Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.305/2006
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{T 0/2}
1P.305/2006 /scd

Urteil vom 25. September 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aemisegger,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Hess,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.

Strafverfahren; SVG; Beweiswürdigung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer,
vom 14. Februar 2006.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (geb. 1962) fuhr am frühen Morgen des 24. Juni 2004 mit seinem
Personenwagen und zwei Mitfahrern auf der Autobahn A2 von Luzern in Richtung
Olten. Bei der Ausfahrt Reiden wurde er von einer Polizeipatrouille wegen
Geschwindigkeitsübertretung angehalten.

Mit Strafverfügung vom 30. September 2004 bestrafte der Amtsstatthalter von
Willisau X.________ wegen Überschreitens der allgemeinen
Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen mit einer Busse von Fr. 750.--. Auf
Einsprache bestätigte der Amtsstatthalter am 11. Mai 2005 den Schuldbefund
und setzte die Busse auf Fr. 540.-- herab. Das Amtsgericht Willisau
bestätigte dies am 14. Juli 2005.

Mit Urteil vom 14. Februar 2006 erkannte das Obergericht des Kantons Luzern
als Appellationsinstanz X.________ schuldig des Überschreitens der
allgemeinen Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen um 33 km/h und bestrafte ihn
mit einer Busse von Fr. 540.--.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts vom 4. März 2004 sei aufzuheben und die Sache sei zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

In der Vernehmlassung beantragen die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern
und das Obergericht, die Beschwerde abzuweisen. Dazu hat sich der
Beschwerdeführer geäussert.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer ficht gemäss Antrag ein Urteil vom 4. März 2004 an. Aus
der Beschwerdebegründung und dem beigelegten Urteil ergibt sich jedoch, dass
er sich gegen das Urteil vom 14. Februar 2006 wendet. Der Antrag wird in
diesem Sinne entgegengenommen.

2.
Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde die
wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten,
welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie
durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Im
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde prüft das Bundesgericht nur klar
und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf ungenügend
begründete Rügen und bloss allgemein gehaltene, rein appellatorische Kritik
am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 110 Ia 1 E.
2a S. 3 f.; 125 I 492 E. 1b S. 495, mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 5, 8, 9, 29 und 32 BV und
"allenfalls noch anderen" verfassungsmässigen Rechten. Soweit er in seiner
Beschwerde nicht aufzeigt, inwiefern die einzelnen Normen durch das
angefochtene Urteil verletzt sind, sind die Verfassungsrügen ungenügend
begründet und es ist nicht darauf einzutreten.

3.
3.1 Gemäss Polizeirapport vom 28. Juni 2004 ereignete sich Folgendes:
Anlässlich einer Kontrolle des Rastplatzes Kirchbühl sei der Polizei
aufgefallen, wie der Personenwagen des Beschwerdeführers auf der Autobahn A2
in schneller Fahrt in Richtung Norden unterwegs gewesen sei. Unverzüglich
hätten die beiden anwesenden Polizisten mit dem Patrouillenwagen die
Nachfahrt aufgenommen, wobei sie immer in Sichtweite hätten bleiben können.
Nach dem Tunnel Eich seien sie bis auf ca. 200 m auf den Beschwerdeführer
aufgeschlossen und hätten diesen Abstand konstant eingehalten. Zum Zeitpunkt
der Nachfahrt hätten sich keine anderen Fahrzeuge auf diesem
Autobahnabschnitt in Fahrtrichtung Norden befunden. Die Geschwindigkeit des
Beschwerdeführers habe laut dem Tachometer des Polizeifahrzeugs zwischen 170
und 180 km/h variiert. Auf den letzten drei Kilometern habe sie konstant 180
km/h betragen. Vor der Ausfahrt Reiden habe sich die Polizei durch Matrix und
Blaulicht zu erkennen gegeben, den Beschwerdeführer bei der Ausfahrt Reiden
abgeleitet und beim Mühlehofweg eine Kontrolle vorgenommen. Neben dem
Beschwerdeführer, der den Wagen gelenkt habe, hätten sich noch zwei weitere
Männer im Fahrzeug befunden. Der Beschwerdeführer habe ausgesagt, er sei nur
120 km/h gefahren. Der Tachometer des Patrouillenfahrzeuges sei noch am
selben Tag geeicht worden (Kontrollmessung).

3.2 Nach den Darlegungen der kantonalen Instanzen ist der Beschwerdeführer 33
km/h zu schnell gefahren. Nachdem die Messresultate der Eichung
berücksichtigt und eine Sicherheitsmarge von 10% abgezogen worden seien,
führe dies abgerundet zu einer Geschwindigkeit von 153 km/h. Dies übersteige
die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 33 km/h. Die
Polizeibeamten hätten eine offensichtliche Geschwindigkeitsüberschreitung mit
dem ordentlichen Fahrzeug-Geschwindigkeitsmesser (Tachometer) des
Polizeiwagens festgestellt und seien dem Fahrzeug des Beschwerdeführers mit
gleichbleibendem Abstand über eine Strecke von 18 km gefolgt. Die beiden
Polizeibeamten hätten im Untersuchungsverfahren als Zeugen übereinstimmend
ausgesagt und die im Rapport festgehaltenen Beobachtungen zur gefahrenen
Geschwindigkeit bestätigt. Sie hätten die Geschwindigkeit vom Tachometer
abgelesen und diese sich gegenseitig laut bestätigt. Die Aussagen des
Beschwerdeführers und jene des Mitfahrers Y.________ seien unglaubwürdig. Es
gebe keinen Anlass, an der Schuld des Beschwerdeführers zu zweifeln.

4.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Beweiswürdigung. Es sei schwer,
Distanzen nachts aufgrund der Schlusslichter zu schätzen. Zudem seien die
Technischen Weisungen des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation über Geschwindigkeitskontrollen im Strassenverkehr
vom 10. August 1998 missachtet worden. Abweichungen von den Technischen
Weisungen müssten qualifiziert begründet werden, da sie die
Beweistauglichkeit der Geschwindigkeitsschätzung beeinträchtigten.

Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne
Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht den
kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der
Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen
oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich
der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist.
Eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41, mit Hinweisen).

5.
Das Obergericht hat dargelegt, dass der Richter den Tatvorwurf in freier
Würdigung der Beweise beurteilt. Es sah keinen Grund, am Polizeirapport und
an den Aussagen der beiden Polizisten zu zweifeln.

5.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Technischen Weisungen seien
missachtet worden, weil der Nachfahrabstand zu gross gewesen (200 bis 300 m
statt 90 m) und weil die Geschwindigkeit mit dem Tachometer des
Polizeifahrzeugs (statt mit einem justierten Messapparat) gemessen worden
sei.

5.2 Willkürliche Beweiswürdigung bedeutet, das Gericht habe bei der
Feststellung der Tatsachen das Willkürverbot verletzt. Das Willkürverbot ist
verletzt, wenn die Tatsachenfeststellung auf einem offenkundigen Fehler oder
einem klaren Widerspruch beruht. Nicht jede Abweichung von den Weisungen ist
in diesem Sinne willkürlich.

Die vom Beschwerdeführer herangezogenen Technischen Weisungen beanspruchen
für Fälle gerichtlicher Würdigung von Nachfahrkontrollen keine absolute
Geltung. Die Voraussetzungen für die Beweiskraft von Nachfahrkontrollen
gelten "in der Regel" (Technische Weisungen, Ziff. 7.1). Es sind auch andere
als die gebräuchlichen Methoden für polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen
zulässig, um offensichtliche Widerhandlungen zu ahnden. Die Weisungen lassen
die freie Beweiswürdigung durch die Gerichte unberührt (Ziff. 13). Demnach
verfügen die Gerichte über einen gewissen Spielraum.

Das Obergericht hat sich mit den Weisungen auseinandergesetzt und seine
Gründe dargelegt, weshalb es die Geschwindigkeit von 153 km/h als erwiesen
erachtet. Angesichts der Umstände, namentlich der langen Messstrecke bei
gleichbleibendem Nachfahrabstand und der deutlichen Abweichung von der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit,  durfte das Gericht ohne Willkür von den
Voraussetzungen für Nachfahrkontrollen gemäss den Technischen Weisungen
abweichen. Der Polizeiwagen ist dem Fahrzeug des Beschwerdeführers nach
Angabe des Obergerichts auf einer Strecke von 18 km gefolgt. Gemäss
Polizeirapport waren keine weiteren Fahrzeuge auf der gleichen Fahrbahn
unterwegs. Der Tachometer des Polizeiwagens wurde gleichentags geeicht und
die Messabweichung zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt. Unter
diesen Umständen ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch zur Nachtzeit
eine zuverlässige Aussage über die Geschwindigkeit des vorausfahrenden
Fahrzeugs möglich.

5.3 Demnach kann von einer Verletzung des Willkürverbots nicht die Rede sein,
die Rüge ist unbegründet.

6.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Akteneinsichtsrechts. Der
Polizeirapport vom 28. Juni 2004 sei erst vier Tage nach dem Vorfall erstellt
worden. In den Akten fehlten aber entsprechende Handnotizen. Dies zeige, dass
Geheimakten angelegt worden seien.

6.1 Es ist unklar, ob der Polizeirapport aufgrund von Handnotizen erstellt
wurde (Vernehmlassung Obergericht); allfällige Handnotizen wären aber
praxisgemäss nicht in die Akten aufgenommen worden (Vernehmlassung
Staatsanwaltschaft).

Fest steht hingegen, dass die Polizei den Vorfall vom 24. Juni 2004
aktenkundig gemacht hat. Einer der beiden beteiligten Polizisten verfasste
vier Tage später den Rapport, der detaillierte Angaben über das Geschehen
enthält. Namentlich werden die Personalien des Beschwerdeführers und die
Beschreibung seines Fahrzeuges aufgeführt; als Beilage wurde der Messstreifen
der Eichung des Tachometers vom 24. Juni 2004 zu den Akten gelegt. Damit
wurde die Geschwindigkeitskontrolle für die Akten ausreichend dokumentiert.

6.2 Die kantonalen Gerichte stützten die Verurteilung des Beschwerdeführers
nicht auf Handnotizen, sondern auf den Polizeirapport und Zeugenaussagen. Es
gibt keine Anzeichen dafür, dass die kantonalen Instanzen über Geheimakten
oder andere, dem Beschwerdeführer nicht zugängliche Beweismittel verfügt
hätten. In den Akten, die das Bundesgericht bei den kantonalen Behörden
eingeholt hat, sind keine Handnotizen enthalten. Hingegen geht daraus hervor,
dass dem Beschwerdeführer im Untersuchungsverfahren die Gelegenheit zur
Akteneinsicht geboten wurde (Schreiben des Amtsstatthalteramtes Willisau vom
15. April 2005). Im Verfahren vor Obergericht wurden seinem Rechtsvertreter
auf dessen Begehren die Akten zur Einsicht zugesandt (Schreiben des
Obergerichts vom 8. November 2005). Die Rüge, das Akteneinsichtsrecht sei
verletzt, ist unbegründet.

7.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. September 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: