Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.343/2006
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{T 0/2}
1P.343/2006 /scd

Urteil vom 19. Juli 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Klausfranz Rüst-Hehli,

gegen

Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen, Klosterhof 1, 9001
St. Gallen.

Strafverfahren, Erlass der Einschreibgebühr für die Berufung, Wiedererwägung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügungen
des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 19. April
und 4. Mai 2006.

Sachverhalt:

A.
Der Gerichtsschreiber mit einzelrichterlichen Befugnissen am Kreisgericht
Rorschach verurteilte X.________ mit Entscheid vom 10. Februar 2006 zu einer
Gefängnisstrafe von einem Monat mit bedingtem Strafvollzug bei einer
Probezeit von zwei Jahren wegen rechtswidrigen Verweilens in der Schweiz
(Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG).

B.
Am 5. April 2006 erklärte X.________ durch seinen Vertreter Klausfranz
Rüst-Hehli Berufung beim Kantonsgericht St. Gallen. Nachdem ihn der Präsident
der Strafkammer des Kantonsgerichts mit Schreiben vom 6. April 2006 zur
Zahlung einer Einschreibgebühr von Fr. 800.-- innert zehn Tagen aufgefordert
hatte, stellte der Vertreter am 13. April 2006 ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege. Der Präsident der Strafkammer teilte ihm mit Schreiben vom 19.
April 2006 mit, die Berufung sei aussichtslos, weshalb dem Gesuch um Erlass
der Einschreibgebühr nicht entsprochen werden könne, und setzte eine neue
Notfrist von zehn Tagen zur Zahlung der Einschreibgebühr.

C.
Mit Eingabe an das Kantonsgericht vom 27. April 2006 beantragte der Vertreter
im Sinne eines Wiedererwägungsgesuches, X.________ die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren und insbesondere von einem Kostenvorschuss
abzusehen. Der Präsident der Strafkammer teilte dem Vertreter mit Schreiben
vom 4. Mai 2006 mit, dass es beim Inhalt der Verfügung vom 19. April 2006
bleibe und setzte zur Bezahlung der Einschreibgebühr eine letzte Notfrist von
fünf Tagen.

D.
X.________ führt durch seinen Vertreter staatsrechtliche Beschwerde mit dem
Antrag, die Verfügungen des Kantonsgerichts vom 19. April und 4. Mai 2006
aufzuheben und das Kantonsgericht anzuweisen, erneut über das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege zu befinden. Er rügt eine Verletzung der sich aus
dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergebenden Begründungspflicht, des
Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege und des Rechtsgleichheits- bzw.
Diskriminierungsverbots.

Der Präsident der Strafkammer hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und
inwieweit auf ein Rechtsmittel einzutreten ist (BGE 131 I 153 E. 1 S. 156).

1.2 Angefochten ist je eine Präsidialverfügung vom 19. April 2006 betreffend
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und vom 4. Mai 2006 betreffend
Wiedererwägung. Die Beschwerde wurde am Dienstag, 6. Juni 2006 bei der Post
aufgegeben. Hinsichtlich der Verfügung vom 19. April 2006, die am 24. April
2006 bei der Post abgeholt wurde, ist die 30-Tage-Frist für die
staatsrechtliche Beschwerde (Art. 89 Abs. 1 OG) am 24. Mai 2006 unbenutzt
abgelaufen.

Hinsichtlich der Verfügung vom 4. Mai 2006 ist die Beschwerde rechtzeitig.
Die Verfügung wurde gemäss den massgeblichen kantonalen Akten am 6. Mai 2006
(gemäss Angaben des Beschwerdeführers einen Tag früher) abgeholt. Der letzte
Tag der Frist fällt auf den Pfingstmontag (öffentlicher Ruhetag gemäss Art. 2
lit. b Gesetz über Ruhetag und Ladenöffnung des Kantons St. Gallen vom 29.
Juni 2004), weswegen die Frist am Dienstag, 6. Juni 2006 endet (Art. 32 Abs.
2 OG). Mit Postaufgabe an diesem Tag ist die Frist zur Anfechtung der
Verfügung vom 4. Mai 2006 gewahrt.

1.3 Mit dieser Verfügung beantwortete der Präsident der Strafkammer das
Wiedererwägungsgesuch und gewährte eine neue, nicht erstreckbare Frist zur
Zahlung der Einschreibgebühr mit der Drohung, dass bei Nichtbeachten der
Frist die Berufung als nicht eingelegt gelte.

Gemäss Art. 87 Abs. 2 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde gegen
selbständig eröffnete Zwischenentscheide zulässig, wenn sie einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können. Zwischenentscheide, mit denen
die unentgeltliche Rechtspflege verweigert wird, haben in der Regel einen
nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge (BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131;
281 E. 1.1 S. 283 f.). Die Sonderregeln für Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren (Art. 87 Abs. 1 OG) sind hier nicht
anwendbar.
Der Präsident der Strafkammer lehnte das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege hinsichtlich der Einschreibgebühr bereits mit Verfügung vom 19.
April 2006 ab. Diesen Zwischenentscheid hätte der Beschwerdeführer
rechtzeitig anfechten müssen, um den verweigerten Erlass der Einschreibgebühr
überprüfen zu lassen.

1.4 Ist die Beschwerde nach Art. 87 Abs. 2 OG nicht zulässig oder wurde von
ihr kein Gebrauch gemacht, so sind die betreffenden Zwischenentscheide durch
Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar (Art. 87 Abs. 3 OG).

Aus der Beschwerdeschrift und der Vernehmlassung ergibt sich nicht, dass ein
Endentscheid ergangen wäre. Gemäss den kantonalen Akten teilte der
Gerichtsschreiber des Kantonsgerichts dem Vertreter des Beschwerdeführers mit
Schreiben vom 16. Mai 2006 die formlose Abschreibung des Berufungsverfahrens
infolge Nichtzahlung der Einschreibgebühr mit. Diese Verfügung hätte der
Beschwerdeführer möglicherweise als Endentscheid anfechten können (Art. 87
Abs. 3 OG). Da aber eine staatsrechtliche Beschwerde die Bezeichnung des
angefochtenen Entscheides oder Erlasses enthalten muss (Art. 90 Abs. 1 OG)
und der Beschwerdeführer das Schreiben vom 16. Mai 2006 verschweigt, ist
darauf nicht weiter einzugehen.

2.
Es ist im Folgenden zu prüfen, ob mit der Anfechtung der Verfügung vom 4. Mai
2006 der negative Entscheid betreffend Erlass der Einschreibgebühr gemäss
Verfügung vom 19. April 2006 der Sache nach anfechtbar ist.

2.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann ein
Wiedererwägungsentscheid durch Beschwerde angefochten werden, wenn die
Behörde eine Verfügung materiell in Wiedererwägung gezogen und nach
einlässlicher materieller Prüfung einen neuen Sachentscheid getroffen hat
(BGE 92 I 361 E. 2 S. 365). Ist sie aber auf das Wiedererwägungsgesuch nicht
eingetreten, weil sie dazu die Voraussetzungen nicht als erfüllt erachtete,
so beschränkt sich die Beschwerde auf die Frage, die Behörde habe zu Unrecht
das Bestehen der Eintretensvoraussetzungen verneint. Eine neue Frist zur
Beschwerde in der Sache selbst wird nicht in Gang gesetzt (BGE 113 Ia 146 E.
3c S. 153 f.). Die Wiedererwägung darf nicht dazu dienen, rechtskräftige
Entscheide immer wieder in Frage zu stellen oder Fristen für die Ergreifung
von Rechtsmitteln zu umgehen (BGE 120 Ib 42 E. 2b S. 47).

2.2 Der Präsident der Strafkammer führte in der angefochtenen Verfügung vom
4. Mai 2006 aus: "Nach Prüfung Ihres Gesuchs um Wiedererwägung teile ich
Ihnen mit, dass es beim Inhalt meiner Verfügung vom 19. April 2006 bleibt."
Er verfügte nicht ausdrücklich eine Abweisung oder ein Nichteintreten.
Ausschlaggebend ist im vorliegenden Fall, dass er zur Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtspflege nicht erneut Stellung nahm, sondern ohne
Weiteres auf die Verfügung vom 19. April 2006 verwies. Da er sich darauf
beschränkte, auf seine frühere Verfügung zu verweisen, und nichts darauf
hindeutet, dass er das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege erneut prüfte,
liegt ein Nichteintretensentscheid vor.

3.
Gegen ein Nichteintreten auf ein Wiederwägungsgesuch kann sich der Betroffene
wehren, wenn die Behörde zur Behandlung des Gesuchs verpflichtet war.

3.1 Die Behörden sind zur Wiedererwägung nur gehalten, soweit sich eine
entsprechende Pflicht aus einer gesetzlichen Regelung oder einer konstanten
Praxis ergibt. Dem Einzelnen steht überdies gestützt auf Art. 4 aBV ein
Anspruch auf Wiedererwägung zu, wenn sich die Verhältnisse seit dem ersten
Entscheid erheblich geändert haben oder wenn der Gesuchssteller Tatsachen und
Beweismittel anführt, die ihm im früheren Verfahren nicht bekannt waren oder
die schon damals geltend zu machen für ihn rechtlich oder tatsächlich
unmöglich war oder keine Veranlassung bestand (BGE 120 Ib 42 E. 2b S. 46 f.).
3.2 In seinem Wiedererwägungsgesuch vom 27. April 2006 kritisierte der
Beschwerdeführer im Wesentlichen, die Verfügung vom 19. April 2006 verletze
die verfassungsrechtliche Begründungspflicht, die Ausführungen des
Kreisgerichts Rorschach seien recht pauschal und blass sowie eher von der
Realität abgehoben und das Kreisgericht setze sich mit mehreren zentralen
Vorbringen und Beweismitteln gar nicht auseinander. Zudem reichte er einen
Auszug aus einem Urteil des Kreisgerichts St. Gallen vom 10. Juni 2005 ein.

3.3 Das Wiedererwägungsgesuch beschränkt sich auf eine rechtliche Kritik,
ohne auf geänderte Verhältnisse, neue Tatsachen oder Beweismittel
hinzuweisen, die sich seit Erlass der ersten Verfügung vom 19. April 2006
ergeben hätten. Das eingereichte Dokument betrifft ein Gerichtsurteil, das
der Beschwerdeführer bereits in der Berufungsschrift vom 5. April 2006 (S. 3)
erwähnte. Den darin behandelten "aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der
Pflichtenkollision" hat das Kreisgericht Rorschach im Strafverfahren gegen
den Beschwerdeführer geprüft und verworfen (Urteil vom 10. Februar 2006, S. 3
f.).

Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Wiedererwägung sind nicht erfüllt
und es verletzt demnach kein Verfassungsrecht, dass der Präsident der
Strafkammer das Wiedererwägungsgesuch materiell nicht prüfte und am Inhalt
seiner Verfügung vom 19. April 2006 festhielt.

4.
Auf die Beschwerde ist nicht einzutreten.

Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die
Beschwerde aussichtslos ist, kann das Gesuch nicht bewilligt werden (Art. 152
Abs. 1 OG). Der Regel nach trüge der Beschwerdeführer die Gerichtskosten
(Art. 156 Abs. 1 OG). Es rechtfertigt sich aufgrund der beschriebenen
Umstände eine Ausnahme, so dass keine Gerichtsgebühr erhoben wird.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Präsidenten der Strafkammer
des Kantonsgerichts St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. Juli 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: