Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.307/2006
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{T 0/2}
1P.307/2006 /ggs

Urteil vom 11. August 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Dörig,

gegen

Regierungsrat des Kantons Nidwalden, Regierungsgebäude, 6371 Stans, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Urs Peter Zelger,
Obergericht des Kantons Nidwalden, Kassationsabteilung, Rathausplatz 1, 6371
Stans.

Schadenersatz und Genugtuung; Beweisverfügung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Nidwalden, Kassationsabteilung, vom 8. September 2005.
Sachverhalt:

A.
X. ________ verlangt vom Kanton Nidwalden Schadenersatz und Genugtuung wegen
ungerechtfertigter bzw. unrechtmässiger Inhaftierung vom 13. Januar bis 15.
April 1993. Seit dem 10. Juni 2002 ist diesbezüglich ein Prozess beim
Kantonsgericht Nidwalden, Zivilabteilung, hängig.

B.
Am 6. Januar 2005 erliess die Kantonsgerichtspräsidentin eine
Beweisverfügung. Sie ordnete an, dass Y.________ als Zeuge einvernommen werde
(Disp.-Ziff. 1) und der Kläger hierfür einen Beweiskostenvorschuss von Fr.
400.-- zu zahlen habe (Disp.-Ziff. 2). Ferner ordnete sie an, dass der Kläger
dem Gericht eine amtliche Bescheinigung des mit seinem Privatkonkurs
befassten Konkursamtes Lugano über den Schluss des Konkursverfahrens
aufzulegen habe (Disp.-Ziff. 3).

C.
Gegen Disp.-Ziff. 1 und 3 der Beweisverfügung reichte X.________ am 19.
Januar 2005 beim Kantonsgericht Nidwalden Rekurs ein. Gleichzeitig erhob er
vorsorglich bei der Kassationsabteilung des Obergerichts Nidwalden
Nichtigkeitsbeschwerde. Am 14. April 2005 trat das Kantonsgericht auf den
Rekurs nicht ein. Mit Urteil vom 8. September 2005 trat auch die
Kassationsabteilung des Obergerichts auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht
ein.

D.
Gegen den obergerichtlichen Entscheid erhob X.________ am 22. Mai 2006
staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Mit Schreiben vom 14. Juli 2006 ersuchte der Beschwerdeführer um Bewilligung
der unentgeltlichen Rechtspflege.

E.
Der Regierungsrat des Kantons Nidwalden beantragt Abweisung der
staatsrechtlichen Beschwerde. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

F.
Mit Verfügung vom 22. Juni 2006 wurde der staatsrechtlichen Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Beschluss, mit dem das
Obergericht auf die Nichtigkeitsbeschwerde gegen eine Zwischenverfügung der
Kantonsgerichtspräsidentin nicht eingetreten ist. Der Beschwerdeführer macht
sinngemäss geltend, das Obergericht sei unter willkürlicher Anwendung des
kantonalen Prozessrechts auf seine Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingetreten
und habe dadurch eine formelle Rechtsverweigerung begangen. Diese Rüge kann
nach der bundesgerichtlichen Praxis unabhängig vom Vorliegen eines nicht
wiedergutzumachenden Nachteils i.S.v. Art. 87 Abs. 2 OG mit staatsrechtlicher
Beschwerde erhoben werden (Entscheid 1P.178/1995 vom 28. Juli 1995 E. 1a,
publ. in SJ 1995 S. 740 und Pra 1996 Nr. 141 S. 469).

Die Entscheidungsgründe des obergerichtlichen Urteils wurden dem
Beschwerdeführer am 10. April 2006 zugestellt. Damit ist die Beschwerdefrist
gemäss Art. 89 Abs. 2 OG gewahrt (vgl. BGE 125 IV 291 E. 1e S. 294 ff.).

Da alle übrigen Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, ist auf die
staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.

Nicht einzutreten ist jedoch auf alle Rügen, mit denen der Beschwerdeführer
die Verfassungswidrigkeit der Beweisverfügung vom 6. Januar 2005 geltend
macht: Hierüber hat das Obergericht nicht entschieden, da es auf die
Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingetreten ist. Die Beweisverfügung wurde vom
Beschwerdeführer auch nicht vorsorglich mit staatsrechtlicher Beschwerde
angefochten, für den Fall, dass kein kantonales Rechtsmittel gegen die
Beweisverfügung zur Verfügung stehe. Streitgegenstand des vorliegenden
Verfahrens ist somit ausschliesslich die Frage, ob das Obergericht eine
formelle Rechtsverweigerung beging, als es auf die Nichtigkeitsbeschwerde
nicht eintrat.

2.
Das Obergericht stützte seinen Entscheid auf Art. 247 Abs. 3 der Nidwaldner
Zivilprozessordnung vom 20. Oktober 1999 (ZPO/NW). Diese Bestimmung lautet:
"Prozessleitende Entscheide können selbständig mit der Nichtigkeitsbeschwerde
angefochten werden:
1.Wenn dadurch sofort ein Endentscheid herbeigeführt und ein bedeutender
Aufwand an Zeit oder Kosten für das Beweisverfahren erspart werden kann;
2.wenn ein schwer wieder gutzumachender Nachteil droht."
2.1 Das Obergericht ging davon aus, dass die angefochtene Beweisverfügung der
Überprüfung des Gerichts im Hauptverfahren unterliege (Art. 128 Abs. 3
ZPO/NW) und sowohl von der Prozessleitung als auch vom Gericht jederzeit
ergänzt werden könne (Art. 135 ZPO/NW). In der angefochtenen Verfügung werde
denn auch explizit darauf hingewiesen, dass sich die Beweisabnahme vorderhand
auf die Einvernahme des Zeugen Y.________ beschränke und die Abnahme weiterer
Beweise ausdrücklich vorbehalten werde. Das Obergericht verneinte deshalb das
Drohen eines schwer wiedergutzumachenden Nachteils, weshalb auf die
Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten sei.

2.2 Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, dass nur Beweisauflagebeschlüsse
gemäss Art. 128 Abs. 3 ZPO/NW vom Gericht überprüft werden könnten, nicht
aber Beweisabnahmebeschlüsse gemäss Art. 128 Abs. 1 ZPO/NW, zu denen auch die
Verfügung vom 6. Januar 2005 zähle. Die gegenteilige Annahme des Obergerichts
widerspreche dem Wortlaut des Gesetzes und sei willkürlich. Die Verfügung vom
6. Januar 2005 enthalte im Dispositiv auch keinen Hinweis wie "weitere
Beweise vorbehalten" oder ähnliches; der entsprechende Hinweis in den
Erwägungen, sei unbeachtlich.

2.3 Das Bundesgericht prüft die Auslegung und Anwendung des kantonalen
Prozessrechts nicht frei, sondern nur unter dem Blickwinkel des
Willkürverbots (Art. 9 BV).

Die einschlägigen Bestimmungen der ZPO/NW lauten:
Art. 128 Beweisentscheid
1.Die Prozessleitung kann zwecks Bereinigung und Abnahme von Beweisen vor der
Gerichtsverhandlung ein Vorverfahren anordnen.

2. Sie kann die erheblich scheinenden Beweise abnehmen.

3. Sie kann eine Beweisführung erlassen, in welcher anzugeben ist, über
welche Tatsachen, durch welche Partei und mit welchen Beweismitteln der
Beweis zu führen ist; dieser unterliegt der Überprüfung des Gerichtes im
Hauptverfahren.

4. Die Beweisführung wird auf die Verhandlung vor Gericht verschoben, wenn
die unmittelbare Wahrnehmung durch das Gericht aus besonderen Gründen geboten
ist.

Art. 135 Beweisabnahme
Sofern die Beweise nicht schon durch die Prozessleitung abgenommen worden
sind, oder sofern sie ergänzt beziehungsweise aus besonderen Gründen
wiederholt werden sollen, ordnet das Gericht die Beweisabnahme an.
Während der Beschwerdeführer Art. 128 Abs. 3 als abschliessende Regelung
begreift, wonach nur die darin genannten Beweisbeschlüsse der Überprüfung des
Gerichts im Hauptverfahren unterliegen, versteht das Obergericht - wie auch
das Kantonsgericht (vgl. E. 3.2 des Entscheids vom 14. April 2005) - die
Vorschrift als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, wonach prozessleitende
Entscheide nicht in materielle Rechtskraft erwachsen und jederzeit abgeändert
werden können.

Für die Auslegung der kantonalen Gerichte sprechen nicht nur die vom
Obergericht und vom Kantonsgericht zitierten Literaturhinweise und Regelungen
anderer kantonaler Zivilprozessordnungen (vgl. angefochtener Entscheid E. 3c
S. 6; Entscheid des Kantonsgerichts vom 14. April 2005, E. 3.2 S. 7 f.),
sondern auch Art. 135 ZPO/NW, der ausdrücklich vorsieht, dass das Gericht
über die Beweisabnahme entscheidet, d.h. nicht an entsprechende Anordnungen
der Prozessleitung gebunden ist. Schliesslich geht auch aus den Erwägungen
der streitigen Beweisverfügung hervor, dass die Kantonsgerichtspräsidentin
die Abnahme der parteiseits offerierten Beweise lediglich "vorderhand" auf
die Einvernahme des Zeugen Y.________ beschränkt und die Abnahme weiterer
Beweise ausdrücklich vorbehalten hat. Diese Erwägungen sind nicht
unbeachtlich, sondern können zur Auslegung des Dispositivs herangezogen
werden.

Unter diesen Umständen kann die Rechtsauffassung des Obergerichts, wonach die
streitige Beweisverfügung noch vom Gericht im Hauptverfahren überprüft werden
könne, keinesfalls als willkürlich betrachtet werden.

2.4 Unter dieser Prämisse ist nicht ersichtlich, welcher schwer
wiedergutzumachende Nachteil dem Beschwerdeführer durch die Beweisverfügung
droht. Er hat die Möglichkeit, vor Gericht die Einvernahme weiterer Zeugen
und die Edition zusätzlicher Akten zu verlangen.

Auch soweit der Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil
durch die Einvernahme des Zeugen Y.________ befürchtet, der als
ausserordentlicher Konkursverwalter im Rahmen des Konkurses des
Beschwerdeführers und als gerichtlich bestellter Experte des im Kanton Tessin
geführten Strafverfahrens befangen sei, ist ihm nicht zu folgen:
Ob der Zeuge Y.________ überhaupt im Vorverfahren einvernommen wird, steht
noch nicht fest, nachdem der Beschwerdeführer den Beweiskostenvorschuss nicht
eingezahlt und damit auf diesen Zeugen verzichtet hat (Art. 94 Abs. 3
ZPO/NW). Sollte die Einvernahme dennoch stattfinden, sei es auf Antrag der
Gegenpartei oder von Amtes wegen (vgl. Art. 53 Abs. 2 ZPO/NW), wird es
Aufgabe des Gerichts im Hauptverfahren sein zu entscheiden, ob die
Zeugenaussage berücksichtigt werden darf. Wird dies verneint, so muss das
Gericht die Beweiswürdigung vornehmen, ohne sich von der nicht verwertbaren
Zeugenaussage beeinflussen zu lassen. Notfalls stehen dem Beschwerdeführer
Rechtsmittel gegen den Endentscheid des Kantonsgerichts zur Verfügung.

Auch die in Disp.-Ziff. 3 der Beweisverfügung angeordnete Vorlage einer
amtlichen Bescheinigung des Konkursamtes zum Konkursschluss verursacht dem
Beschwerdeführer, für sich allein, keinen schwer wiedergutzumachenden
Nachteil. Vielmehr tritt ein solcher Nachteil erst ein, wenn das Gericht,
gestützt auf eine Bescheinigung des Konkursamtes, wonach der Konkurs noch
nicht abgeschlossen ist, die Aktivlegitimation oder die Prozessfähigkeit des
Beschwerdeführers verneint.

2.5 Nach dem Gesagten hat das Obergericht offensichtlich keine formelle
Rechtsverweigerung begangen, als es auf die Nichtigkeitsbeschwerde mangels
Drohens eines schwer wiedergutzumachenden Schadens nicht engetreten ist.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb abzuweisen. Nachdem die
Beschwerde von Anfang an aussichtslos war, ist auch das Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege abzuweisen (Art. 152 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer trägt deshalb die Gerichtskosten (Art. 156 OG). Der Kanton
Nidwalden hat als obsiegende Behörde keinen Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Regierungsrat und dem
Obergericht des Kantons Nidwalden, Kassationsabteilung, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 11. August 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: