Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.552/2006
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{T 0/2}
1P.552/2006 /ggs

Urteil vom 3. Januar 2007

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Steinmann.

D. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Walter
Studer,

gegen

Einwohnergemeinde Tägerig, vertreten durch den Gemeinderat, Alte Poststrasse
6, 5522 Tägerig,
Departement Volkswirtschaft und Inneres
des Kantons Aargau, Justizabteilung,
Bleichemattstrasse 1, Postfach 2254, 5001 Aarau.

Einbürgerung, Art. 29 Abs. 2 BV,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
der Einwohnergemeinde Tägerig vom 29. Juni 2006.
Sachverhalt:

A.
A. ________ (geboren 1956), seine Ehefrau B.________ (geboren 1956) sowie die
Kinder C.________ (geboren 1984) und D.________ (geboren 1987) sind in der
Gemeinde Tägerig (AG) wohnhaft.

Im Jahre 2002 stellte die von Serbien und Montenegro stammende Familie
erfolglos ein Einbürgerungsgesuch.

Am 20. Februar 2005 stellte A.________ für sich, seine Ehefrau B.________ und
den Sohn D.________ ein Einbürgerungsgesuch; gleichzeitig ersuchte auch die
Tochter C.________ in eigenem Namen um Einbürgerung. B.________ zog ihr
Gesuch auf gemeinderätliche Empfehlung mangels sprachlicher Integration
zurück.

B.
Anlässlich der Einwohnergemeindeversammlung der Gemeinde Tägerig vom 29. Juni
2006 war unter Traktandum 9 über die Einbürgerungsgesuche von A.________,
C.________ und D.________ zu befinden. Der Gemeinderat beantragte den
Stimmberechtigten die Zustimmung zu den Einbürgerungsgesuchen. In seinem
Bericht an die Stimmbürger hatte er die Gesuchsteller folgendermassen
vorgestellt:
A.________ arbeitet seit 9 Jahren als Chauffeur bei der Firma X.________ AG.
Der Arbeitgeber beschreibt sein Verhalten als freundlich und korrekt. Die
Leistungen am Arbeitsplatz sind gut; im Team wird er als zuverlässiger
Mitarbeiter geschätzt.

C. ________ ist seit Dezember 2004 als kaufmännische Angestellte bei der
Firma Y.________ AG tätig ... C.________ betreut als zuvorkommende,
freundliche und hilfsbereite Mitarbeiterin ihren Aufgabenbereich sehr
zuverlässig und mit grossem Verantwortungsbewusstsein.

D. ________ trat im Herbst 2003 als Hilfskraft bei der Auto-Vertretung
Z.________ AG ein, wo er im August 2004 eine Lehre als Automonteur begann.
Gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitern verhält sich der Gesuchsteller
vorbildlich, leistet gute Arbeit und gibt zu keinen Beanstandungen Anlass. Er
ist auch gewillt, den militärischen Pflichten Folge zu leisten.
Aus der Reihe der Stimmberechtigten wurden verschiedene Fragen gestellt und
unterschiedliche Auffassungen geäussert. In offener Abstimmung wurde das
Einbürgerungsgesuch von C.________ mit grosser Mehrheit gutgeheissen. In
geheimer Abstimmung wurde A.________ (105 Nein zu 20 Ja) und D.________ (78
Nein zu 46 Ja) die Einbürgerung verweigert.

C.
Gegen diesen Beschluss der Einwohnergemeindeversammlung Tägerig hat
D.________ beim Bundesgericht am 4. September 2006 staatsrechtliche
Beschwerde erhoben. Er beantragt die Aufhebung des Beschlusses und macht
hierfür eine Verletzung des Begründungsgebotes nach Art. 29 Abs. 2 BV und des
Diskriminierungsverbotes gemäss Art. 8 Abs. 2 BV geltend.

Die Gemeinde Tägerig beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Departement
Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau hat auf eine Stellungnahme
verzichtet.

Der Beschwerdeführer nahm zur Vernehmlassung der Gemeinde Tägerig wiederum
Stellung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der angefochtene Beschluss der Einwohnergemeindeversammlung kann mit
keinem kantonalen Rechtsmittel angefochten werden, stellt einen kantonal
letztinstanzlichen Entscheid gemäss Art. 86 Abs. 1 OG dar und unterliegt
somit direkt der staatsrechtlichen Beschwerde (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 2 des
Gesetzes über das Kantons- und Gemeindebürgerrecht [KBüG]; nicht
veröffentlichte E. 1 von BGE 132 I 196).

Die Einwohnergemeindeversammlung hat ihren Beschluss am 29. Juni 2006
getroffen. Er wurde (zusammen mit den andern Beschlüssen) am 4. Juli 2006 im
Reussbote - mit dem Hinweis, dass ein Referendum ausgeschlossen sei -
publiziert. Bei dieser Sachlage erweist sich die Beschwerde vom 4. September
2006 gemäss Art. 89 OG als rechtzeitig.

1.2 Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass er nach dem kantonalen
Bürgerrechtsgesetz einen Anspruch auf Einbürgerung habe. Für die Bejahung
seiner Legitimation muss er daher in unmittelbar durch die Bundesverfassung
geschützten Interessen betroffen sein.
Als Partei im kantonalen Verfahren kann der Beschwerdeführer die Verletzung
von bundesverfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien rügen, deren Missachtung
eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das gilt für Rügen der Verletzung
des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und trifft namentlich zu,
wenn das gänzliche Fehlen einer Begründung des angefochtenen Entscheides
beanstandet wird (BGE 129 I 217 E. 1.4 S. 222).

Zudem ergibt sich die Legitimation bei Anrufung spezieller Verfassungsrechte
bereits aus der Grundrechtsträgerschaft und dem Inhalt der als verletzt
gerügten Verfassungsrechte (BGE 132 I 167 E. 2 S. 168, mit Hinweisen). Das
trifft auf die Rüge zu, der angefochtene Beschluss verletze das
Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV.

Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
Der Beschwerdeführer macht in erster Linie eine Verletzung von Art. 29 Abs. 2
BV mangels hinreichender Begründung des angefochtenen
Einwohnergemeindebeschlusses geltend.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unterliegen ablehnende
Einbürgerungsentscheide der Begründungspflicht. Es besteht keine feste
Praxis, wie der aus Art. 29 Abs. 2 BV fliessenden Begründungspflicht im
Einzelnen nachzukommen ist, und es ergeben sich hierfür verschiedene
Möglichkeiten. Bestätigt eine Gemeindeversammlung einen ablehnenden Antrag
des Gemeinderates, kann in der Regel und vorbehältlich abweichender Voten
davon ausgegangen werden, dass die Gemeindeversammlung dem Antrag und seiner
Begründung zustimmt. Verweigert die Gemeindeversammlung entgegen dem Antrag
des Gemeinderates eine Einbürgerung, wird sich die Begründung hierfür in
erster Linie aus den Wortmeldungen ergeben müssen. Findet indes keinerlei
Diskussion statt, so fehlt es - ähnlich wie bei Urnenabstimmungen - an einer
Begründung, und es kann eine solche in aller Regel auch im Nachhinein nicht
erstellt werden; dies hat zur Folge, dass den Anforderungen von Art. 29 Abs.
2 BV insoweit nicht Genüge getan wird (zum Ganzen BGE 132 I 196 E. 3.1 S.
197, mit Hinweisen).

Im vorliegenden Fall hat der Gemeinderat die Einbürgerung des
Beschwerdeführers beantragt. Es wird von keiner Seite geltend gemacht, dass
im Vorfeld der Einwohnergemeindeversammlung öffentliche Diskussionen
stattgefunden hätten oder Presseartikel oder Flugblätter verfasst worden
wären, aus denen sich Hinweise und Gründe für eine Verweigerung der
Einbürgerung ergäben. Anlässlich der Einwohnergemeindeversammlung sind
verschiedene Fragen gestellt worden, etwa zur bekundeten Bereitschaft,
Militärdienst zu leisten. Keiner der Stimmberechtigten sprach sich gegen eine
Einbürgerung des Beschwerdeführers aus. Aus den Wortmeldungen lässt sich
keine rechtsgenügliche Begründung für die Abweisung des Einbürgerungsgesuches
entnehmen. Aufgrund der geführten Diskussion lässt sich auch im Nachhinein
eine den Anforderungen von Art. 29 Abs. 2 BV genügende Begründung kaum
erstellen (vgl. zum Ganzen BGE 132 I 196 E. 3.3 S. 198 f.).

Bei dieser Sachlage hält die Abweisung des Einbürgerungsgesuches in der
vorliegenden Form vor Art. 29 Abs. 2 BV nicht stand. Die Beschwerde erweist
sich somit als begründet, ohne dass die Rüge der Verletzung des
Diskriminierungsverbotes zu prüfen wäre.

3.

Demnach ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Beschluss der
Einwohnergemeindeversammlung aufzuheben. Diese wird daher erneut über das
Einbürgerungsgesuch zu befinden haben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind
keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG). Die Einwohnergemeinde Tägerig hat den
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art.
159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss der
Einwohnergemeindeversammlung Tägerig vom 29. Juni 2006 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Einwohnergemeinde Tägerig hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Einwohnergemeinde Tägerig
sowie dem Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau,
Justizabteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Januar 2007

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: