Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.310/2006
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{T 0/2}
1P.310/2006 /ggs

Urteil vom 5. Juli 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,

gegen

Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen,
Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Fristwiederherstellungsgesuch,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Präsidenten der
Strafkammer des Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen vom 7. April 2006.
Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde mit Urteil des Kreisgerichts Rheintal vom 18. Januar 2006
des versuchten qualifizierten Raubes, des mehrfachen einfachen Raubs und des
Versuchs dazu, des mehrfachen Diebstahls und des Versuchs dazu, der
mehrfachen Sachbeschädigung, des mehrfachen Hausfriedensbruchs und des
Vergehens gegen das Waffengesetz schuldig erklärt und zu einer
Zuchthausstrafe von zwei Jahren und einem Monat abzüglich der erstandenen
Untersuchungshaft verurteilt.

Gegen dieses Urteil legte der damalige Rechtsverteidiger von X.________
Berufung beim Kantonsgericht St. Gallen ein und beantragte Freispruch von den
Vorwürfen des qualifizierten Raubes und der einfachen Körperverletzung sowie
die Reduktion der Freiheitsstrafe auf höchstens 15 Monate unter Gewährung des
bedingten Strafvollzugs.

In der Berufungserklärung ersuchte der Verteidiger um Erlass der
Einschreibgebühr. Mit Schreiben vom 9. März 2006 setzte der Präsident der
Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen dem Verteidiger eine Frist von
zehn Tagen an, um auf einem dem Schreiben beigelegten Formular nähere Angaben
zu den finanziellen Verhältnissen des Angeklagten zu machen, und wies den
Verteidiger darauf hin, dass die Berufung bei unbenutztem Fristablauf als
nicht eingelegt gelte.

Am 22. März 2006 reichte der Verteidiger das Formular mit den Angaben zu den
finanziellen Verhältnissen von X.________ ein und stellte gleichzeitig ein
Gesuch um Fristwiederherstellung. Am 27. März 2006 zahlte er überdies die
Einschreibgebühr von Fr. 800.--.

Mit Entscheid vom 7. April 2006 wies der Präsident der Strafkammer das
Fristwiederherstellungsgesuch ab. Zur Begründung führte er aus, der
Angeklagte habe ein unverschuldetes Hindernis als Ursache der Säumnis nicht
glaubhaft machen können.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. Mai 2006 beantragt X.________ die
Aufhebung des Entscheids des Kammerpräsidenten und dessen Anweisung, über das
Wiedererwägungsgesuch neu zu entscheiden. Mit separater Eingabe vom 13. Juni
2006 ersucht er um aufschiebende Wirkung der Beschwerde und um
superprovisorische Anordnung der Hemmung des Strafvollzugs.

C.
Der Präsident der Strafkammer verzichtete auf Vernehmlassung zur Beschwerde
und zum Gesuch um aufschiebende Wirkung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen
Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche
verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch
den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Vorliegend sind diese
Anforderungen an die Beschwerdeschrift mit Bezug auf die Rüge der Verletzung
des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) klarerweise nicht erfüllt. Der
Beschwerdeführer erwähnt dieses Grundrecht, ohne darzulegen, inwiefern es
verletzt worden sei. Insoweit ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verbots des überspitzten
Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) und des Willkürverbots (Art. 9 BV). Im
Wesentlichen macht er geltend, er sei krank gewesen, was er durch ein
Arztzeugnis belegt habe, und habe deshalb seine finanziellen Verhältnisse dem
Gericht nicht innert der gesetzten Frist darlegen können. Dies stelle ein
unverschuldetes Hindernis als Säumnisursache im Sinne von Art. 85 Abs. 1 des
Gerichtsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 2. April 1987 (GerG/SG) dar,
weshalb sein Gesuch um Fristwiederherstellung hätte gutgeheissen werden
müssen. Zudem sei nicht auszuschliessen, dass das Verhalten seines früherer
Verteidigers zur Säumnis geführt habe. Ein allfälliges Fehlverhalten des
Verteidigers dürfte ihm nicht angerechnet werden. Überdies habe der Präsident
der Strafkammer entgegen Art. 88 GerG der Staatsanwaltschaft das
Fristwiederherstellungsgesuch nicht zur Vernehmlassung unterbreitet und nicht
von Amtes wegen das Vorhandensein eines Grundes zur Fristwiederherstellung
geprüft, was ebenfalls willkürlich sei.

2.2 Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt
vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden,
ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle
Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften
überspannte Anforderungen stellt und damit dem Bürger den Rechtsweg in
unzulässiger Weise versperrt (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183 f. mit
Hinweisen). Ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt, prüft das
Bundesgericht frei (BGE 128 II 139 E. 2a S. 142 mit Hinweisen). Die Auslegung
und Anwendung des einschlägigen kantonalen Rechts untersucht es indessen nur
unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 131 I 217 E. 2.1 S. 219, 350 E. 2
S. 352, 467 E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen). Die gleichzeitig erhobene
Rüge der Verletzung des Willkürverbots hat in diesem Zusammenhang keine
selbständige Bedeutung.

2.3 Art. 85 Abs. 1 GerG bestimmt, dass ein Vorladungstermin oder eine Frist
wiederhergestellt wird, wenn der Säumige ein unverschuldetes Hindernis als
Ursache der Säumnis glaubhaft macht. Im Urteil 2P.103/2003 vom 2. Mai 2003
entschied das Bundesgericht zur Anwendung dieser Vorschrift, dass es nicht
gegen das Willkürverbot verstösst, wenn das Kantonsgericht das blosse
Einreichen eines unbegründeten Arztzeugnisses als nicht ausreichend
betrachtet, um ein unverschuldetes Hindernis glaubhaft zu machen (E. 3.2).
Auch nach der Praxis zu Art. 35 OG führt nicht jede krankheitsbedingte
Arbeitsunfähigkeit ohne weiteres zur Wiederherstellung einer versäumten
Frist; vielmehr ist erforderlich, dass die Erkrankung den Säumigen nicht nur
davon abgehalten hat, selbst innert Frist zu handeln, sondern dass dieser
auch weder einen Dritten beauftragen noch eine Fristerstreckung verlangen
konnte (BGE 119 II 86 E. 2a S. 87 f.; 112 V 255 E. 2a S. 255 f.). In
demselben Urteil (E. 3.2) entschied das Bundesgericht, dass bei Fehlen
näherer Angaben zum Verhinderungsgrund das Kantonsgericht nicht in Erfahrung
bringen muss, ob der Verfahrensgegner einer Wiederherstellung zustimmen würde
(vgl. Art. 85 Abs. 2 und Art. 88 Abs. 1 GerG).

Nach dem Gesagten ist daher nicht zu beanstanden, dass der Kammerpräsident
das vom Beschwerdeführer eingereichte Arztzeugnis, welches erst nachträglich
ausgestellt wurde und keine näheren Angaben über Art und Umfang der
gesundheitsbedingten Verhinderung enthielt, als unzureichend betrachtete. Bei
dieser Sachlage durfte der Kammerpräsident auch ohne weiteres auf die
Einholung einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum
Fristwiederherstellungsgesuch und auf die Einholung weiterer Beweise
verzichten. Das Willkürverbot ist insoweit nicht verletzt.

2.4 Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, das Fehlverhalten seines
früheren Verteidigers, welches zur Säumnis beigetragen habe, dürfe ihm nicht
angelastet werden. Zur Begründung seiner Auffassung stützt er sich auf das
Bundesgerichtsurteil 1P.1/2005 vom 31. März 2005. Es kann offen bleiben, ob
der Beschwerdeführer in Anbetracht dessen, dass seine Behauptung auf blossen
Mutmassungen beruht und erstmals vor Bundesgericht vorgetragen wird, zu hören
sei. Aus dem vom Beschwerdeführer zitierten Bundesgerichtsentscheid ergibt
sich lediglich, dass ein kantonales Gericht nicht in Willkür verfällt, wenn
es - anders als die meisten Kantone - sich bei der Auslegung des kantonalen
Verfahrensrechts über die Fristwiederherstellung nicht an der Rechtsprechung
des Bundesgerichts zu Art. 35 OG orientiert, sondern aus dem Gebot der
notwendigen und wirksamen Verteidigung ableitet, dass eine allein vom Anwalt
verschuldete Säumnis dem Angeklagten nicht angelastet werden kann (E. 4. und
4.3). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann aus diesem Urteil
nicht abgeleitet werden, die neue Rechtsprechung gehe davon aus, dass ein
Verschulden des Vertreters nicht dem Vertretenen angerechnet werden darf. Die
Heranziehung der Rechtsprechung zu Art. 35 OG bei der Auslegung von Art. 85
Abs. 1 GerG/SG ist unter dem Blickwinkel des Willkürverbots jedenfalls nicht
zu beanstanden.

2.5 Ebenso wenig ist ersichtlich, inwiefern das Verbot des überspitzten
Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) verletzt worden wäre. In Lehre und
Rechtsprechung ist unbestritten, dass Fristen dem geordneten Ablauf des
Strafverfahrens dienen und somit sachlich gerechtfertigt sind. Dies gilt
namentlich für die Bezahlung des Kostenvorschusses (Einschreibgebühr) bzw.
die rechtzeitige Darlegung der finanziellen Verhältnisse für den Erlass des
Kostenvorschusses. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer im
Schreiben vom 9. März 2006 ausdrücklich auf die Säumnisfolgen aufmerksam
gemacht. Im Übrigen darf es entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers bei
der Beurteilung seines Fristwiederherstellungsgesuchs keine Rolle spielen,
dass ihm eine länger dauernde Freiheitsstrafe droht. Ansonsten würde
derjenige, dem eine schwere Straftat zur Last gelegt wird, besser behandelt
als derjenige, der ein Bagatelldelikt beging. Massgebend darf daher nur sein,
ob ein unverschuldetes Hindernis an der Einhaltung der Frist glaubhaft
gemacht wird, was dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall aber misslungen
ist.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist
abweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um aufschiebende
Wirkung und um superprovisorische Anordnung der Hemmung des Strafvollzugs
wird damit gegenstandslos. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36b OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. Juli 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: