Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.556/2006
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{T 0/2}
1P.556/2006 /zga

Urteil vom 25. Januar 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Haag.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Daniel Speck,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Anklagekammer des Kantons Thurgau, Postfach 339, 9220 Bischofszell.

Strafverfahren,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
der Anklagekammer des Kantons Thurgau
vom 14. Februar 2006.

Sachverhalt:

A.
Die Kantonspolizei Thurgau ermittelt auf Anweisung des kantonalen
Untersuchungsrichteramts gegen X.________ wegen Gläubigerschädigung durch
Vermögensverminderung (Art. 164 StGB) und Unterlassung der Buchführung (Art.
166 StGB). Am 26. Juli 2005 lud die Kantonspolizei X.________ zu einer
polizeilichen Befragung auf den 17. August 2005 ein. Das
Untersuchungsrichteramt teilte X.________ auf Anfrage hin mit, dass sein
Rechtsvertreter an den polizeilichen Befragungen nicht teilnehmen könne.
Daraufhin leistete X.________ der Einladung zur Befragung vom 17. August 2005
keine Folge.

Mit Beschwerde an die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau vom 12. August
2005 verlangte X.________, die Anwesenheit seines Rechtsvertreters an der
polizeilichen Befragung sei zuzulassen. Die Staatsanwaltschaft hat diese
Beschwerde am 14. November 2005 abgewiesen. Eine dagegen gerichtete
Beschwerde hat die Anklagekammer des Kantons Thurgau am 14. Februar 2006
ebenfalls abgewiesen.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 5. September 2006 beantragt X.________,
die Entscheide der Anklagekammer und der Staatsanwaltschaft seien aufzuheben
und die Angelegenheit sei zur Neubeurteilung an die Anklagekammer
zurückzuweisen. Er rügt eine Verletzung der Art. 9 und 32 Abs. 2 BV sowie von
Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK.

Die Anklagekammer schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft hat sich zur Beschwerde nicht
vernehmen lassen. Der Beschwerdeführer hat von der Möglichkeit, sich zur
Stellungnahme der Anklagekammer zu äussern, keinen Gebrauch gemacht.

C.
Mit Verfügung vom 4. Oktober 2006 hat der Präsident der I.
öffentlich-rechtlichen Abteilung der staatsrechtlichen Beschwerde
aufschiebende Wirkung beigelegt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG, SR 173.110) in Kraft getreten. Dieses Gesetz ist auf ein
Beschwerdeverfahren nur anwendbar, wenn der angefochtene Entscheid nach dem
1. Januar 2007 ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Diese Voraussetzung ist
vorliegend nicht erfüllt, weshalb die Beschwerde nach den Bestimmungen des OG
zu beurteilen ist.

2.
2.1 Gegen den angefochtenen Entscheid steht nach dem OG kein anderes
Rechtsmittel als die staatsrechtliche Beschwerde offen. Dieses Rechtsmittel
ist nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (Art. 86 Abs. 1
OG). Soweit der Beschwerdeführer nicht nur die Aufhebung des kantonal
letztinstanzlichen Entscheids der Anklagekammer, sondern auch des Entscheids
der Staatsanwaltschaft vom 14. November 2005 verlangt, kann auf die
Beschwerde nicht eingetreten werden.

2.2 Der angefochtene Entscheid der Anklagekammer schliesst das Verfahren
nicht ab. Es handelt sich daher um einen letztinstanzlichen kantonalen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG, gegen den die
staatsrechtliche Beschwerde nur zulässig ist, wenn er einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Nach ständiger Rechtsprechung muss es
sich dabei um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln, der auch mit einem
späteren günstigen Entscheid nicht gänzlich behoben werden kann (BGE 129 I
129 E. 1.1 S. 131; 126 I 207 E. 2 S. 210 mit Hinweisen).
Soweit Mängel bei der Durchführung eines Strafverfahrens durch die
Wiederholung des Verfahrens behebbar sind, bewirken sie keine nicht wieder
gutzumachende Nachteile rechtlicher Natur. Hingegen anerkennt die
Rechtsprechung namentlich, dass durch die Verweigerung gewisser
Verfahrensrechte wie der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung
zumeist ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht, da
die Nachteile, die sich für einen nicht verbeiständeten Angeschuldigten in
einem Strafverfahren ergeben können, durch die Wiederholung des Verfahrens
nach einem erfolgreichen Rechtsmittelverfahren kaum je gänzlich zu beheben
sind (vgl. BGE 129 I 281 E. 1.1 S. 283; 126 I 207 E. 2a S. 210).

Im vorliegenden Verfahren steht nicht die Verweigerung der unentgeltlichen
Verbeiständung, sondern die Verweigerung der Anwesenheit des Verteidigers bei
der polizeilichen Einvernahme zur Diskussion. Auch hier ist davon auszugehen,
dass ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht. Es
besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Strafverfahren nicht wieder
gutzumachende Nachteile erleidet, wenn er bei der ersten polizeilichen
Einvernahme zu Unrecht nicht verbeiständet wäre (vgl. BGE 129 I 281 E. 1.1 S.
283 f. mit Hinweis).

2.3 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG ist in der staatsrechtlichen Beschwerde
darzulegen, welche verfassungsmässigen Rechte als verletzt erachtet werden
und inwiefern dies der Fall sei. Das Bundesgericht prüft lediglich
rechtsgenügend vorgebrachte und klare Rügen (BGE 131 I 377 E. 4.3 S. 385).
Auf appellatorische Kritik tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 131 I 291
E. 1.5 S. 297 mit Hinweisen).

2.4 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde
sind erfüllt und geben zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass. Auf die
Beschwerde ist somit unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen
einzutreten.

3.
3.1 Die Anklagekammer führt im angefochtenen Entscheid aus, im vorliegenden
Fall sei noch keine Strafuntersuchung im Sinne der §§ 72 ff. der Thurgauer
Strafprozessordnung vom 30. Juni 1970 / 5. November 1991 (StPO/TG) eröffnet
worden. Vielmehr habe der Untersuchungsrichter die Kantonspolizei mit einem
Ermittlungsverfahren im Sinne von § 70 f. StPO/TG betraut, welches der
Ermittlung und Sicherung von Beweismitteln diene und als vorläufige
Feststellung des Sachverhalts den Entscheid über die Eröffnung einer
Strafuntersuchung ermöglichen solle. Die Bestimmung von § 77 StPO/TG, die dem
Angeschuldigten und seinem Verteidiger die Anwesenheit bei
Untersuchungshandlungen ermögliche, gelte für das polizeiliche
Ermittlungsverfahren nicht, sondern sei nur auf ein ordentlich eröffnetes
Strafuntersuchungsverfahren anwendbar. Die Anwesenheit des Verteidigers bei
der polizeilichen Einvernahme sei somit zu Recht abgelehnt worden.

3.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Auslegung von § 77 StPO/TG durch die
Anklagekammer verletze die Art. 9 und 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 3 lit.
c EMRK. Das Recht auf Anwesenheit des Verteidigers ergebe sich aus den
genannten Verfassungs- und Konventionsbestimmungen. Es gehe nicht an, den
Verteidiger von der polizeilichen Befragung auszuschliessen, weil eine § 77
StPO/TG entsprechende Bestimmung für das polizeiliche Ermittlungsverfahren
fehle. Aussagen des Beschuldigten in diesem Verfahrensstadium, mit welchen er
sich selbst belaste, würden im weiteren Strafverfahren gegen ihn verwertet.
Im Übrigen sei die Unterscheidung von Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren
unsinnig. Es sei davon auszugehen, dass der Verteidiger dem Beschwerdeführer
im Falle einer Befragung ohne Rechtsbeistand rate, keine Aussagen zur Sache
zu machen. Der Untersuchungsrichter müsse somit anhand der übrigen Unterlagen
entscheiden, ob er ein Strafverfahren eröffnen wolle. Dazu brauche es keine
polizeiliche Einvernahme. Auch dürfe der Untersuchungsrichter die Eröffnung
eines Strafverfahrens trotz Vorliegen einer Strafanzeige des kantonalen
Konkursamts mit Beilagen nicht hinauszögern, um eine Einvernahme des
Beschuldigten ohne Rechtsbeistand durchführen zu können und damit den
Anspruch auf Anwesenheit des Verteidigers zu umgehen.

3.3 Soweit der Beschwerdeführer behauptet, aus Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6
Ziff. 3 lit. c EMRK ergebe sich ein Recht auf Anwesenheit des Verteidigers
bei der polizeilichen Einvernahme, kann ihm nicht gefolgt werden (BGE 104 Ia
17 E. 4 S. 19 ff.; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Auflage, Zürich
2004, Rz. 494; Robert Hauser/Erhard Schweri/Karl Hartmann, Schweizerisches
Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 76 Rz. 12). Nur wenige kantonale
Strafprozessordnungen gestatten der Verteidigung, schon bei polizeilichen
Einvernahmen einer beschuldigten Person im Ermittlungsverfahren anwesend zu
sein ("Anwalt der ersten Stunde", s. Hinweise in Botschaft des Bundesrats vom
21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2005
1085, 1193 Fn. 273). Der Bundesrat schlägt vor, in der neuen
Strafprozessordnung des Bundes ein solches Anwesenheitsrecht der Verteidigung
bei polizeilichen Einvernahmen einzuführen (Art. 156 des Entwurfs für eine
Schweizerische Strafprozessordnung, E-StPO, BBl 2005 1389, 1435). Dieser
Vorschlag wird insbesondere damit begründet, dass Probleme bei der
Verwertbarkeit von Aussagen, die ohne ein Anwesenheitsrecht der Verteidigung
im polizeilichen Ermittlungsverfahren gemacht wurden, vermieden werden
sollten (vgl. BBl 2005 1194). Die vom Beschwerdeführer angerufenen
Verfassungs- und Konventionsbestimmungen statuieren hingegen kein Recht auf
Anwesenheit der Verteidigung an einer Einvernahme im polizeilichen
Ermittlungsverfahren. Es ist somit hier auch keine verfassungswidrige
Umgehung von Verteidigungsrechten zu erkennen.

3.4 Auch der Rüge des Beschwerdeführers, die Auslegung der Bestimmungen der
kantonalen Strafprozessordnung durch die Anklagekammer sei willkürlich, kann
nicht gefolgt werden. Die Teilnahme der Verteidigung an
Untersuchungshandlungen ist nach § 70 f. StPO/TG für das polizeiliche
Ermittlungsverfahren im Unterschied zum Untersuchungsverfahren (§ 77 StPO/TG)
nicht vorgesehen. Der Beschwerdeführer führt zwar richtig aus, er sei nicht
verpflichtet, bei der polizeilichen Einvernahme auszusagen (vgl.
Hauser/Schweri/Hartmann, a.a.O., § 75 Rz. 3). Allein die Gefahr, dass sich
die polizeiliche Einvernahme ohne Verteidiger wegen Aussageverweigerung des
Beschuldigten als unergiebig erweisen könnte, lässt den angefochtenen
Entscheid indessen nicht als willkürlich erscheinen.

4.
Es ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen ist, soweit
darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang sind die Kosten des
bundesgerichtlichen Verfahrens dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und der
Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Januar 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: