Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.337/2006
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006


{T 0/2}
1P.337/2006 /scd

Urteil vom 4. September 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Martin Schnyder,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christoph
Hohler,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8090
Zürich,
Bezirksgericht Dielsdorf, Einzelrichter in Strafsachen, Spitalstrasse 7, 8157
Dielsdorf.

Einstellungsverfügung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts
Dielsdorf, Einzelrichter in Strafsachen, vom 15. Februar 2006.

Sachverhalt:

A.
Am Montag, 29. März 2004, um ca. 18.25 Uhr, fuhr der damals knapp
sechzehnjährige X.________ mit seinem Motorfahrrad, das aufgrund technischer
Änderung statt der erlaubten 30 km/h eine Höchstgeschwindigkeit von 75 km/h
erreichen konnte, auf einer mit einem Fahrverbot belegten Strasse von
Niederweningen in Richtung Oberweningen. Er trug keinen Schutzhelm. Das
Motorfahrrad war nicht versichert und mit keinem Kontrollschild versehen.
X.________ fiel einer Polizeipatrouille auf, welche mit dem von Y.________
gelenkten Polizeifahrzeug seine Verfolgung aufnahm. Die Polizei forderte
X.________ zunächst durch Hupzeichen und danach mit Blaulicht,
Wechselklanghorn sowie über Lautsprecher zum Anhalten auf. Dessen ungeachtet
setzte X.________ seine Flucht fort; dies auf einer Nebenstrasse entlang
eines Waldrandes und später durch das Dorf Oberweningen. Dabei stiess er
beinahe mit zwei Reiterinnen und einer Fussgängerin zusammen. Schliesslich
fuhr er aus der abfallenden Dorfstrasse in Missachtung eines Stoppsignals
links an einem davor wartenden Fahrzeug vorbei in die vortrittsberechtigte
Wehntalerstrasse hinaus. Dort stiess er - offenbar ungebremst - mit einem von
links kommenden, in Richtung Niederweningen fahrenden Fahrzeug zusammen.
Dabei erlitt er erhebliche Verletzungen, insbesondere verschiedene Brüche.
Die Heilung beanspruchte mehrere Monate. Ob er mit bleibenden Nachteilen
rechnen muss, ist derzeit noch unklar.

B.
Am 11. Mai 2004 erstattete X.________ Strafanzeige gegen die beiden Beamten,
welche sich im Polizeifahrzeug befunden hatten, wegen vorsätzlicher,
eventuell fahrlässiger schwerer Körperverletzung, Amtsmissbrauchs usw. Darauf
eröffnete die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland eine Strafuntersuchung
gegen Y.________.

Am 10. Juni 2005 ersuchte die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland die
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich zwecks Vermeidung des Anscheins der
Befangenheit um Übernahme des Verfahrens, welche am 15. Juni 2005 erfolgte.

C.
Am 7. September 2005 stellte die Staatsanwaltschaft I die Untersuchung gegen
Y.________ ein.
Den von X.________ dagegen erhobenen Rekurs wies der Einzelrichter in
Strafsachen des Bezirkes Dielsdorf mit Verfügung vom 15. Februar 2006 ab,
soweit er darauf eintrat. Ebenso wies er das Gesuch von X.________ um
unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung ab.

D.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Verfügung
des Einzelrichters aufzuheben.

E.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und der Einzelrichter haben auf
Gegenbemerkungen verzichtet.

Y. ________ hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde
abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid stellt einen Endentscheid dar. Gemäss § 409
Abs. 1 StPO/ZH ist er endgültig; ein kantonales Rechtsmittel ist somit nicht
gegeben. Die staatsrechtliche Beschwerde ist nach Art. 86 in Verbindung mit
Art. 87 OG zulässig.

1.2 Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde setzt die persönliche
Betroffenheit des Beschwerdeführers in eigenen rechtlich geschützten
Positionen voraus (Art. 88 OG).

1.2.1 Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich
strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die
Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil
staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der Geschädigte hat an der Verfolgung
und Bestrafung des Täters nur ein tatsächliches oder mittelbares Interesse im
Sinne der Rechtsprechung zu Art. 88 OG. Der Strafanspruch, um den es im
Strafverfahren geht, steht ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unabhängig
davon, ob der Geschädigte als Privatstrafkläger auftritt oder die eingeklagte
Handlung auf seinen Antrag hin verfolgt wird. Unbekümmert um die fehlende
Legitimation in der Sache selbst ist der Geschädigte aber befugt, mit
staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung von Verfahrensrechten geltend zu
machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das
nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich
diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus der
Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in diesem
Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener Parteirechte
rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder unmittelbar aufgrund
der Bundesverfassung oder von Art. 6 EMRK zustehen. Der in der Sache selbst
nicht Legitimierte (dem im kantonalen Verfahren jedoch Parteistellung zukam)
kann beispielsweise geltend machen, er sei nicht angehört worden, habe keine
Gelegenheit erhalten, Beweisanträge zu stellen, oder er habe keine
Akteneinsicht nehmen können. Hingegen kann er weder die Würdigung der
beantragten Beweise noch die Tatsache rügen, dass seine Anträge wegen
Unerheblichkeit oder aufgrund antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt wurden.
Die Beurteilung dieser Fragen kann von der Prüfung der materiellen Sache
nicht getrennt werden. Auf eine solche hat der in der Sache selbst nicht
Legitimierte jedoch keinen Anspruch.

Eine weiter gehende Beschwerdelegitimation hat das Opfer im Sinne von Art. 2
Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von
Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5). Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG
kann das Opfer den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn das Verfahren
nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird. Das Opfer kann nach Art. 8
Abs. 1 lit. c OHG den betreffenden Gerichtsentscheid mit den gleichen
Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am
Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche
betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Art. 8 Abs. 1 lit. c
OHG geht als "lex specialis" Art. 88 OG vor. Die Legitimation des Opfers zur
staatsrechtlichen Beschwerde ist insoweit auf materiellrechtliche Fragen
erweitert.

Ob die Opferstellung gegeben ist, prüft das Bundesgericht mit freier
Kognition (BGE 131 I 455 E. 1.2.1; 120 Ia 157 E. 2a S. 159 f., mit
Hinweisen).

1.2.2 Gemäss Art. 2 Abs. 1 OHG ist Opfer, wer durch eine Straftat in seiner
körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar
beeinträchtigt worden ist, unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden
ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat.

Der Beschwerdeführer ist beim Zusammenstoss erheblich verletzt worden. Seine
Opfereigenschaft ist zu bejahen.

1.2.3 Dies genügt für eine auf materiellrechtliche Fragen erweiterte
Legitimation - wie dargelegt - jedoch nicht. Der angefochtene Entscheid muss
zudem die Zivilansprüche des Beschwerdeführers betreffen oder sich auf deren
Beurteilung auswirken können.

Nach der Rechtsprechung fehlt dem Geschädigten, dem ausschliesslich
öffentlich-rechtliche Ansprüche aus Haftungsrecht gegen den Kanton zustehen,
und der keine Zivilforderungen gegen den angeblich fehlbaren Beamten geltend
machen kann, die erweiterte Legitimation (BGE 131 I 455 E. 1.2.4 S. 461, mit
Hinweisen).

Gemäss § 6 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 14. September 1969 über die
Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten (LS
170.1) haftet der Staat für den Schaden, den ein Beamter in Ausübung
amtlicher Verrichtungen einem Dritten widerrechtlich zufügt (Abs. 1). Dem
Geschädigten steht kein Anspruch gegen den Beamten zu (Abs. 4).

Der Beschwerdeführer hat somit aufgrund des von ihm behaupteten
widerrechtlichen Vorgehens des Beschwerdegegners allenfalls eine
öffentlich-rechtliche Forderung gegen den Staat. Er hat aber keine
Zivilforderung gegen den Beschwerdegegner. Als Zivilforderung im Sinne von
Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG kann nur ein solcher Anspruch betrachtet werden, der
adhäsionsweise im Strafverfahren geltend gemacht werden kann (BGE 131 I 455
E. 1.2.4 S. 461, mit Hinweisen).

Die erweiterte Legitimation steht dem Beschwerdeführer somit nicht zu. Er
kann lediglich die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren
Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt (S. 17 ff. Ziff. 6) vor, die
Staatsanwaltschaft I und der Beschwerdegegner hätten offenbar dem
Einzelrichter je eine Vernehmlassung zum Rekurs eingereicht. Diese
Vernehmlassungen habe der Einzelrichter dem Beschwerdeführer nicht zur
Kenntnis gebracht. Entsprechend habe der Beschwerdeführer dazu nicht Stellung
nehmen können. Von Teilgehalten der Vernehmlassungen habe der
Beschwerdeführer erst aufgrund der angefochtenen Verfügung Kenntnis erlangt.
Indem der Beschwerdeführer keine Gelegenheit erhalten habe, sich zu den
Vernehmlassungen zu äussern, sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach
Art. 29 Abs. 2 BV und auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK
verletzt worden.

2.2 Nach der Rechtsprechung hat eine Verfahrenspartei nach Art. 29 Abs. 2 BV
- unter Vorbehalt von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen zum Schutz
überwiegender Geheimhaltungsinteressen - Anspruch darauf, in alle für den
Entscheid wesentlichen Akten Einsicht zu nehmen und sich dazu zu äussern.
Art. 6 Ziff. 1 EMRK verleiht ihr das Recht, von sämtlichen dem Gericht
eingereichten Eingaben oder Vernehmlassungen Kenntnis zu erhalten und zu
diesen Stellung zu nehmen, und zwar unabhängig davon, ob diese neue
erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Es obliegt den Parteien, zu entscheiden,
ob sie zu einer Eingabe Bemerkungen anbringen wollen oder nicht (BGE 132 I 42
E. 3.3.2 und 3.3.3 S. 46 f.; Urteile 1P.784/2005 vom 28. Dezember 2005 E. 4.1
und 5P.446/2003 vom 2. März 2004 E. 1.2 und 2.1, mit Hinweisen).

2.3 Die Staatsanwaltschaft I hat dem Einzelrichter am 24. Oktober 2005 eine
Vernehmlassung zum Rekurs zukommen lassen (act. 8); ebenso der
Beschwerdegegner am 8. November 2005 (act. 12). Die Staatsanwaltschaft I
äussert sich insbesondere einlässlich dazu, weshalb auf die Befragung
weiterer Zeugen zu verzichten sei. Der Beschwerdegegner macht in der
Vernehmlassung zunächst Ausführungen zu den im Rekurs erhobenen
Verfahrensrügen. Er legt sodann dar, weshalb aus seiner Sicht von den vom
Beschwerdeführer beantragten weiteren Untersuchungshandlungen keine neuen
Erkenntnisse zu erwarten seien. Schliesslich führt er aus, weshalb es an
einem Tatverdacht fehle, der eine Anklage rechtfertigen könnte. Beide
Vernehmlassungen waren geeignet, den Ausgang des Rekursverfahrens zu
beeinflussen. Aus den Akten ergibt sich nicht, dass der Einzelrichter dem
Beschwerdeführer von deren Eingang Kenntnis gegeben hätte. Der Einzelrichter,
der im bundesgerichtlichen Verfahren auf Gegenbemerkungen verzichtet hat,
behauptet das auch nicht. Hat der Einzelrichter dem Beschwerdeführer vom
Eingang der Vernehmlassungen keine Kenntnis gegeben, konnte dieser auch nicht
beurteilen, ob er sich dazu äussern wolle. Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 2
BV, erst recht aber von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist unter diesen Umständen zu
bejahen.

2.4 Ein Verfahrensmangel kann im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde
geheilt werden, wenn die Kognition des Bundesgerichts gegenüber derjenigen
der letzten kantonalen Instanz nicht eingeschränkt ist und dem
Beschwerdeführer kein Nachteil erwächst (BGE 126 I 68 E. 2 S. 72, mit
Hinweisen).

Eine Heilung des Verfahrensmangels ist im vorliegenden Fall schon deshalb
ausgeschlossen, weil die Kognition des Bundesgerichtes gegenüber der des
Einzelrichters eingeschränkt ist (oben E. 1.2). Im Übrigen ist in der
angefochtenen Verfügung (S. 5 ff.) je nur eine vergleichsweise knappe
Zusammenfassung der Vernehmlassungen zum Rekurs enthalten. In ihrem vollen
Wortlaut konnte der Beschwerdeführer die ausführlichen Vernehmlassungen noch
nicht einsehen.

2.5 Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt begründet.

3.
Der Einzelrichter wird dem Beschwerdeführer die Vernehmlassungen zum Rekurs
zuzustellen haben. Der Beschwerdeführer wird damit Gelegenheit zur Replik
haben. Dass er diese Gelegenheit wahrnehmen wird, stellt er in der
staatsrechtlichen Beschwerde in Aussicht. Es ist möglich, dass der
Einzelrichter aufgrund der Replik zu einem abweichenden Entscheid kommen
wird. Deshalb erübrigt sich hier die Prüfung der weiteren Rügen. Dies gilt
auch, soweit diese die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung im Rekursverfahren betreffen. Hiesse der Einzelrichter bei
der neuen Beurteilung den Rekurs gut, würde das Gesuch wohl gegenstandslos.

4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und die angefochtene Verfügung aufzuheben.

Da der Beschwerdeführer obsiegt, trägt er keine Kosten und hat ihm der Kanton
Zürich eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1
und 2 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist
damit gegenstandslos.

Der Beschwerdegegner hat den Verfahrensfehler des Einzelrichters nicht zu
vertreten. Es werden ihm deshalb ebenfalls keine Kosten auferlegt. Da er
unterliegt, steht ihm keine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 und 2
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirkes Dielsdorf vom 15. Februar 2006
aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt
Martin Schnyder, für das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren eine
Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Zürich und dem Bezirksgericht Dielsdorf, Einzelrichter in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. September 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: