Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.382/2006
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006


{T 0/2}
1P.382/2006 /ggs

Urteil vom 6. Juli 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15, Postfach, 8026
Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Untersuchungshaft,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 2. Juni 2006.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt gegen X.________ (geb. 1969)
ein Strafverfahren wegen Tötung. Sie wirft ihr vor, ihren Ehemann A.________
am 5. September 2005 im Hotel B.________ in Zürich mit einem Taschenmesser
erstochen zu haben. Sie wurde gleichentags verhaftet und am 7. September in
Untersuchungshaft versetzt. X.________ sei grundsätzlich geständig, bestreite
jedoch, mit Verletzungs- oder Tötungsvorsatz gehandelt zu haben.

B.
Mit Verfügung vom 2. Juni 2006 genehmigte der Haftrichter am Bezirksgericht
Zürich den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung der
Untersuchungshaft bis zum 7. September 2006.

C.
Dagegen führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde. Sie beantragt, die
angefochtene Verfügung des Haftrichters sei aufzuheben und sie sei
unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

D.
Der Haftrichter und die Staatsanwaltschaft haben auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Da die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die staatsrechtliche
Beschwerde einzutreten.

2.
Die Untersuchungshaft schränkt die in Art. 10 Abs. 2 BV garantierte
persönliche Freiheit der Beschwerdeführerin ein. Ein Eingriff in dieses
Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im
öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf er den
Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im
vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender
Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung muss
sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV im
Gesetz selbst vorgesehen sein.

Untersuchungshaft darf nach zürcherischem Recht angeordnet werden, wenn der
Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und
ausserdem ein besonderer Haftgrund vorliegt (§ 58 des zürcherischen Gesetzes
betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919, Strafprozessordnung, StPO/ZH).
Ein besonderer Haftgrund liegt unter anderem vor, wenn auf Grund bestimmter
Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde sich
der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe durch Flucht entziehen
(Fluchtgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH) oder er werde Spuren oder
Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder
die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise gefährden (Kollusionsgefahr,
§ 58 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn ihre
Voraussetzungen nicht mehr bestehen. Sie darf nicht länger dauern als die zu
erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO/ZH).

Der Haftrichter bejahte den Haftgrund der Kollusionsgefahr (Ziff. 2) und
liess offen, ob zudem auch Fluchtgefahr (Ziff. 1) vorliege.

Im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs prüft das Bundesgericht die
Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit
reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu
beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen
Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 132 I 21 E. 3.2.3
S. 24).

3.
Die Beschwerdeführerin wird der vorsätzlichen Tötung verdächtigt.

Nach seiner ausführlich begründeten Verfügung vom 7. Dezember 2005, auf die
der Haftrichter in der angefochtenen Verfügung verweist, wird der
Beschwerdeführerin vorgeworfen, ihrem Ehemann am Morgen des 5. September 2005
mit einem Taschenmesser eine derartige Stichverletzung ins Herz beigebracht
zu haben, dass er in der Folge daran verstarb. Die Beschwerdeführerin sei
insoweit geständig, im Verlaufe einer verbalen Auseinandersetzung mit ihrem
Ehemann mit dem Taschenmesser zugestochen zu haben, wobei sie von ihm zuvor
mit einem Messer bedroht worden sei. Sie bestreite, mit Tötungs- oder
Verletzungsabsicht gehandelt zu haben. Dies sei fraglich, da sie gemäss den
Aussagen von C.________ nach der Tat an seinem Wohnort erschienen sei und ihm
gesagt habe, dass sie ihren Mann erstochen habe, und zwar ins Herz, und dass
sie nun viele Jahre ins Gefängnis gehen müsse.
Im Verfahren vor Bundesgericht bestreitet die Beschwerdeführerin nicht, dass
es zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Gatten gekommen ist, bei der sie das
Taschenmesser eingesetzt hat. Ebenfalls steht fest, dass er an einer
Stichverletzung erlegen ist. Die Beschwerdeführerin stellt dagegen in Abrede,
dem Zeugen C.________ gesagt zu haben, ihren Ehemann erstochen bzw. ihm das
Messer ins Herz gestossen zu haben. Anlässlich des Besuchs bei C.________
morgens um ca. 7 Uhr hätten weder sie selber noch C.________ mit einer
ernsthaften oder lebensgefährlichen Verletzung von A.________ gerechnet.

Die Einwände der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht betreffen nicht die
objektiven Tatumstände, sondern ihr Wissen und Wollen. Es wird Aufgabe des
Sachrichters sein, ihre Motive umfassend zu würdigen. Für das vorliegende
Haftprüfungsverfahren reichen die objektiven Umstände, namentlich die
Beteiligung am Streit im Hotelzimmer, der Einsatz des Taschenmessers und
Blutspuren auf der Hoteltreppe für einen dringenden Tatverdacht hinsichtlich
eines Tötungsdelikts aus.

4.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Annahme von Kollusionsgefahr.

4.1 Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen,
Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen
setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren
und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr
soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbraucht, die
wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden.
Die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren
könnte, genügt indessen nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel
zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Anhaltspunkte für
Kollusionsgefahr sprechen. Diese können sich nach der Rechtsprechung
namentlich ergeben aus der Stellung und den Tatbeiträgen des Angeschuldigten
im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes oder aus den persönlichen
Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob
im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens
wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von
Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen
(BGE 132 I 21 E. 3.2 S. 23 f. mit Hinweisen).

4.2 Der Haftrichter bejahte Kollusionsgefahr, weil der Fall grundsätzlich in
den Zuständigkeitsbereich des Geschworenengerichts falle, vor dem wegen des
Unmittelbarkeitsprinzips der Zeuge erneut einvernommen werden müsse (vgl. §
232 ff. StPO/ZH). Auch indirekte oder Umfeld-Zeugen könnten Wesentliches zur
Urteilsfindung beitragen, Kontaktnahmen zwischen der Beschwerdeführerin und
sämtlichen Zeugen seien zu verhindern. Zudem stehe das am 8. Februar 2006 in
Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten noch aus. Gemäss Verfügung des
Haftrichters vom 7. Dezember 2005 besteht Kollusionsgefahr bezüglich des
Zeugen C.________, da dessen Aussagen wesentlich von jenen der
Beschwerdeführerin abwichen, die beiden während längerer Zeit ein Verhältnis
unterhalten hätten und sie ihn am Morgen des 5. September 2005 nach der Tat
an seinem Wohnort aufgesucht habe.

4.3 Die Staatsanwaltschaft wirft der Beschwerdeführerin eine vorsätzliche
Tötung vor, die mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft wird (Art. 111
StGB). Im Falle einer Verurteilung droht der Beschwerdeführerin somit eine
mehrjährige Freiheitsstrafe. Für die Strafbarkeit bedeutsam ist die Frage, ob
die Beschwerdeführerin eine Tötung oder Verletzung ihres Ehemannes
beabsichtigte. Dafür können die Aussagen von C.________ bedeutsam sein.

Seine Aussagen finden sich in den Einvernahmeprotokollen vom 5. September
2005 (Frage 2) und vom 14. Dezember 2005 (Seite 6). Ihr Einwand vor
Bundesgericht, seine Aussagen wichen nicht entscheidend von ihren eigenen ab,
trifft nicht zu, da sie gegenüber der Kantonspolizei und der
Staatsanwaltschaft die Aussagen von C.________ bestritten hat
(Einvernahmeprotokolle vom 20. September 2005, Frage 109 f., und vom 10.
November 2005, Seite 10). Die frühere Beziehung mit C.________, der Besuch am
Morgen des 5. September 2005 und die Bedeutung seiner Aussage für die
Beurteilung der Motivlage und Strafbarkeit der Beschwerdeführerin stellen
konkrete Anhaltspunkte für die Befürchtung dar, die Beschwerdeführerin könnte
angesichts der empfindlichen Strafdrohung in Freiheit auf ihn einwirken, um
den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Der Haftrichter hat die
Verfassung nicht verletzt, indem er hinsichtlich des Zeugen C.________
Kollusionsgefahr annahm.

4.4 Die Beschwerdeführerin macht einerseits geltend, die Aussagen des Zeugen
C.________ seien widersprüchlich, andererseits habe sie ihm gegenüber keine
Veranlassungen zu Kollusionshandlungen, da seine Aussagen nicht entscheidend
von ihren eigenen Aussagen abwichen und da jenen im Hinblick auf die
gerichtliche Beurteilung keine entscheidende Bedeutung zukomme. Die Beziehung
zwischen der Beschwerdeführerin und dem Zeugen C.________ sei seit Mai 2005
beendet und sie seien sich - ausser am 5. September 2005 - nur einmal
zufällig begegnet. Da sie nach der Haftentlassung zu ihren Eltern nach
Bassersdorf ziehen werde, seien weitere Begegnungen mit C.________ in Zürich
höchst unwahrscheinlich. Da er bereits zweimal als Zeuge ausführlich
einvernommen worden sei und seine Aussagen bestätigt habe, sei eine
Beeinflussung im Hinblick auf eine allfällige weitere Einvernahme vor
Geschworenengericht nicht denkbar. In Bezug auf weitere, noch zu befragende
Personen, sei keine Kollusionsgefahr ersichtlich.

4.5 Da die Kollusionsgefahr hinsichtlich des Zeugen C.________ ausreicht,
kann offen bleiben, ob sie auch hinsichtlich weiterer Zeugen besteht und ob
der weitere Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben wäre.

5.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Untersuchungshaft sei unverhältnismässig.
Ein Kontaktverbot sei ein ebenso wirksames, aber milderes Mittel gegen die
Kollusionsgefahr.

5.1 Der Haftrichter führte aus, die Fortsetzung der Untersuchungshaft sei
angesichts der mutmasslichen Dauer der im Verurteilungsfall zu erwartenden
Freiheitsstrafe verhältnismässig, zumal keine mildere Massnahme gegeben sei.
Die Beschwerdeführerin räumt ein, dass die andauernde Untersuchungshaft mit
Blick auf das zu erwartende Strafmass "grundsätzlich noch als
verhältnismässig erscheinen mag".

5.2 Das Bundesgericht prüft die Verhältnismässigkeit der Untersuchungshaft in
erster Linie hinsichtlich ihrer Dauer. Rückt die Haftdauer in grosse Nähe der
Freiheitsstrafe, die bei einer Verurteilung konkret zu erwarten wäre, erweist
sie sich als unverhältnismässig (BGE 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f.). Die
Möglichkeit der Gewährung von Ersatzanordnungen wie Kontaktverboten ergibt
sich aus dem kantonalen Recht (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH). Die
kantonale Behörde hat sie nach pflichtgemässem Ermessen zu beurteilen. Im
vorliegenden Fall besteht für das Bundesgericht kein Anlass, in das Ermessen
der kantonalen Behörde einzugreifen, da eine übermässige Haftdauer weder
gerügt noch ersichtlich ist und da ein Kontaktverbot ohne zusätzliche
Massnahmen nicht ausreichend vor heimlichen Kontaktnahmen schützt. Das
Vorbringen ist unbegründet.

6.
Die Fortsetzung der Untersuchungshaft verstösst nicht gegen das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit und ist rechtmässig. Die
Beschwerde ist abzuweisen.

Die Beschwerdeführerin ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen gemäss Art. 152 OG
vorliegen, ist dem Gesuch zu entsprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Pascal Veuve wird als amtlicher Vertreter ernannt und für
das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem
Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juli 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: