. Es ist
verfassungsrechtlich haltbar, dass die Untersuchungsbehörde dem Obergericht
nicht die umfangreichen Untersuchungsakten von angeblich 29 Bundesordnern,
sondern eine Auswahl der für den Haftentscheid wesentlichen Akten
unterbreitet hat. Gestützt auf diese Aktenauswahl hat das Obergericht die
Untersuchungshaft als rechtmässig erachtet. Der Beschwerdeführer konnte in
alle Akten Einsicht nehmen, die dem Obergericht vorlagen. Insofern ist sein
Recht auf Akteneinsicht und auf ein faires Verfahren gewahrt. Er bestreitet
die strafrechtlichen Vorwürfe nicht im Einzelnen (E. 3.1/3.2) und bezeichnet
auch keine konkreten Akten, die ihm vorenthalten worden wären und die er zur
Bestreitung der Haftvoraussetzungen benötigen würde. Jedenfalls geht seine
Ansicht, er haben Anspruch auf vollständige Einsicht in alle
Untersuchungsakten, d.h. auch in jene Akten, die dem Obergericht nicht
vorlagen, und könne nur dann allenfalls entlastende Argumente vorbringen,
über den umschriebenen Geltungsbereich des Akteneinsichtsrechts hinaus.

5.4 Die Einsicht in die Akten der Strafuntersuchung (im Unterschied zum
Haftrekursverfahren) ist nicht Verfahrensgegenstand und das Bundesgericht hat
sich dazu nicht weiter zu äussern. Es ist lediglich darauf hinzuweisen, dass
dem Verteidiger des Beschwerdeführers nach Angabe der Staatsanwaltschaft am
22. September 2003, 22. Oktober 2003, 16. Februar 2005 und 11. September 2006
Einsicht in die jeweils vorhandenen Untersuchungsakten gewährt wurde. Das
letztgenannte Datum nennt auch der Beschwerdeführer in der Beschwerde und der
Replik.

5.5 Nach dem Gesagten steht fest, dass der Beschwerdeführer Einsicht in die
Akten des Haftrekursverfahrens nehmen konnte. Das verfassungsmässige
Akteneinsichtsrecht ist nicht verletzt.

6.

7.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen gemäss Art. 152 OG
vorliegen, ist dem Gesuch zu entsprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

2.1 Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

2.2 Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Beat Hess, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. Oktober 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: