Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.446/2006
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{T 0/2}
1P.446/2006 /ggs

Urteil vom 27. Juli 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Bettoni,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich,
Molkenstrasse 17, Postfach, 8026 Zürich,
Haftrichter des Bezirkes Winterthur,
Bezirksgericht, Lindstrasse 10, 8400 Winterthur.

Untersuchungshaft, Fluchtgefahr,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Haftrichters des Bezirkes
Winterthur vom 23. Juni 2006.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung
gegen X.________ wegen schwerer Körperverletzung (bzw. einem Messerangriff
mit lebensgefährlichen Verletzungsfolgen) und weiteren Delikten. Nachdem sich
der Angeschuldigte am 25. März 2006 bei der Stadtpolizei Winterthur gemeldet
hatte, wurde er sogleich verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft
versetzt. Am 22. Juni 2006 stellte der Angeschuldigte ein
Haftentlassungsgesuch bzw. den Antrag, "es sei die Dauer der weiteren
Untersuchungshaft bis am 27. Juni 2006 zu beschränken". Mit Verfügung vom 23.
Juni 2006 wies der Haftrichter des Bezirkes Winterthur das Gesuch ab, indem
er die (zeitlich unbeschränkte) Fortdauer der Untersuchungshaft anordnete.

B.
Gegen die Verfügung des Haftrichters gelangte X.________ mit
staatsrechtlicher Beschwerde vom 18. Juli 2006 an das Bundesgericht. Er
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und seine sofortige
Haftentlassung. Die Staatsanwaltschaft und der Haftrichter haben am 20. bzw.
21. Juli 2006 (Posteingang: 25. bzw. 24. Juli 2006) je auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen
Entscheides seine sofortige Haftentlassung. Dieses Begehren ist in Abweichung
vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde
zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die
von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive Anordnung
hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f.; 124 I 327 E. 4a S.
332, je mit Hinweisen).

2.
Der Beschwerdeführer wird dringend verdächtigt, am (recte:) 24. März 2006, um
ca. 21.45 Uhr, eine Person mit einem Messerstich in die Brustgegend
lebensgefährlich verletzt zu haben. Schon etwa 20 Stunden zuvor, nämlich am
24. März 2006, ca. um 02.00 Uhr, soll der Beschwerdeführer (laut
Haftverlängerungsantrag der Staatsanwaltschaft) "versucht" haben, einer
weiteren Person "einen Messerstich" in deren "Bauch und Kopf zu versetzen".
Im angefochtenen Entscheid wird zwar erwogen, dass grundsätzlich
Kollusionsgefahr bestehe; diese sei jedoch "als gering einzustufen". In der
Folge schliesst der Haftrichter auf den besonderen Haftgrund der
Fluchtgefahr.

3.
Die Anordnung und Fortdauer von Untersuchungshaft ist nach zürcherischem
Strafprozessrecht nur zulässig, wenn gegen den Angeschuldigten der dringende
Tatverdacht eines Vergehens oder Verbrechens besteht und zudem ein besonderer
Haftgrund vorliegt, namentlich Kollusions-, Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr
(§ 58 Abs. 1 StPO/ZH).

Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht eines Verbrechens
oder Vergehens grundsätzlich nicht. Er gibt zu, "am 24. März 2006, kurz vor
22.00 Uhr", den Geschädigten "mit einem Messer in der Brustgegend verletzt"
zu haben. Er wendet sich jedoch gegen die Annahme von Fluchtgefahr.

4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei sich "bereits von Anfang an der
Tragweite seiner Handlung bewusst gewesen" und habe "sich dennoch bei der
Polizei freiwillig gestellt". "Im Hinblick auf die mögliche Freiheitsstrafe"
sei "insbesondere zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bekanntlich
geltend" mache, "in einer Notwehrsituation gehandelt zu haben". Sein
Lebensmittelpunkt befinde sich in der Schweiz, wo er eine eigene Wohnung
habe. In seiner Wohnortgemeinde lebe "auch seine an MS erkrankte Mutter, bei
der er bis April 2005 gelebt" habe "und zu der er seit seiner Verhaftung
wieder eine sehr gute Beziehung" unterhalte. Er plane sodann, seine Freundin
zu heiraten. Diese habe "kaum mehr verwandtschaftliche Beziehungen zu ihrem
Heimatland". In der Schweiz könne er "weiterhin auf Sozialhilfe zählen". Die
Annahme von Fluchtgefahr sei daher mit dem verfassungsmässigen
Individualrecht der persönlichen Freiheit und dem Willkürverbot nicht
vereinbar.

4.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme
von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der
Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug
der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe
darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für
sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten
Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten
Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I
60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). So ist es zulässig,
die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche
Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches
mitzuberücksichtigen. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das
den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw.
stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht
ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.).

Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige
Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je
mit Hinweisen).

4.2 Gemäss eigenen Aussagen (anlässlich seiner Befragung vom 25. März 2006)
ist der Beschwerdeführer ohne Beruf und Arbeitsstelle. Zwar habe er 2001 eine
Anlehre als Maurer begonnen; nach ungefähr drei Monaten sei er jedoch nicht
mehr zur Arbeit erschienen und entlassen worden. Der Grund dafür sei sein
übermässiger Marihuanakonsum gewesen. Seit Herbst 2001 sei er arbeitslos. Er
habe eine aus der Dominikanischen Republik stammende Freundin; Kontakte zu
seiner eigenen Familie pflege er "nicht gross". Nach seinen Darlegungen in
der Beschwerdeschrift verfüge er über "keinerlei Vermögen" oder Einkommen; er
werde "vollumfänglich" durch die Sozialfürsorge unterstützt.

Der Beschwerdeführer ist sodann geständig, einen Menschen lebensgefährlich
verletzt zu haben. Gemäss dem medizinischen Befund führte der Messerstich in
die linke Brustseite zu einer Rippen- und Lungenverletzung mit Luftansammlung
im Brustraum. Die Untersuchungsbehörde wirft dem Beschwerdeführer vor, er
habe "mit erheblicher Heftigkeit" auf den Oberkörper des Opfers eingestochen
und lebensgefährliche Verletzungen dabei "zumindest in Kauf genommen". Im
Falle einer strafrechtlichen Verurteilung droht ihm eine empfindliche
Freiheitsstrafe. Das Vorliegen der vom Beschwerdeführer behaupteten
"Notwehrsituation" bzw. eines etwaigen Notwehrexzesses wird (im Falle einer
Anklageerhebung) vom erkennenden Strafgericht zu prüfen sein.
Aufgrund der vorläufigen Untersuchungsergebnisse muss ausserdem davon
ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer zu Impulsdurchbrüchen und
Kurzschlussreaktionen neigt. Er ist dringend verdächtig, innert weniger als
24 Stunden zwei verschiedene Menschen mit dem Messer bedroht bzw. angegriffen
und einen von ihnen lebensgefährlich verletzt zu haben. Solche konkreten
Anhaltspunkte für eine besondere Unberechenbarkeit des Inhaftierten können
auf eine Neigung zu unüberlegten Reaktionen wie Flucht oder weitere
aggressive Handlungen hinweisen (vgl. BGE 123 I 268 E. 2e S. 271-273). Wie
die Staatsanwaltschaft in ihrem Haftverlängerungsantrag vom 20. Juni 2006
darlegt, ist über den geistigen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers denn
auch ein psychiatrisches Gutachten einzuholen.

Bei dieser Sachlage hält die Annahme von Fluchtgefahr im jetzigen
Verfahrensstadium und bis zum Vorliegen des psychiatrischen Gutachtens vor
dem verfassungsmässigen Individualrecht der persönlichen Freiheit stand.
Insbesondere bestehen ausreichend konkrete Anhaltspunkte für die Befürchtung,
dass der Beschwerdeführer im In- oder Ausland untertauchen und dadurch die
Aufklärung der untersuchten Straftaten (inklusive psychiatrische
Begutachtung) bzw. die Strafverfolgung erheblich behindern könnte.

4.3 Nach dem Gesagten kann offen bleiben, ob neben der Fluchtgefahr auch noch
die besonderen Haftgründe der Fortsetzungsgefahr oder der Kollusionsgefahr
erfüllt wären.

Das vom Beschwerdeführer ebenfalls angerufene Willkürverbot hat in diesem
Zusammenhang keine über das bereits Dargelegte hinausgehende selbstständige
Bedeutung; unrichtige Tatsachenfeststellungen der kantonalen Behörden, welche
zu einem unhaltbaren Ergebnis betreffend Haftgründe geführt hätten, sind
nicht ersichtlich.

5.
Daraus ergibt sich, dass die Beschwerde als unbegründet abzuweisen ist.

Der Beschwerdeführer stellt das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (und insbesondere die finanzielle
Bedürftigkeit des Gesuchstellers ausreichend dargelegt wird), kann dem
Ersuchen entsprochen werden (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Jürg Bettoni wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich und dem Haftrichter des Bezirkes Winterthur schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 27. Juli 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Der Gerichtsschreiber: