Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.326/2006
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{T 0/2}
1P.326/2006 /scd

Urteil vom 5. September 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Werner
Meier,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht,
3. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Strafverfahren,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 20. April 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Strafbefehl vom 28. Juli 2005 verurteilte das Bezirksamt Bremgarten
X.________ wegen Missachtens des Signals "Kein Vortritt" und unbegründeten
brüsken Bremsens (Schikanestopp) zu einer Busse von 600 Franken. Es hielt
folgenden Sachverhalt für erwiesen: X.________ fuhr am 23. Mai 2005, kurz vor
19 Uhr, mit seinem Personenwagen von Arni nach Oberlunkhofen, bog dort nach
links ab und fuhr auf der Zugerstrasse in Richtung Jonen weiter. Bei diesem
Abbiegemanöver gewährte er dem sich von rechts auf der Zugerstrasse
nähernden, vortrittsberechtigten Lieferwagen-Lenker Y.________ den Vortritt
nicht und zwang diesen zu abruptem Bremsen. Als ihm Y.________ anschliessend
aus Verärgerung zu nahe aufschloss, reagierte X.________ mit einem
Schikanestopp; Y.________ konnte eine Auffahr-Kollision nur vermeiden, indem
er auf die Gegenfahrbahn auswich.

Der Gerichtspräsident von Bremgarten verurteilte X.________ auf dessen
Einsprache hin wegen Verletzung der Verkehrsregeln durch Missachtung des
Signals "Kein Vortritt" gemäss Art. 27 Abs. 1 und Art. 90 Ziff. 1 SVG sowie
grober Verletzung von Verkehrsregeln durch unbegründetes brüskes Bremsen
(Schikanestopp) gemäss Art. 37 Abs. 1 SVG, Art. 12 Abs. 2 VRV und Art. 90
Ziff. 2 SVG zu einer Busse von 1'000 Franken.

Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung von X.________ am 20.
April 2006 teilweise gut und senkte die Busse auf 600 Franken. Im Übrigen
wies es die Berufung ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 1. Juni 2006 wegen Gehörsverweigerung,
Willkür und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" beantragt
X.________, dieses obergerichtliche Urteil aufzuheben. Ausserdem ersucht er
um unentgeltliche Prozessführung.

Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichten unter Verweis auf das
angefochtene Urteil auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid des Obergerichts handelt es sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist,
die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen.

Die staatsrechtliche Beschwerde ermöglicht indessen keine Fortsetzung des
kantonalen Verfahrens. Das Bundesgericht prüft in diesem Verfahren nur in der
Beschwerdeschrift erhobene, detailliert begründete und soweit möglich belegte
Rügen. Der Beschwerdeführer muss den wesentlichen Sachverhalt darlegen, die
als verletzt gerügten Verfassungsbestimmungen nennen und überdies dartun,
inwiefern diese verletzt sein sollen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38
E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c).

2.
Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, sein rechtliches Gehör
verletzt zu haben, indem es seinen Antrag auf Durchführung eines Augenscheins
abgewiesen habe. Ausserdem habe es Beweise willkürlich gewürdigt und die
Unschuldsvermutung verletzt.

2.1 Nach den aus Art. 29 BV fliessenden Verfahrensgarantien sind alle Beweise
abzunehmen, die sich auf Tatsachen beziehen, die für die Entscheidung
erheblich sind (BGE 127 I 54 E. 2b; 124 I 241 E. 2). Das hindert aber den
Richter nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn er in willkürfreier
Überzeugung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der
rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er überdies in
willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise
annehmen kann, seine Überzeugung werde auch durch diese nicht mehr geändert
(BGE 131 I 153 E. 3; 130 II 425 E. 2.1; 122 V 157 E. 1d).

2.2 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht
den kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der
Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen
oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich
der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist;
eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je
mit Hinweisen).

2.3 Aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Unschuldsvermutung wird die Rechtsregel "in dubio pro reo" abgeleitet (vgl.
dazu BGE 127 I 38 E. 2a S. 41 f.; 124 IV 86 E. 2a S. 88; 120 Ia 31 E. 2c und
d S. 36). In seiner vom Beschwerdeführer angerufenen Funktion als
Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich der
Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt
überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob
sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (vgl. BGE 127 I 38 E. 2a mit
Hinweisen).

3.
Die Verurteilung des Beschwerdeführers beruht auf der Aussage von Y.________.
Dieser sagte kurz nach dem Vorfall gegenüber der Polizei detailreich [act.
6b, pag. 27 ff.], fünf Monate später vor dem erstinstanzlichen Richter eher
summarisch [act. 6b, pag. 73 ff.], aber im Kern gleichbleibend, aus, der
Beschwerdeführer habe ihm bei seinem Einmünden von der Zürcher- in die
Zugerstrasse den Vortritt abgeschnitten und ihn dadurch zu brüskem Bremsen
gezwungen, was die Ladung zum "Rumpeln" gebracht habe. Er habe die Hände
verworfen, worauf der Beschwerdeführer völlig überraschend mit einer
Vollbremsung reagiert habe. Da sein Abstand zu ihm in diesem Zeitpunkt wegen
des vorangegangenen Einbiegemanövers noch ungenügend gewesen sei, habe er
eine Auffahrkollision nur durch ein Ausweichen auf die Gegenfahrbahn
verhindern können. Ein auf dieser entgegenkommender schwarzer Volvo habe
seinerseits eine Frontalkollision nur durch ein Ausweichen auf das Trottoir
verhindern können. Dieses Fahrverhalten des Beschwerdeführers habe ihn zum
Kochen gebracht. Der Beschwerdeführer sei zügig Richtung Jonen
weitergefahren. Er sei ihm gefolgt, um das Kontrollschild abzulesen. Bei der
Dorfeinfahrt Jonen habe der Beschwerdeführer einen weiteren Schikanestopp
gemacht, der ihn aber nicht gezwungen habe, seine Fahrt zu drosseln, da er
genügend Abstand eingehalten habe. Da es keinen Gegenverkehr gehabt habe,
habe er den stehenden Personenwagen des Beschwerdeführers auf der Höhe der
Firma Similisan überholt und vor diesem angehalten. Er sei ausgestiegen und
habe den Beschwerdeführer zur Rede gestellt und dabei auch tätlich
angegriffen.

4.

5.
Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe in seiner Berufungsschrift gerügt,
dass der Einzelrichter seinen Antrag, einen Augenschein durchzuführen, ohne
Begründung abgewiesen habe. Das Obergericht habe dazu einen einzigen Hinweis
geliefert: da sich Y.________ nicht mehr zu erinnern vermöge, wo genau er
infolge des angeblichen Schikanestopps habe auf die Gegenfahrbahn ausweichen
müssen, seien davon keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten. Dies stimme
nicht, dies werde willkürlich angenommen. Der fragliche Schikanestopp sei
nach der Darstellung von Y.________ noch in der Ortschaft Oberlunkhofen
erfolgt; möglicherweise würde ein Augenschein ergeben, dass ein Ausweichen,
wie es Y.________ schildere, gar nicht möglich gewesen sei.

Der Beschwerdeführer hat sich in der Berufung tatsächlich darüber beklagt,
dass der erstinstanzliche Richter nicht begründete, weshalb er einen
Augenschein ablehnte. Er hat indessen in diesem Zusammenhang keine
Gehörsverweigerungsrüge erhoben. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass sich
das Obergericht nicht damit auseinandersetzte, ob dieser die Ablehnung des
Beweisantrages hätte begründen müssen, sondern einzig ausführte, weshalb es
selber keine Veranlassung sah, einen Augenschein durchzuführen.

Diese Begründung hält vor der Verfassung ohne weiteres stand:  Y.________ hat
an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ausgesagt, der umstrittene erste
Schikanestopp sei innerorts erfolgt, wo genau könne er nicht mehr sagen,
obwohl er sich diese Frage mehrmals selber gestellt habe, als er nach dem
Vorfall durch den Ort gefahren sei. Daraus konnte das Obergericht ohne
Verfassungsverletzung ableiten, dass der Vorfall irgendwo zwischen der
Einmündung der Zuger- in die Zürcherstrasse und dem Ortsende stattgefunden
haben muss. Unmöglich wäre die Version von Y.________ nur dann, wenn es auf
diesem Streckenabschnitt auf der Seite der Gegenfahrbahn gar kein Trottoir
hätte, auf welches der schwarze Volvo hätte ausweichen können. Dies behauptet
indessen der Beschwerdeführer nicht. Unter diesen Umständen erscheint die
antizipierte Beweiswürdigung des Obergerichts keineswegs willkürlich, der
beantragte Augenschein sei nicht geeignet, das Beweisergebnis zu
beeinflussen. Die Gehörsverweigerungsrüge ist unbegründet.

5.1 Das Obergericht (E. 4 S. 6) hält die Aussagen von Y.________ für
glaubhaft, weil dieser den ihm vorgehaltenen Sachverhalt von Anfang an
zugestanden und insbesondere auch anerkannt habe, den Beschwerdeführer
verfolgt und anschliessend tätlich angegriffen und beschimpft zu haben. Es
sei auch kein Grund ersichtlich, weshalb er in Bezug auf die Fahrweise des
Beschwerdeführers falsche Angaben hätte machen sollen, da auch ein
Schikanestopp die ihm vorgeworfenen Straftaten - Nötigung und Tätlichkeiten -
nicht hätten rechtfertigen können; zudem sei er bei seiner Einvernahme durch
den erstinstanzlichen Richter bereits rechtskräftig verurteilt gewesen,
sodass er aus einem Anschwärzen des Beschwerdeführers ohnehin keinen Vorteil
mehr hätte ziehen können. Es sei auch viel plausibler, dass Y.________ wegen
des vom Beschwerdeführer provozierten Beinahe-Unfalls derart in Rage gekommen
sei, dass er sich dazu habe hinreissen lassen, diesen zu verfolgen und
tätlich anzugreifen, als dass er dies einzig deswegen getan habe, weil ihm
dieser mit seinem Abbiegemanöver den Weg abgeschnitten und zum Bremsen
gezwungen habe.

5.2 Der Beschwerdeführer bestreitet, Y.________ mit Schikanestopps
ausgebremst zu haben und bringt im Wesentlichen vor, dieser sei bereits durch
seine Vortrittsverletzung völlig ausgerastet. Es ist indessen völlig
unbestritten und wurde von den kantonalen Instanzen auch keineswegs verkannt,
dass Y.________ es offensichtlich nicht geschätzt hat, dass ihm der
Beschwerdeführer den Weg abschnitt, und darauf mit dem Verwerfen der Hände
gereizt reagiert hat. Darüber hinaus beschränkt sich der Beschwerdeführer
darauf, auf seiner Version der Ereignisse zu beharren, ohne darzulegen,
inwiefern das Abstellen des Obergerichts auf die Darstellung von Y.________
willkürlich sein könnte. Dies genügt nicht, dem Obergericht Willkür bzw. die
Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" nachzuweisen, die
Begründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG sind offensichtlich
nicht erfüllt. Darauf ist nicht einzutreten.

6.
Damit ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156
OG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gestellt,
welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 152
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 5. September 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: