Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.456/2006
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{T 0/2}
1P.456/2006 /ggs

Urteil vom 24. Oktober 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Audétat,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Sennhofstrasse 17, 7001 Chur,
Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, Poststrasse 14,
7002 Chur.

Nichteintreten auf eine Einsprache wegen Verspätung (Fristablauf am
Berchtoldstag),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von
Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, vom 17. Mai 2006.
Sachverhalt:

A.
Mit Strafmandat vom 11. September 2005 sprach das Kreispräsidium Rheinwald
X.________ der groben Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und bestrafte
ihn mit 30 Tagen Gefängnis (unbedingt) und Fr. 500.-- Busse.

Nach zwei erfolglosen Zustellversuchen konnte X.________ das Strafmandat am
22. Dezember 2005 durch die Kantonspolizei Zürich gegen Empfangsbescheinigung
ausgehändigt werden.

Mit Schreiben vom 2. Januar 2006, bei der Post aufgegeben am 3. Januar 2006,
erhob X.________ Einsprache gegen das Strafmandat.

Am 31. Januar 2006 trat das Kreispräsidium Rheinwald auf die Einsprache wegen
Verspätung nicht ein.

Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde nahm das Kantonsgericht von
Graubünden (Kantonsgerichtsausschuss) als Berufung entgegen und wies sie am
17. Mai 2006 ab.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Kantonsgerichtes aufzuheben; der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu
erteilen; das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich sei anzuweisen, ihm den
Führerausweis sofort nach Mitteilung des bundesgerichtlichen Entscheids
zurückzugeben.

C.
Die Staatsanwaltschaft Graubünden hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Das Kantonsgericht beantragt unter Hinweis auf die Erwägungen im
angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.

D.
Mit Verfügung vom 1. September 2006 hat der Präsident der
I. öffentlichrechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung
zuerkannt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das angefochtene Urteil stellt einen Endentscheid dar. Ein kantonales
Rechtsmittel dagegen steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist daher nach
Art. 86 in Verbindung mit Art. 87 OG zulässig.

Der Beschwerdeführer rügt, die kantonalen Behörden seien in überspitzten
Formalismus verfallen, indem sie seine Einsprache als verspätet beurteilt
hätten. Er ist insoweit nach Art. 88 OG zur Beschwerde befugt (Urteil
1P.259/1996 vom 8. Juli 1996, publ. in: Pra 1996 Nr. 217 S. 837 ff., E. 1,
mit Hinweis).

Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.

2.
2.1 Der Angeschuldigte und der Staatsanwalt können innert zehn Tagen seit
Zustellung des Strafmandates schriftlich beim Kreispräsidenten Einsprache
erheben (Art. 174 StPO/GR). Die Zustellung der Strafmandate erfolgt durch
eingeschriebene Postsendung. Ist die Übermittlung durch die Post nicht
möglich, so ist die Urkunde der Kantonspolizei zu übergeben, welche die
Zustellung gegen Empfangsbestätigung besorgt (Art. 64 StPO/GR). Gesetzliche
Fristen laufen von dem Zeitpunkt an, in welchem die betreffende Tatsache oder
Handlung, woran sie geknüpft ist, stattgefunden hat (Art. 65 Abs. 1 StPO/GR).
Bei der Berechnung der Frist wird der Tag, an welchem die den Fristenlauf
auslösende Tatsache stattfindet, nicht mitgezählt. Die Frist ist eingehalten,
wenn die betreffende Eingabe am letzten Tag der Frist einer Poststelle
übergeben oder der zuständigen Amtsstelle innerhalb der Bürozeit abgegeben
worden ist (Art. 65 Abs. 3 StPO/GR). Fällt der letzte Tag der Frist auf einen
Samstag, Sonntag oder staatlich anerkannten Feiertag, so gilt als letzter Tag
der Frist der nächstfolgende Werktag (Art. 65 Abs. 4 StPO/GR).

Das Kantonsgericht erwägt (S. 5 f. E. 2b), das Strafmandat sei dem
Beschwerdeführer am 22. Dezember 2005 gegen Empfangsbestätigung durch die
Kantonspolizei Zürich zugestellt worden. Da im Strafprozess keine
Gerichtsferien gälten, habe die Rechtmittelfrist gemäss Art. 65 Abs. 3
StPO/GR am folgenden Tag, also am 23. Dezember 2005, zu laufen begonnen und
habe am 1. Januar 2006 geendet. Da der 1. Januar 2006 sowohl ein Feiertag
gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b des kantonalen Gesetzes vom 22. September 1985
über die öffentlichen Ruhetage (Ruhetagsgesetz, BR 520.100) als auch ein
Sonntag gewesen sei, gelte gemäss Art. 65 Abs. 4 StPO/ZH als letzter Tag der
Frist der nächstfolgende Werktag. Somit sei die Einsprachefrist bis zum
Montag, 2. Januar 2006, gelaufen. Die Einsprache gegen das Strafmandat sei am
3. Januar 2006 der Post in Meilen übergeben worden. Der Beschwerdeführer
führe aus, dass der 2. Januar ein offizieller Feier- und Ruhetag in der
Schweiz sei, der Postversand daher ruhe und die Einsprache am 3. Januar 2006
rechtzeitig der Post überbracht worden sei. Dem könne nicht gefolgt werden.
Da das Strafmandatsverfahren ein nach kantonalem Recht geregeltes Verfahren
sei, beurteile sich die Frage nach kantonalem und vorliegend somit nach
bündnerischem Recht. Des Weiteren gebe es auch keine Bestimmung auf
eidgenössischer Ebene, die den 2. Januar (Berchtoldstag) als Feiertag
vorsehen würde. Es obliege vielmehr den Kantonen, die Feiertage zu bestimmen.
Für den Kanton Graubünden gelte somit das erwähnte Ruhetagsgesetz. Gemäss
dessen Art. 2 Abs. 1 lit. b seien die in Graubünden massgeblichen Feiertage
abschliessend aufgezählt. Diese Bestimmung sage nichts über den 2. Januar,
der in einigen Kantonen als Feiertag anerkannt sei. Der 2. Januar sei also in
Graubünden kein gesetzlich anerkannter Feiertag. Demnach habe die Frist zur
Einreichung der Einsprache vorliegend am 2. Januar 2006 und nicht, wie vom
Beschwerdeführer geltend gemacht, am 3. Januar 2006 geendet. Die Einsprache
sei somit, wie das Kreispräsidium zu Recht festgestellt habe, zu spät
eingereicht worden.

Das Kantonsgericht bemerkt (S. 6 f. E. 2c) weiter, im Kanton Zürich seien am
2. Januar 2006 die Poststellen geschlossen gewesen mit Ausnahme der Sihlpost,
welche von 10.00 bis 22.30 Uhr geöffnet gewesen sei, und der Post am
Flughafen, die von 08.00 bis 20.00 Uhr geöffnet gewesen sei. Die Sihlpost
liege ca. 2,5 bis 3 Kilometer entfernt vom Wohnort des Beschwerdeführers.
Unabhängig davon, ob der Berchtoldstag im Kanton Zürich nun ein gesetzlicher
Feiertag sei oder nicht, wäre es dem Beschwerdeführer möglich gewesen, seine
Einsprache am 2. Januar 2006 bei der Sihlpost in Zürich abzugeben.

2.2 Bereits mit Verfügung vom 22. Januar 2001 hatte das Kantonsgericht in
einem gleich gelagerten Fall den Fristablauf am 2. Januar angenommen (PKG
2001 Nr. 42 S. 172 f.).
2.3 Das Verbot des überspitzten Formalismus, das sich aus Art. 29 Abs. 1 BV
ergibt, wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv
erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum
blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in
unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft
frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 128 II 139 E. 2a S.
142, mit Hinweisen).

Das Bundesgericht hat sich bereits verschiedentlich zu Fällen wie hier
geäussert. Es verneinte durchwegs überspitzten Formalismus, wenn die
kantonale Behörde Fristablauf an einem Tag annahm, den das kantonale Recht
nicht als Feiertag anerkannte; dies auch dann, wenn am betreffenden Tag
Verwaltung und Geschäfte geschlossen waren und niemand arbeitete (Urteile
1P.322/2006 vom 25. Juli 2006 und 1P.184/2001 vom 18. Juni 2001 [Stefanstag
im Kanton Solothurn]; Urteil 1P.469/1999 vom 14. Oktober 1999 [Pfingstmontag
im Kanton Zug]; Urteil 1P.481/1994 vom 26. Oktober 1994 [Pfingstmontag im
Kanton Wallis]; Urteil 1P.440/1992 vom 7. September 1992 [Ostermontag im
Kanton Zug]).

Im Urteil 1P.259/1996 vom 8. Juli 1996 (publ. in: Pra 1996 Nr. 217 S. 837
ff.) ging es in einem Genfer Fall bereits um den Berchtoldstag. Das Ende der
Berufungsfrist fiel auf den 1. Januar. Die Frist verlängerte sich somit bis
zum 2. Januar. Dieser stellte nach dem kanto-nalen Recht keinen Feiertag dar.
Das Bundesgericht verneinte überspitzten Formalismus, wenn die kantonale
Behörde den Fristablauf am 2. Januar annahm und die am 3. Januar eingereichte
Berufung als verspätet beurteilte. Der Umstand, dass die Verwaltung am 2.
Januar geschlossen war, änderte daran nichts. Der Beschwerdeführer hatte die
Möglichkeit, die Beschwerde am 2. Januar bei einem Postbüro in der Stadt Genf
aufzugeben, das von 12.00 bis 20.00 Uhr geöffnet war (E. 3c).

Der vorliegende Fall liegt im Wesentlichen gleich. Im Lichte der angeführten
Rechtsprechung, insbesondere des Urteils vom 8. Juli 1996, ist es nicht
überspitzt formalistisch, wenn die Bündner Behörden den Ablauf der Frist am
2. Januar 2006 angenommen und die tags darauf der Post übergebene Einsprache
als verspätet erachtet haben. Die Erwägungen des Kantonsgerichtes sind
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Darauf kann verwiesen werden (Art.
36a Abs. 3 OG).

3.
Soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Entzug des Führerausweises richtet
und beantragt, das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich sei anzuweisen, ihm
diesen zurückzugeben, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden. Der
Führerausweisentzug ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art.
156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Oktober 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: