Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.457/2006
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{T 0/2}
1P.457/2006 /ggs

Urteil vom 19. September 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführerin,

gegen

Thomas Mettler, Präsident Kreisgericht St. Gallen,
Bohl 1, Postfach, 9004 St. Gallen, Beschwerdegegner,
Kantonsgericht St. Gallen, Kantonsgerichtspräsidentin, Klosterhof 1,
9001 St. Gallen.

Ausstand,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Kantonsgerichtspräsidentin, vom 25. Juni 2006.
Sachverhalt:

A.
Beim Kreisgericht St. Gallen ist seit dem Frühjahr 2001 die Scheidungsklage
von X.________ gegen Y.________ hängig.

Mit Gesuch vom 22. Juni 2006 beantragte X.________ den Ausstand des für das
Scheidungsverfahren zuständigen Kreisgerichtspräsidenten, Dr. Thomas Mettler,
und verlangte zudem, das Scheidungsverfahren sei bis zum Entscheid über den
Ausstand zu sistieren. Die Ablehnung des Kreisgerichtspräsidenten begründete
sie im Wesentlichen damit, er habe mit Schreiben vom 2. Juni 2006 anstelle
des Beistands die Besuchsmodalitäten für die Übergabe der beiden Kinder vom
11. Juni 2006 festgelegt, er sei am 11. Juni 2006 im Zusammenhang mit der für
diesen Tag vorgesehenen Kontaktaufnahme mit dem Vater unzulässig vorgegangen,
und er habe mit Schreiben vom 20. Juni 2006 weitere vorsorgliche Massnahmen
in Aussicht gestellt.

X. ________ überbrachte dieses Ausstandsbegehren am 23. Juni 2006 persönlich
dem Kantonsgericht; gleichentags wurde dem Kreisgerichtspräsidenten Mettler
eine Kopie des Begehrens zugestellt. Wegen der zeitlichen Dringlichkeit - die
Hauptverhandlung war auf den 27. Juni 2006 angesetzt - nahm dieser dazu am
Samstag, dem 24. Juni 2006, Stellung und übermittelte seine Stellungnahme
gleichentags der Kantonsgerichtspräsidentin. Diese wies das Ausstands- und
Sistierungsbegehren am Sonntag, 25. Juni 2006, ab, soweit sie darauf eintrat.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Juli 2006 wegen Verletzung von Art.
6 Ziff. 1 und Art. 8 EMRK sowie von Art. 9, Art. 29 Abs. 2 und 3 und Art. 30
Abs. 1 BV beantragt X.________, diesen Entscheid der
Kantonsgerichtspräsidentin aufzuheben und ihrer Beschwerde aufschiebende
Wirkung beizulegen. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.

Kreisgerichtspräsident Mettler beantragt in seiner Vernehmlassung, sowohl das
Gesuch um aufschiebende Wirkung als auch die Beschwerde abzuweisen. Die
Kantonsgerichtspräsidentin beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

C.
Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung wies das Gesuch um
aufschiebende Wirkung am 11. August 2006 ab.

D.
X.________ hält in ihrer Vernehmlassung vom 27. August 2006 an ihrer
Beschwerde vollumfänglich fest.

Das Kreisgericht St. Gallen teilt mit, dass es am 25. August 2006 im
Verfahren um die Ergänzung des Scheidungsurteils einen Entscheid gefällt und
dabei auch vorsorgliche Massnahmen verfügt hat.

X. ________ beantragt mit einer ergänzenden Vernehmlassung erneut, ihre
Beschwerde gutzuheissen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der angefochtene Entscheid der Kantonsgerichtspräsidentin über die Abweisung
des Ablehnungsbegehrens schliesst das Scheidungsverfahren nicht ab, sondern
lässt im Gegenteil dessen Fortführung zu. Es handelt sich um einen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 1 OG, gegen den die
staatsrechtliche Beschwerde zulässig ist. Die Beschwerdeführerin ist nach
Art. 88 OG befugt, sich gegen die Abweisung ihrer Befangenheitsrüge zur Wehr
zu setzen. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf
die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten
ist. Soweit im Folgenden auf Rügen nicht eingegangen wird, genügen sie diesen
Begründungsanforderungen nicht oder setzen sich nicht mit dem angefochtenen
Entscheid auseinander, sondern legen allgemein dar, weshalb der
Kreisgerichtspräsident befangen sein soll.

2.
2.1 Nach der in Art. 30 Abs. 1 BV und in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen
Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne Anspruch darauf,
dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird.
Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein
der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen,
so ist die Garantie verletzt (BGE 126 I 68 E. 3a mit Hinweisen). Verfahrens-
oder andere Rechtsfehler, die einem Richter unterlaufen, können nach der
Rechtsprechung den Anschein der Befangenheit allerdings nur begründen, wenn
sie wiederholt begangen wurden oder so schwer wiegen, dass sie
Amtspflichtverletzungen darstellen (BGE 116 Ia 14 E. 5; 135 E. 3a).
Ablehnungsgründe sind nach Treu und Glauben ohne Verzug geltend zu machen
(BGE 124 I 121 E. 2; 119 Ia 221 E. 5a; 118 Ia 282 E. 3a).

2.2 Die Kantonsgerichtspräsidentin hat im angefochtenen Entscheid erwogen,
die Beschwerdeführerin begründe die angebliche Befangenheit von
Kreisgerichtspräsident Mettler mit dem Schreiben vom 2. Juni 2006 im Hinblick
auf die Organisation des Besuchstags und dessen Abwicklung am 11. Juni 2006.
Eine Befangenheitsrüge habe sie aber deswegen erst rund zwei Wochen später
erhoben, zu einem Zeitpunkt, in welchem sie damit habe rechnen können, dass
das Ablehnungsgesuch nicht mehr rechtzeitig vor der Hauptverhandlung vom 27.
Juni 2006 würde beurteilt werden können. Der Beschwerdeführerin sei aus einem
früheren Verfahren bekannt, dass Ausstandsgründe sofort geltend gemacht
werden müssten; ihr Zuwarten sei daher rechtsmissbräuchlich, weshalb auf das
Ablehnungsgesuch insoweit nicht einzutreten sei. Offensichtlich sei es der
Beschwerdeführerin denn auch nicht um den Brief vom 2. Juni und das Vorgehen
Mettlers am 11. Juni 2006 gegangen. Vielmehr habe sie erst reagiert, als
dieser mit Schreiben vom 20. Juni 2006 weitere vorsorgliche Massnahmen in
Aussicht gestellt habe. Den Erlass solcher Massnahmen lehne sie ab und habe
versucht, sie mit einem Ausstandsgesuch gegen den Kreisgerichtspräsidenten zu
verhindern. Der Hinweis auf die Möglichkeit, dass vorsorgliche Massnahmen
erlassen würden, lasse diesen indessen offensichtlich nicht befangen
erscheinen.

3.
3.1 Der Entscheid der Kantonsgerichtspräsidentin ist in der Sache
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das rund dreiwöchige (in Bezug auf
das Schreiben Mettlers vom 2. Juni 2006) bzw. zweiwöchige (in Bezug auf das
Vorgehen Mettlers am 11. Juni 2006) Zuwarten der Beschwerdeführerin mit der
Geltendmachung der von ihr daraus abgeleiteten Befangenheitsrügen war
klarerweise rechtsmissbräuchlich, zumal sie sich bewusst sein musste, dass
sie mit diesem Vorgehen die Einhaltung des Verhandlungstermins vom 27. Juni
2006 aller Voraussicht verunmöglichen würde.

Rechtzeitig erhoben, aber offensichtlich trölerisch war die Rüge, Mettler sei
wegen der im Schreiben vom 20. Juni 2006 enthaltenen Ankündigung befangen,
möglicherweise weitere vorsorgliche Massnahmen anzuordnen. Es ist zwar
theoretisch nicht auszuschliessen, dass ein Richter beim Erlass vorsorglicher
Massnahmen elementare Verfahrensregeln verletzt und in parteiischer,
willkürlicher Weise handelt, was ihn als befangen erscheinen lassen könnte.
Inwiefern indessen im blossen In-Aussicht-Stellen von inhaltlich noch völlig
offenen Massnahmen ein schwerer Verfahrensfehler liegen könnte, der den
Richter als befangen erscheinen lassen könnte, ist unerfindlich und wird von
der Beschwerdeführerin auch nicht nachvollziehbar dargetan.

3.2 Damit erweist sich das Ausstandsbegehren der Beschwerdeführerin insgesamt
als trölerisch und rechtsmissbräuchlich. Unter diesen Umständen ist es
verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass die
Kantonsgerichtspräsidentin den angefochtenen Entscheid nach dem Eingang der
Vernehmlassung des Kreisgerichtspräsidenten fällte, ohne der
Beschwerdeführerin Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen. Andernfalls
hätte die Beschwerdeführerin das mit ihrem rechtsmissbräuchlichen Vorgehen
offensichtlich angestrebte Ziel erreicht, den Verhandlungstermin vom 27. Juni
2006 zu verunmöglichen. Da Rechtsmissbrauch nicht zu schützen ist, konnte die
Kantonsgerichtspräsidentin ohne Gehörsverletzung darauf verzichten, der
Beschwerdeführerin Gelegenheit einzuräumen, zur Eingabe Mettlers Stellung zu
nehmen.

3.3 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich ohne weiteres, dass das
Ausstandsbegehren der Beschwerdeführerin aussichtslos war, weshalb ihr die
Kantonsgerichtspräsidentin die unentgeltliche Rechtspflege ohne
Verfassungsverletzung verweigern konnte.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art.
156 OG). Sie hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt,
welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war.

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Kantonsgerichtspräsidentin, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. September 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: